KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

DAS BESTE ENDSPIELBUCH SEINER ART

Von FM Joachim Wintzer

Dworetskis Endspieluniversität Cover

Mark Dvoreckij,
Die Endspieluniversität
Chessgate 2002
Sprache: Deutsch
Hardcover, 509 S.,
29,90 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Chessgate zur Verfügung gestellt.)

ÜBER DEN AUTOR

Wer sich auf dem Schachbuchmarkt etwas auskennt, weiß, dass der Name Mark Dvoreckij – die Schreibweisen sind von Verlag zu Verlag verschieben – für höchste Qualität bürgt. In der UdSSR gehörte Dvoreckij zu den erfolgreichsten Schachtrainern. Sein hierzulande bekanntester Schüler ist Arthur Jussupow. Dvoreckij hat – zusammen mit seinen Schülern – hochklassige Bücher über das Mittelspiel herausgebracht, deren Studium man jedem Schachspieler nur ans Herz legen kann. Dazu gehören Effektives Endspieltraining (1996), Der selbständige Weg zum Schachprofi (1997), Angriff und Verteidigung (1999), Geheimnisse der Schachstrategie (1999), Positionelles Schach (3. Aufl. 2000), Theorie und Praxis der Schachpartie (1999), Geheimnisse gezielten Schachtrainings (3. Aufl. 2001), Effektives Eröffnungstraining (3. Aufl. 2002) und Moderne Schachtaktik (4. Aufl. 2002). Dvoreckij profitiert von seiner enormen Erfahrung als Trainer. Er hat seit Jahrzehnten seine Lernmethoden erproben und verfeinern können. Im Unterschied zu vielen Großmeistern weiß Dvoreckij zudem, was Didaktik ist. Er ist neben John Watson der einzige Autor, von dessen Büchern ich bisher nie enttäuscht worden bin. „Die Endspieluniversität“ ist keine Übersetzung eines bereits in Rußland vor Jahren publizierten Buches, sondern ein neues Werk, an welchem Dvoreckij in den letzten Jahren gearbeitet hat.

ÜBER CHESSGATE

Der deutsche Verlag Chessgate – früher Schach Daniel – hat letztes Jahr das meiner Auffassung nach an Gestaltung und Inhalt beste Schachbuch herausgebracht: Die Eröffnungsmonographie von Kindermann und Dirr über Französisch Winawer mit 7.Dg4 0-0. Ansonsten hat sich der Verlag vor allem durch die Produktion von Schachvideos hervorgetan.

GLIEDERUNG

Dvoreckij behandelt die elementaren Endspiele, also Endspiele mit wenigen Figuren und Bauern, die sich ausanalysieren lassen. Aufgrund der ausführlichen Untergliederung werden nur die Kapitelüberschriften wiedergegeben.

Vorwort (4 Seiten)
Zeichenerklärung (1 Seite)
Vorwort des Lektorats (1 Seite)

Bauernendspiele
Springer gegen Bauern
Springerendspiele
Läufer gegen Bauern
Ungleichfarbige Läufer
Gleichfarbige Läufer
Läufer gegen Springer
Turm gegen Bauern
Turmendspiele
Turm gegen Springer
Turm gegen Läufer
Damenendspiele
Dame gegen Turm
Andere Materialverhältnisse

Allgemeine Endspielideen
Lösungen zu den Aufgaben

Verzeichnis der strategischen und taktischen Verfahren (6 Seiten)

Verzeichnis der Partien (12 Seiten)
Verzeichnis der Komponisten und Analytiker (4 Seiten)
Verzeichnis der verwendeten Literatur (4 Seiten)


VORGÄNGER UND AKTUALITÄT

Vermutlich hat der Leser dieser Kolumne das eine oder andere Endspielbuch im Schrank stehen: Awerbach, die Enzyklopädien, Löwenfisch/Smyslow, etc. Eine Gesamtdarstellung aller Endspiele in einem Band, die mehr als eine Einführung ist, ist vermutlich nicht darunter. In seinem kommentierten Literaturverzeichnis geht Dvoreckij selbst auf die Stärken und Schwächen der vorhandenen Endspielliteratur ein. Das Verzeichnis erscheint vollständig. Ich vermisste nur Paul Keres Praktische Schachendspiele, welches der Autor sicherlich in einer russischen Ausgabe eingesehen hat. Von der mir bekannten Endspieltheorie können sich zwei Bücher mit Dvoreckij messen: Karsten Müller / Frank Lamprecht: Fundamental Chess Endings und Alexander Pantschenko: Endspieltheorie und Praktik.

PRÄSENTATION DES MATERIALS

Bei Endspielbüchern kommt es in besonderer Weise auf eine überzeugende Darstellung des Materials an. Die Beispiele müssen so ausgewählt sein, dass sie für einen bestimmten Endspieltyp charakteristisch sind. Die Erläuterungen sollten dem Lernenden die Grundprinzipien deutlich machen, möglichst anhand allgemeiner Regeln, die man sich gut einprägen kann und nicht mit endlosen Varianten langweilen und überfordern. Selbstverständlich darf erwartet werden, dass die neuesten Erkenntnisse über die „gelösten“, also von Datenbankern ausanalysierten Endspiele Berücksichtigung finden. Alle diese Forderungen werden von Dvoreckij vorbildlich eingelöst.

Der Aufbau eines Kapitels sieht folgendermaßen aus. Zunächst werden die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten eines bestimmten Endspieltyps eingeführt. Die Prinzipien werden in ein oder mehreren Sätzen kurz angerissen und graphisch hervorgehoben. Anschließend erfolgt eine längere sprachliche Erläuterung. Den „Grundwortschatz“ schließen 2 oder 3 Beispiele ab. Darauf folgt der „Aufbauwortschatz“. Die Diagramme und die Textzüge sind etwas kleiner, sodass der Leser sofort erkennt, welches Wissen er sich zur Vertiefung aneignen kann. Den Abschluss bilden jeweils die „Tragikomödien“ und die Aufgaben. In der Rubrik Tragikomödien zeigt Dvoreckij anhand von Großmeisterpartien, welche typischen Fehler im behandelten Endspieltyp begangen werden können. Besonders gut hat mir dabei gefallen, dass viele der Beispiele nicht bereits in anderen Endspielbüchern Verwendung fanden. Bei der Lösung der Aufgaben, deren Schwierigkeitsgrad zwischen einfach und sehr schwer schwankt, kann der Leser versuchen, das neue oder wiederholte Wissen einzusetzen. Es macht Spaß, in diesem Buch herumzuschmöckern.

Das ist aber noch nicht alles. Neben der aus meiner Sicht gelungenen graphischen Umsetzung und dem hervorragenden Layout – dies ist wie beim erwähnten Französisch-Buch Ulrich Dirr zu verdanken – sind auch noch die beispielhaften Indizes hervor-zuheben. Das Buch erhält ein ausführliches Sachregister mit Haupt- und Unterschlagworten, so wie es sich für ein wissenschaftliches Buch mit hohen Ansprüchen gehört. Es enthält weiterhin ein Verzeichnis der verwandten Partiefragmente und ein Verzeichnis der Studienkomponisten und Analytiker. Vorbildlich!

EIN BEISPIEL

Als ich neulich die Partie Gurewitsch – Glek , HZ Vlissingen (6) 2002 nachspielte, fragte ich mich, was der Essener Großmeister wohl falsch gemacht hat: 1.c4 e5 2.g3 Sf6 3.Lg2 h6 4.Sc3 Lb4 5.e3 Lxc3 6.bxc3 0-0 7.e4 Te8 8.Se2 c6 9.Db3 b6 10.0-0 La6 11.Te1 d5 12.exd5 cxd5 13.cxd5 Dc8 14.Da4 Sbd7 15.La3 Lc4 16.d6 b5 17.Dc2 Ld5 18.Lxd5 Sxd5 19.Df5 S7b6 20.Dxc8 Taxc8 21.Tac1 Ted8 22.d3 a5 23.Tb1 Sxc3 24.Sxc3 Txc3 25.Txb5 Txa3 26.Txb6 Txd3 27.Txe5 T3xd6 28.Txd6 Txd6 29.Txa5 Td2 30.Kg2 h5 31.a4 Ta2 32.h4 g6 33.Ta8+ Kg7 34.a5 Ta3 35.a6 Kf6

Der Leser weiß bestimmt, dass dieses Endspiel mit einem Unentschieden enden sollte. Der schwarze Turm steht hinter dem Freibauern. Je mehr sich der weiße Freibauer dem Umwandlungsfeld nähert, desto geringer ist die Bewegungsfreiheit des weißen Turms. Die einzige weiße Gewinnmöglichkeit besteht darin, mit dem König zum a-Bauern zu laufen und dessen Umwandlung zu ermöglichen. In der Zwischenzeit wird Schwarz natürlich nicht untätig bleiben und die ungeschützten weißen Bauern am Königsflügel des Feldes verweisen. Häufig entsteht ein Endspiel Turm gegen Bauern, welches die materiell unterlegene Seite durch Umwandlung eines ihrer Bauern retten kann.

Was sagt Dvoreckij zu diesem Endspiel? Durch einen Blick ins Inhaltsverzeichnis wird man schnell auf das Kapitel 9.7.3 verwiesen. Dort wird zum Oberthema „Turmendspiele – Gleichgewicht auf einem Flügel, Mehrbauer auf dem anderen“ der Spezialfall „Turm vor dem Bauern, Bauer auf der 6. Reihe“ analysiert.

Dvoreckij bringt folgendes Beispiel von Kantorovic:

Sein Merksatz: „Merken wir uns, dass die schwarzen Figuren optimal platziert sind, wenn der Turm den Bauern im Visier behält und der König möglichst aktiv postiert wird.“

Ein Auszug aus seinen Varianten:
Der beste Gewinnversuch ist 1.Kd4 [ 1.Ta8 Kf5 2.f3 ( 2.Kd4 Txf2 3.Tf8 Ta2 4.Txf7+ Kg4=) 2…Ta3+ 3.Kd4 Txf3 4.Tf8 Ta3 5.Txf7+ Kg4 6.Tf6 Kxg3 7.Txg6+ Kxh4 8.Kc5 Kh3 9.Kb6 h4=] 1…Txf2 2.Tc7! [ 2.Kc5 Tc2+ 3.Kb6 Tb2+ 4.Kc7 Tc2+ 5.Kb8 Ta2=] 2…Ta2 3.Tc6+ [ 3.a7 Kf5 4.Txf7+ Kg4 5.Kc5 Kxg3 6.Kb5 Tb2+ 7.Kc6 Ta2 8.Kb7 Kxh4 9.Tf6 Txa7+ 10.Kxa7 Kg5 11.Tf8 h4 12.Kb6 h3 13.Kc5 Kg4 14.Kd4 h2 15.Th8 Kg3=] 3…Kf5 4.Kc5 Kg4 5.Kb5 Kxg3

6.Tc4 f6 7.Ta4 Tb2+ 8.Kc6 Tb8 9.a7 Ta8 10.Kb7 Txa7+ 11.Kxa7 g5 12.hxg5 fxg5 13.Ta5 h4 14.Txg5+ Kf2 15.Th5 Kg3 16.Kb6 h3 17.Kc5 h2 18.Kd4 Weiß fehlen 2 Tempi. 18…Kg2=

Mit diesem Wissen ausgerüstet, wie ging es nun in der erwähnten Partie weiter? 36.Kf1 Ta2 37.Kg1 Kf5 38.Kg2 Ta3 39.Ta7 Kf6 40.Kf1 Ta2 41.Ke1 Kg7 42.Kd1 Kf6 43.Kc1 Txf2 44.Kb1 Tf5 45.Tc7 Tb5+ 46.Kc2 Ta5 47.a7 Kf5 48.Kb3 Kg4 49.Tc4+ Kxg3 50.Ta4 Txa7 51.Txa7 Kxh4

Diese Stellung scheint verloren zu sein. Es folgte: 52.Kc3 Kg3 53.Kd2 g5 54.Txf7 h4 55.Ke2 g4 56.Kf1 Kh2 57.Tf2+ Kh1 58.Tf4 h3 59.Kf2 h2 60.Te4 1-0

Das schwarze Problem war offenbar, dass Weiß durch das Manöver Tc4-a4 die nötigen Tempi gewann, um seinen König rechtzeitig anzunähern. 45….Ta5+ und 48…Ta1 scheinen mir noch das Remis sicherzustellen.

FAZIT

Ein moderner Klassiker. Wenn es einen Schach-Oscar für Bücher geben würde, so wäre dieses Buch mein Favorit für die Kategorien Buch des Jahres, Endspielbuch, Layout und Didaktik. Ob Klubspieler oder Großmeister, jeder kann dieses Buch gebrauchen.