KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
DAS FÜHRENDE WERK ZUR ERÖFFNUNGSTHEORIE
Von FM Joachim Wintzer
Genna Sosonko und Paul van der Sterren (Hrsg.):
New In Chess Yearbook 64 (2002).
Periodical Analysis of Current Opening Practice.
New In Chess 2002
Sprache: Englisch
Softcover oder Hardcover, 236 S.,
23,40 Euro (Softcover)
29,95 Euro (Hardcover)
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
ÜBER DIE HERAUSGEBER
Die Herausgeber des New in Chess Yearbook, die holländischen Großmeister Genna Sosonko und Paul van der Sterren, haben als Autoren schon eine Reihe von Schachbüchern veröffentlicht. Zum Team des Jahrbuchs gehören weiterhin René Olthof als Supervisor und Ken Neat als Übersetzer aus dem Russischen.
DAS PROJEKT NEW IN CHESS
Anfang der achtziger Jahre kam NIC mit drei ambitionierten Produkten auf den Markt: dem NIC-Magazine mit Chefredakteur Jan Timman, den NIC Keybooks, einer zwei-bändigen Eröffnungsenzyklopädie, und dem NIC Yearbook. Das acht Mal im Jahr erscheinende NIC-Magazine hat sich am Markt durchgesetzt. Von vielen Schachspielern wird es für die beste Schachzeitung der Welt gehalten. Dagegen scheiterte der Versuch, dem ECO-System und den jugoslawischen Eröffnungsenzyklopädien Konkurrenz zu machen. Das neue Klassifikationssystem wird zwar weiter in NIC-Produkten verwandt, es erschienen aber keine Neuauflagen der Keybooks. Die NIC Yearbooks standen im Wettbewerb mit dem Informator. Bald musste NIC einsehen, dass seine Sammlung der neuesten Partien im Informator-Stil kommentiert (also ohne Worterklärungen) nicht mit dem Original konkurrieren konnte. Die meisten Großmeister sandten ihre Partieannotationen weiter nach Belgrad. Um die Konkurrenzfähigkeit des Produktes zu erhöhen, ging NIC daher dazu über, nicht mehr dem Informator, sondern der Loseblattsammlung Schach-Archiv Konkurrenz zu machen. Die Jahrbücher enthielten seitdem kurze Eröffnungsübersichten und ausführliche Theorieartikel. Das Schach-Archiv erscheint schon seit Jahren nicht mehr, sodass das NIC Yearbook in diesem Marksegment (nahezu) konkurrenzlos ist.
GLIEDERUNG
Wie aus der Gliederung ersichtlich wird, hat sich das Format des Yearbooks im Laufe der Jahre weiter verändert. Neu hinzugekommen sind das Forum, in welchem Leser zu Wort kommen, Sosonkos Kolumne und ein Rezensionsteil. Das Herz des Jahrbuchs sind die – diesmal 35 – Eröffnungsübersichten.
Forum (9 Seiten)
Sosonko’s Corner (2 Seiten)
Surveys (206 Seiten)
Book Reviews (7 Seiten)
Photo Gallery (1 Seite)
New In Chess Code System (1 Seite)Die Übersichten befassen sich mit den folgenden Eröffnungen:
- Sicilian: Najdorf Variation 6.Rg1 (Dorian Rogozenko)
- Sicilian: Dragon Variation 9.0-0-0 (Van der Weide)
- Sicilian: Classical Variation 6.Be2 Nd4 (Van der Weide)
- Sicilian: Rauzer Variation 7…Be7 (Karolyi)
- Sicilian: The Anti-Sveshnikov System 3…e5 (Rogozenko)
- Sicilian: Taimanov Variation 7.Qd2, 8.0-0-0 (Fogarasi)
- Pirc: Classical Variation 4.Nf3 (Nadyrkhanov)
- French: MacCutcheon Variation 4…Bb4 (Almasi)
- French: Rubinstein Variation 3…de4 (Van der Wiel)
- Caro-Kann: Smyslov Variation 4…Nd7 (Stohl)
- Alekhine: Larsen Variation 4…de5 5.Ne5 c6 (Bosch)
- Petroff: Marshall Variation 6…Bd6 (Boersma)
- Petroff: Jaenisch Variation 6…Be7, 7…Nc6 (Morgado)
- Ruy Lopez: Bird Defence 3…Nd4 (Van der Tak)
- Ruy Lopez: Berlin Variation 3…Nf6 (Almasi)
- Ruy Lopez: Worrall Variation 6.Qe2 (Fogarasi)
- Italian Game: Giuoco Piano 4.c3, 5.d3 (Lukacs/Hazai)
- Scotch: Belgrade Gambit 5.Nd5 (Van der Tak)
- Four Knights: Rubinstein Variation 4…Nd4 (Lukacs/Hazai)
- Two Knights: Rare moves against 5…Ng4 (Panczyk/Ilczuk)
- Queen’s Gambit Declined: Blackburne Variation 5.Bf4 (Pliester)
- Queen’s Gambit Declined: Tartakower Variation 7…b6 (Pliester)
- Queen’s Gambit Declined: 4.Nf3 Nbd7 (Pelletier)
- Slav: 4.Qc2 (Karolyi)
- Slav: Krause Variation 7…Nd5 (Karolyi)
- Tarrasch: Rubinstein Variation 7.dc5 (Bosch)
- Queen’s Gambit Accepted: Central Variation 3.e4 Nf6 (Lukacs/Hazai)
- Nimzo-Indian: Rubinstein Variation 5.Bd3 (Rogozenko)
- Nimzo-Indian: Rubinstein Variation 5.Ne2 (Shulman)
- Grünfeld Indian: Russian Variation 7…a6 (lthof)
- King’s Indian: 4…0-0 (Gufeld)
- King’s Indian: Smyslov Variation 5.Bg5 (Langeweg)
- Volga Gambit: Main Line 5.ba6 (Fogarasi)
- English: Symmetrical Variation 4.e4 (Van der Sterren)
- Réti: King’s Indian Reversed (Langeweg)
PRÄSENTATION DES MATERIALS
Vielleicht haben einige Leser dieser Rezension früher das Schach-Archiv abonniert. In dieser von Euwe begründeten, ab den siebziger Jahren von Ludek Pachman und schließlich von Lew Gutman bis zur Einstellung fortgeführten Loseblattsammlung wurde der Leser über die neuesten Entwicklungen der Schachtheorie informiert. Die zweimonatlich erschienenen Lieferungen konnten von den Abonnenten in Aktenordner eingeheftet werden, sodass der Leser mit einem Griff die neuesten Entwicklungen zu einer Variante auf seinem Schreibtisch vor sich liegen hatte. Jeder Theorieartikel begann mit einer mehrzeiligen „Charakteristik“, die den Stand der Theorie resümierte. Anschließend folgte der Theorieartikel, in welchem entweder eine aktuelle Partie unter besonderer Berücksichtigung der Eröffnungstheorie analysiert wurde oder die Varianten wie in einem Eröffnungsbuch wiedergegeben wurden.
NIC hat sich für einen eigenen Weg entschieden. Jede Eröffnungsübersicht wird durch einen ein- bis zweiseitigen Überblick eingeleitet. Wenn dieser Überblick didaktisch gut aufbereitet ist, kann der Leser daraus die Entwicklung einer Variante und die wichtigsten Pläne für beide Seiten entnehmen. Die Lektüre einer gut geschrieben Übersicht kann mehr bringen als das Nachspielen von 30 Partien zu dieser Variante. Es folgt meistens eine ausführlich kommentierte Partie, die zu der Neubewertung der betrachteten Variante beigetragen hat. Daran anschließend erhält der Leser weiteres, größtenteils unkommentiertes Partienmaterial zum vertieften Studium. Der Nachteil dieser Vorgehensweise ist, dass man sich die Haupt- und Nebenvarianten aus dem beigegebenen Partienmaterial selbst erschließen muss, sofern die Einführung diese Aufgabe nicht bereits geleistet hat.
Bis zum Jahre 2001 konnte alternativ oder additiv eine Yearbook CD erworben werden. Der Hauptvorteil der CD bestand darin, dass immer alle früheren Übersichten zu einer Variante mitgeliefert wurden. Ein Nachteil bestand darin, dass die Einführungen nicht ausgedruckt werden konnten. Wenn der Käufer des Yearbooks sich für eine bestimmte Variante interessiert, muß er entweder sämtliche Jahrbücher durchsehen oder sich im Internet auf der Homepage von NIC informieren. Die Verarbeitung und das Layout des Yearbooks sind besser als das der meisten Eröffnungsbücher.
AKTUALITÄT UND BANDBREITE DER UNTERSUCHTEN ERÖFFNUNGEN
Die meisten Eröffnungsübersichten beruhen auf der Auswertung von Partien, die in den Jahren 2001 und 2002 gespielt worden sind. Wer das NIC-Magazine abonniert hat, wird feststellen, dass einige der in dieser Zeitschrift von Großmeistern kommentierten Partien im Jahrbuch wieder abgedruckt werden. Meistens schreibt einer der holländischen Mitarbeiter die Übersicht dazu und stellt das ergänzende Partiematerial zusammen. Die meisten Übersichten werden nicht von Großmeistern aus der Top 100 verfasst, sondern von GMs und IMs, die ihren Lebensunterhalt nicht durch das Preisgeld bei Turnieren bestreiten. Viele Autoren kommen aus den Niederlanden, das zweitgrößte Kontingent stellen die Ungarn.
Auf einen Fehler sei an dieser Stelle hingewiesen. Als ich mir Tibor Karolyis Survey über „The Slav Connection in the Slav“ durchlas, welcher mit den Zügen 1.d4 d5 2.c4 c6 3.Sf3 Sf6 4.Sc3 dxc4 5.a4 Lf5 6.Se5 e6 7.Sxc4 Sd5 beginnt, wunderte ich mich über seine Aussage, dass 8.Lg5 nur zwei Mal gespielt worden sei. Beim Studium des Partiematerials wurde schnell klar, dass Schwarz 6…Sbd7 7.Sxc4 Sd5 gespielt hatte und somit nicht durch 8…Dg5: eine Figur gewinnen konnte.
Das Yearbook spiegelt den Wandel der Eröffnungstheorie auf Großmeisterebene wieder. Auf Neuentwicklungen in und Neubewertungen einer Variante reagiert die Redaktion schnell. Der Schachfreund, welcher sich vornehmlich für nicht als ganz korrekt geltende Eröffnungen wie das Blackmar-Diemer-Gambit oder den Geier interessiert, wird besser zu einer Zeitschrift wie Kaissiber greifen.
FAZIT
Das NIC Yearbook ist auf seinem Marktsegment konkurrenzlos. Wer sich über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Eröffnungstheorie auf dem Laufenden halten will, sollte neben dem Informator auch das Yearbook abonnieren.