KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
DAS FÜHRENDE PERIODIKUM
für aktuelle, von Großmeistern kommentierte Partien
Von FM Joachim Wintzer
Alexander Matanovic (Hrsg.),
Schach-Informator 85
Sahovski informator 2002
Paperback, 398 S.,
28,00 Euro (Buch)
34,00 Euro (Buch und CD)
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
ÜBER DIE HERAUSGEBER
Der Schach-Informator wird von einer Redaktion jugoslawischer Schachspieler herausgegeben: GM Aleksandar Matanovic, IM Zdenko Krnic, IM Sasa Velickovic. Seit 1966 erscheint der Schach-Informator regelmäßig Folge zwei Mal, inzwischen drei Mal im Jahr.
DAS PROJEKT SCHACH-INFORMATOR
Der kontinuierliche Erfolg des Schach-Informators ist einfach zu erklären. Als er 1966 das erste Mal erschien, bediente er das Bedürfnis der Turnierspieler nach umfassender Information. Wer sich für die neuesten Großmeisterpartien interessierte, wurde von den Schachzeitungen auf dem Laufenden gehalten. Aber wie viele dieser Partien waren kommentiert? Und in wie vielen der kommentierten Partien wurden die Wendepunkte der Partie zutreffend herausgearbeitet?
Wer seine eigenen Partien kommentiert, verfügt gegenüber anderen Kommentatoren über einen großen Informationsvorsprung. Er hat seine Partie bereits mehrere Stunden am Brett analysiert und meistens weitere Erkenntnis durch eine gemeinsame Analyse mit dem Gegner gewonnen. Aus diesem Grunde versuchte die Redaktion des Schach-Informators, die besten Spieler der Welt als Kommentatoren ihrer eigenen Partien zu gewinnen. Mit Erfolg. Vermutlich haben alle Top-Ten-Spieler der letzten 40 Jahre Partien im Schach-Informator kommentiert. Der Anteil der von den Redakteuren kommentierten Partien ist nach und nach zurückgegangen.
Ein weiteres jugoslawisches Großprojekt, die Enzyklopädie der Schacheröffnungen, ist den heutigen Schachspielern zumindest durch das ECO-Klassifikationssystem vertraut, das sich in der Schachwelt analog dem Windows-Betriebssystem in der Computerwelt durchgesetzt hat. Ursprünglich hatte der Schach-Informator ein eigenes Klassifikationssystem, an dem die Redaktion bis in die achtziger Jahre festhielt. Aber nach dem Erfolgs des ECO-Systems hat die Redaktion das ursprüngliche Klassifikationssystem aufgegeben.
GLIEDERUNG
Die Gliederung des Schach-Informators hat sich seit den achtziger Jahren kaum verändert. Weggefallen ist der Abdruck der aktuellen Elo-Liste. Dafür hinzugekommen ist eine Rubrik, in der die Redaktion das Schaffen eines Weltklassespielers anhand seiner Informator-Partien Revue passieren läßt.
- Inhaltsverzeichnis (1 Seite)
- Mitarbeiterverzeichnis (2 Seiten)
- Wahl der 10 besten Partien des vorigen Bandes (2 Seiten)
- Wahl der 10 wichtigsten theoretischen Neuerungen des vorigen Bandes (4 Seiten)
- Zeichenerklärung (3 Seiten)
- Klassifikation der Schacheröffnungen (5 Seiten)
- Partienteil mit diesmal 492 kommentierten Partien und 471 Partiefragmenten aus dem Zeitraum 1. Juni bis 30. September 2002, u.a. Moskau (Rapid), Malmö, Ba-tumi, León (Advanced Chess), Nederland (ch), Paris Rapid), Belfort, Kaskády, Qingdao, Esbjerg, Dortmund, J. Timman – A. Naiditsch (m), China – USA, Biel, R. Ponomarjow – Anand (rapid-m), France (ch), San Francisco, Schweiz – Deutsch-land, Russia – Rest of the World (Rapid) (280 Seiten)
- Spieler- und Partienverzeichnis (10 Seiten)
- Kommentatorenverzeichnis, u.a. Kasparow, Anand, Adams, Lékó, Ponomarjow, Barejew, Iwantschuk (2 Seiten)
- 18 Kombinationsaufgaben (6 Seiten)
- 9 Endspielaufgaben (7 Seiten)
- Turnierverzeichnis, diesmal für den Zeitraum Mai bis September 2002 (10 Seiten)
- The Best of Chess Informant, diesmal über das Schaffen von Lajos Portisch (23 Seiten)
Zur besten Partie des vorigen Bandes wählten neun Großmeister aus einem von der Redaktion vorgeschlagenen Angebot von 30 Partien die Partie Wasjukow – Van Wely (72 von 90 möglichen Punkten).
Die Wahl der wichtigsten theoretischen Neuerung verlief knapper. Anand erhielt für seine Neuerung f5 im Marshall-Angriff
nur 4 Punkte mehr als der deutsche IM Polzin für seine Neuerung in der Drachenvariante.
Die Redaktion druckt die Siegerpartie erneut ab, ergänzt um eine Übersicht zum Stand der Theorie in dieser Variante.
Der theoriebeflissene Schachfreund wird sicher die einzelnen Neuerungen aus dem Gedächtnis herunterspulen können. Der Rezensent erinnert sich noch an seine schachliche „Sturm- und Drangzeit“ in den achtziger Jahren, als er noch über dieses Wissen verfügte.
DER PARTIENTEIL
Die Partien und Partienfragmente sind „im Informatorstil“ kommentiert, d.h., auf Wortkommentare wird vollkommen verzichtet. Den Kommentatoren steht eine breite Palette von Zeichen zur Verfügung, um dem Leser über den Verlauf der Partie zu informieren. Natürlich gehen auf diese Weise interessante Informationen verloren, insbesondere über die subjektiven Eindrücke eines Spieler während der Partie. Welche Varianten hat er gesehen, welche befürchtet?
Die Kommentare, insbesondere die Verbesserungsvorschläge zum Eröffnungsverlauf, sollten nicht als der Weisheit letzter Schluß angesehen werden. Man muß nicht unbedingt so reinfallen wie der argentinische Großmeister Quinteros, der Polugajewskis Kommentaren „blind“ vertraute. Polugajewski spielte gegen ihn eine Verbesserung, die er in seinen Kommentaren nicht erwähnt hatte:
KUZMIN – POLUGAJEWSKI
UdSSR 1975, Informator 20/518
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 e6 7.f4 b5 8.e5 dxe5 9.fxe5 Dc7 10.De2 Sfd7 11.0-0-0 Lb7 12.Dh5 g6 13.Dh4 Lg7 14.Le7 Dxe5 15.Lxb5 axb5
Gegen Quinteros brachte Polugajewski nun die Neuerung 15…Dh5. Es ging weiter mit 16.Lxd7+ Sxd7 17.Dxh5 gxh5 18.Lg5 Tg8 19.Lh4 Le5 20.Lg3 Lxg2 21.The1 Lxg3 22.hxg3 Txg3 23.Sf5 Tg6 24.Sd6+ Ke7 25.Sf5+ Kd8 26.Sh4 Tg4 27.Sxg2 Txg2 28.Th1 Ke7 29.Txh5 Sf6 30.Th6 Tag8 31.b4 Sg4 32.Th4 Tc8 33.Td2 Se3 34.Txg2 Sxg2 35.Th2 Sf4 36.Kb2 h5 37.Kb3 f5 38.a4 e5 39.a5 e4 40.Th4 0-1 (56), Quinteros – Polugajewski, Manila (izt) 1976, Informator 22/547.
Die Schachprofis hoffen darauf, ihr Wissen am Brett ausnutzen zu können. Und manchmal lohnt es sich, für die Kollegen eine falsche Fährte auszulegen. Es gibt aber auch zahlreiche Partien, in denen ein Spieler seine Neuerung in allen Verzweigungen ausanalysiert.
Der Partiekopf enthält Angaben über die Anzahl von eingearbeiteten Partiefragmenten. Ein „!N“ verweist darauf, dass in dieser Partie eine wichtige theoretische Neuerung gespielt worden ist. Zwei Beispiele aus der Holländischen Verteidigung:
Jeder Schachfreund wird Einschlägiges zu seinen Lieblingseröffnungen finden. Unterrepräsentiert sind die Eröffnungen und Varianten, die auf Großmeisterebene selten gespielt werden. Aufnahme finden nicht nur Turnierpartien, sondern auch Schnell- und Fernschachpartien.
DIE CD ZUM BUCH
Zu der Buchversion und unabhängig davon kann eine CD erworben werden. Die CD enthält die kommentierten Partien des aktuellen Bandes und die unkommentierten Partien des vorigen Bandes. Um die Partien nachzuspielen, muß der Chess Informant Expert installiert werden. Die bereits verwandten Graphiken sind Screenshots dieses Programms. Die folgende Graphik zeigt die Partienliste an, geordnet nach den Kommentatoren.
Partien des aktuellen Informators können nur Einzeln in das PGN-Format konvertiert werden. Der Verlag will damit natürlich die illegale Weitergabe erschweren. Für den Käufer ist diese Einschränkung jedoch unbequem, da er nicht mit seiner gewohnten Datenbank arbeiten kann.
FAZIT
Wer den Schach-Informator durcharbeitet, hat noch schachliche Ambitionen. Wahrscheinlich ist es für den Schachprofi heute wichtiger, sich die neuesten Partien aus dem Internet runterzuladen als den Informator zu studieren. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Schach-Informator nach wie vor die aktuellste Partiensammlung mit den sorgfältigsten Kommentaren ist. Die Lektüre des Schach-Informators lohnt sich erst ab einer gewissen Spielstärke (DWZ 2000 aufwärts).