KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
SOLIDE SYNTHESE
Von FM Joachim Wintzer
Eduardas Rozentalis / Andrew Harley,
Play the 2.c3 Sicilian
Two experts explain the most popular anti-Sicilian system
Paperback, 192 S.,
Gambit Publications 2002
23,40 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
ÜBER DIE AUTOREN
Der litauische Großmeister Rozentalis gehörte 1997 im Alter von 33 mit einer Elo-Zahl von 2650 zu den besten Schachspielern der Welt. Inzwischen ist seine Elo-Zahl unter die 2600-Marke abgerutscht, da er wie andere Großmeister auch seinen Lebensunterhalt mit dem Erringen von Preisgeldern in offenen Turnieren bestreiten muss. Deutschen Schachspielern ist er durch seine Einsätze in der 1. Bundesliga bekannt. Rozentalis hat bereits Erfahrungen als Autor gesammelt. 1998 veröffentlichte er eine Sammlung von 40, zwischen 1983 und 1997 gespielten eigenen Partien. Rozentalis ist neben Sweschnikow der stärkste Großmeister, der 2.c3 gegen Sizilianisch spielt.
Co-Autor ist der englische FIDE-Meister Andrew Harley (Elo um 2300). Auch er hat bereits publizistische Erfahrungen gesammelt. Zusammen mit Neil McDonald veröffentlichte er 1997 ein Eröffnungsbuch über die Französische Verteidigung. Aufgrund des Spielstärkeunterschieds wäre es von Interesse gewesen zu erfahren, ob die Autoren das Material aufgeteilt haben oder – und dies ist wahrscheinlicher – Rozentalis für die Analysen und Harley für die sprachlichen Erläuterungen zuständig gewesen ist.
SIZILIANISCH 2.c3
Der Untertitel „the most popular anti-Sicilian system“ ist natürlich eine schamlose Übertreibung. Auf Großmeisterebene sind derzeit die Systeme mit 3.Lb5 en vogue, auf Klubebene dürfte der Grand-Prix-Attack mit f4 populärer als 2.c3 sein.
Es gibt Schachspieler, die Rezensionen lesen. Und darunter sind erfreulicherweise sogar einige Autoren. Harley zitiert in seinem Vorwort aus einer Besprechung von John Watson über Joe Gallaghers c3 Sicilian aus dem Jahre 1999:
„I have been working on 2.c3 lines with GM Tal Shaked for some years now, and with the fairly recent solution of certain positions, I strongly believe that White’s play is at a dead end in the two main lines. As Gallagher himself delineates, 2…Nf6 is now giving Black effortless, often sterile, equality (or more than equality, in those complex lines where White tries to keep the play alive). White’s many new ideas over the last ten years, which revived 2.c3 in international play, are petering out or being refuted. Thus, instead of the assessments like ‚equal but unclear‘ or ‚with compensation for the pawn(s)‘ which characterize much of modern theory, the 2…Nf6 lines are consistently leading to prospectless play (at best) from White’s point of view. To make matters worse, 2…d5 has never been in better shape, especially in the …Nf6 and …Bg4 variations. Again, a careful reading of Gallagher’s book confirms that White is having a hard time making it even interesting.“
Wie versucht Harley nun dem Leser davon zu überzeugen, dass 2.c3 etwas mehr Interesse verdient? Er weist auf eine neue Idee in der Variante 1.e4 c5 2.c3 d5 3.ed: Dd5: 4. d4 Sf6 5.Sf3 Lg4 6.dc: hin, auf die ich weiter unten zu sprechen kommen werde. Richtig neugierig wird man aufgrund dieses Hinweises nicht. Harley hätte besser daran getan, die sachlichen Vorzüge seines Buches zu loben. Wer sich mit dem Memorieren der sizilianischen Hauptvarianten nicht belasten will, für den ist 2.c3 eine Alternative.
GLIEDERUNG
Wie man aus der Gliederung ersehen kann, werden die Varianten nach 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.c3 nicht behandelt, die Autoren gehen aber auf die Zugfolge 1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.c3 ein.
Bibliography (1 Seite)
Einleitung von Eduardas Rozentalis (1 Seite)
Einleitung von Andrew Harley (2 Seiten)
Summary of Ideas (6 Seiten)
Alternatives to 2…e6, 2…d5 and 2…Nf6 (16 Seiten)
2…e6 (13 Seiten)
2…d5 Sidelines (9 Seiten)
2…d5 3.exd5 Dxd5 4.d4 Sc6 (21 Seiten)
2…d5 3.exd5 Dxd5 4.d4 Sf6: 5.Sf3 e6 and Other Lines (25 Seiten)
2…d5 3.exd5 Dxd5 4.d4 Sf6 5.Sf3 Lg4 (17 Seiten)
2…Sf6: Sidelines (16 Seiten)
2…Sf6 3.e5 Sd5 4.d4 cxd4 5.Sf3: 5…e6 and Other Moves (24 Seiten)
2…Sf6 3.e5 Sd5 4.d4 cxd4 5.Sf3 Sc6 6.Lc4 Nb6 7.Lb3 (21 Seiten)
2…Sf6 3.e5 Sd5 4.Nf3 ( Seiten)
Index of Variations (3 Seiten)
VORGÄNGER UND AKTUALITÄT
Die beiden wichtigsten Vorgänger, Gallaghers bei Everyman erschienene Monographie und Sweschnikows Informator-Monographie finden im Literaturverzeichnis Erwähnung. Wie ich der Besprechung von Harald Keilhack in Schach entnommen habe, hatte Gallagher Sweschnikows Monographie nicht ausgewertet. Erstaunlicherweise findet Lanes The c3 Sicilian: Analysis and Complete Games keine Erwähnung. Der letzte berücksichtigte Informator ist Nr. 83, die letzte eingearbeitete TWIC ist Nr. 394 vom Mai 2002. Ein Manko ist, dass weder die NIC-Jahrbücher noch Fernschachdatenbanken ausgewertet wurden.
PRÄSENTATION DES MATERIALS
Da ich nun in dieser Kolumne bereits einige Gambit-Bücher besprochen habe, will ich den Leser nicht damit langweilen, die Gambit-Konzeption noch einmal zu wiederholen. Interessenten verweise ich auf die Besprechung von Janjgava und den Vergleich zwischen Everyman- und Gambit-Büchern.
Der Titel ist irreführend. Es handelt sich nicht um eine Darstellung vom Typus „Wie spielt man“, sondern um die bewährte enzyklopädische und vollständige Darstellung.
Die „summery of ideas“ kann auf 6 Seiten natürlich nicht mehr als eine grobe Einführung bieten. Dies ist immerhin mehr, als die meisten anderen Eröffnungsbücher bieten. Im Text finden sich gelegentlich einspaltige Worterklärungen. Das Buch ist wie andere Gambit-Eröffnungsbücher ein Nachschlagewerk und kein einführendes Lehrbuch. Eigene Analysen der Autoren sind nur wenige zu finden. Nicht erprobte Empfehlungen von Gallagher werden erwähnt, aber nicht genauer analysiert.
KRITISCHE VARIANTEN
Aus meiner Morra-Gambit-Zeit war mir noch die Variante 1.e4 c5 2.d4 cxd4 3.c3 d5 4.exd5 Dxd5 5.cxd4 Sc6 6.Sf3 Lg4 7.Sc3 Lxf3 8.gxf3 Dxd4 9.Dxd4 Sxd4 10.Sb5 vertraut, die im Buch durch Zugumstellung entsteht. Die Autoren weisen darauf hin, dass Schwarz nach dem derzeitigen Kenntnisstand Ausgleich erhält.
1.e4 c5 2.c3 d5 3.exd5 Dxd5 4.d4 Sc6 5.Sf3 cxd4 6.cxd4 Lg4 7.Sc3 Lxf3 8.gxf3 Dxd4 9.Dxd4 Sxd4 10.Sb5 Sc2+ 11.Kd1 Sxa1 12.Sc7+ Kd7 13.Sxa8
Weiß hat Entwicklungsvorsprung und das Läuferpaar. Nach meinem Kenntnisstand aus den achtziger Jahren kam Weiß in Vorteil. Eine Datenbanksuche brachte folgendes Ergebnis.
13…g6 14.Le3 [ 14.Lb5+ Kc8 ( 14…Kd6 15.b3 Lg7 16.La3+ Ke6 17.Sc7+ Kf5 18.Te1 Kg5 1-0 Feng – Gonzaga Grego /corr Class 1999 (36)) 15.Le3 Kb8 16.Ke2 Lg7 unklar. Nach Angaben der Autoren eine Entdeckung Chandlers. ( 16…Kxa8 17.Tc1 nebst Matt.) ; 14.Lf4 Lh6 15.Le5 f6 16.Lb5+ Kc8 17.Ld4 Kb8 18.Sb6 axb6 19.Lxb6 e5 20.Le3 Lxe3 21.fxe3 Se7 22.La4 Tc8 23.Kd2 Tc4 24.Ld1 Sc6 25.b3 Tc5 0-1 Gluck – Pastorini / Parigi 1989] 14…Lh6 [14…Lg7 15.Lb5+ Kd6 16.Kc1 Sf6 17.Td1+ Ke5 18.f4+ Ke4 19.Td4+ Kf3 20.Sc7 Se4 21.Kb1 a6 22.La4 Sxf2 ½-½ Tacke – Seifert /corr 1995; 14…b6 15.Lb5+ Kc8 16.Lf4 Lh6 17.La6+ Kd7 18.Lg3 Sf6 19.Sc7 e6 20.Ke2 Sc2 21.Td1+ Kc6 22.Le5 Tf8 23.Lxf6 Kxc7 24.Lb5 Lf4 25.Td7+ Kb8 26.Te7 Tc8 27.La6 e5 1-0 Wuhrmann – Guiot / Paris op A 1993] 15.Lb5+ [ 15.Lxa7 Sf6 16.Lb5+ ( 16.Sb6+ Kc7 17.Ld3 Td8 18.Ke2 Sc2 19.Sc4 Sd4+ 20.Ke1 Kc8 21.Lb6 Td7 ½-½ Geyer – Schafranietz / St. Ingbert op 1994 (46)) 16…Kc8 17.Ke2 Sc2 18.Sb6+ Kc7 19.Sc4 Sd5 20.Td1 Td8 21.Le3 Sdxe3 22.fxe3 Txd1 23.Kxd1 Sxe3+ 24.Sxe3 Lxe3 25.Ke2 Lf4 26.h3 Lc1 ½-½ Terästi Pasi -Hartikainen Jarmo/ It Open Heart Of Fin 1998] 15…Kd6 16.Lxa7 Sf6 17.Sb6 Td8 18.Ke2 Sc2 19.Td1+ Kc7 20.Txd8 Kxd8 21.Sc4 Lf4 22.a3 [22.h3 Sb4 23.a3 Sbd5 24.Ld4 Sc7 25.Lb6 Sfd5 26.La4 Sxb6 27.Sxb6 0-1 Schuck – Gottschlich / OL 95/96 1996/3 (45)] 22…e5 23.h3 Sd5 24.La4 Sd4+ 25.Lxd4 exd4 26.Kd3 Sc7 27.Sa5 Kc8 28.Lb3 f6 29.Lg8 h6 30.Sb3 g5 31.Sxd4 h5 32.a4 Le5 33.b3 Sa6 34.Se2 Sc5+ 35.Kc4 Ld6 36.Sg3 h4 37.Sh5 Le7 38.a5 Crouch – Balinas / London 1979/½-½ (85)
Die Autoren folgen in der Hauptvariante der Partie von Crouch bis zum 26. Zug und bewerten die Stellung als leicht besser für Weiß. Von den anderen Partien wird nur die Begegnung Wuhrmann – Guiot erwähnt.
Dass Schwarz in dieser Variante Ausgleich hat, ist nicht ohne Bedeutung, da die Autoren auf eine Neuerung von Rozentalis in der Variante 1.e4 c5 2.c3 d5 3.ed: Dd5: 4. d4 Sf6 5.Sf3 Lg4 6.dc: hinweisen, die Weiß in Vorteil bringen soll.
1.e4 c5 2.c3 d5 3.exd5 Dxd5 4.d4 Sf6 5.Sf3 Lg4 6.dxc5 Dxc5 7.Sa3 a6 8.Le3 Dc7 9.Da4+
Die Autoren bezeichnen diesen Zug als wichtige Verbesserung gegenüber dem früher gespielten 9.h3 Lh5 10.Da4+ Sbd7
In der Partie Rozentalis – Lutz, Bundesliga 2001/2. folgte 9…Sc6 10.0-0-0 e6 11.Sb5 Db8 ( 11…Dc8 12.Sa7) 12.Sbd4 Dc8 13.Sxc6 Dxc6 14.Dxc6+ bxc6 15.Td4 mit Vorteil.
Die Autoren erwähnen auch den Zug 9…Sbd7, auf welchen 10.0-0-0 mit der Idee 10…e6 11.Td7: – daher keine Einschaltung von h3 Lh5 – folgt. Die deutsche Nachwuchshoffnung Naiditsch fand den prophylaktischen Zug 10…Dc8. Der Zug deckt den Ta8, sodass Sb5 nicht mehr möglich ist. Zudem kann Schwarz jetzt b5 spielen.
In der Partie Rabiega – Naiditsch / Borowski-Turnier 2002 wurden nach wenigen Zügen Frieden geschlossen: 11.Lb6 g6 12.Sc4 Lh6+ 13.Le3 b5
In der Schlussstellung hat Schwarz eine vollkommen befriedigende Stellung.
FAZIT
Play the 2.c3 Sicilian ist eine solide Synthese der Monographien von Sweschnikow und Gallagher, ergänzt um die bis Anfang 2002 gespielten Informatorpartien und einige wenige eigene Analysen der Autoren. Die Darstellung des Materials ist wie bei anderen Gambit-Büchern übersichtlich präsentiert. Die Theorie hat sich in den letzten Jahren aber nicht so schnell entwickelt, als dass Besitzer der Monographien von Sweschnikow und Gallagher unbedingt auch dieses Buch kaufen müssten.