KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
SOLIDER THEORIEÜBERBLICK
Von FM Joachim Wintzer
Nigel Davies
The Grünfeld Defence
Everyman Publishers 2002,
Sprache: Englisch
Paperback, 160 S.,
23,40 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
ÜBER DEN AUTOR
Der englische Großmeister Nigel Davies (Elo 2480) hat bereits mehrere Schachbücher verfasst. Zuletzt hat Everyman seine Monographie über die Aljechin-Verteidigung veröffentlicht. Er spielte u.a. für die Schachvereinigung Plettenberg in der 1. Bundesliga.
ÜBER EVERYMAN PUBLISHERS
Da dies meine erste Besprechung eines Buches von Everyman Publishers für KARL ist, sind einige grundsätzliche Bemerkungen angebracht, auf die ich mich bei späteren Besprechungen beziehen kann. Everyman Publishers gehört neben Gambit zu den rührigsten Verlagen, was die Veröffentlichung von Eröffnungsliteratur betrifft. Wer sich ein aktuelles Buch über eine Eröffnung zulegen will, hat häufig zwischen einem Produkt dieser beiden englischen Verlage zu wählen. Der Leser meiner Besprechungen hat einige Produkte des Hauses Gambit bereits kennen lernen dürfen. Die von Gambit verlegten Eröffnungsmonographien bieten – von Ausnahmen abgesehen – einen kompletten Überblick über eine Eröffnung und berücksichtigen dabei auch ältere Spielweisen. Die enzyklopädische Darstellung anhand von Variantenbäumen erleichtert das schnelle Auffinden der Varianten.
Vielleicht gibt es eine strategische Absprache zwischen beiden Verlagen, vielleicht ist es auch nur kaufmännisches Kalkül, jedenfalls hat sich Everyman Publishers für eine andere Konzeption entschieden. Die Eröffnungsmonographien von Everyman basieren auf der Analyse von Partien, die in den letzten Jahren gespielt wurden. Der Darstellung der Eröffnung wird dabei natürlich eine weit größere Bedeutung und ein größerer Umfang eingeräumt als dem Mittel- und Endspiel. Wenn NIC die Artikel seiner Jahrbücher zu einer Eröffnung aus den letzten vier bis fünf Jahren zusammenstellen und unter einen Buchdeckel pressen würde, käme ungefähr ein Eröffnungsbuch von Everyman Publishers heraus. Die Vorteile dieser Form der Präsentation sind die Aktualität des Materials und die Möglichkeit, sich anhand der Partien ein Bild von strategischen und taktischen Motiven in bestimmten Abspielen zu machen. Nachteilig sind die unzureichende Indexierung, mehr dazu siehe unten, und der weitgehende Verzicht auf solche Varianten, die gerade nicht en vogue sind. Zudem lässt sich im Zeitalter der Schachdatenbanken in Frage stellen, ob der Leser die unkommentierten letzten 30 Züge einer Partie wirklich aus einem Buch nachspielen will.
Ein weiterer Unterschied besteht beim Format und Layout. Die Bücher von Gambit liegen gut in der Hand (zumindest in meiner), während es bei den großformatigen Eröffnungsmonographien von Everyman Publishers etwas unbequem ist, sie mit nur einer Hand zu halten. Die Bücher von Everyman haben eine viel kleinere Schriftgröße als die vom Gambit-Verlag gewählt, was manche Absätze mit langen Partiefragmenten unübersichtlich macht. Dafür erhält der Leser bei gleicher Seitenzahl bei Everyman wesentlich mehr Material geboten.
GRÜNFELDINDISCH
Grünfeldindisch erlebte in den achtziger Jahren einen Popularitätsschub. Kasparow ließ sich von ungarischen Großmeister Adorjan dazu überreden, diese Verteidigung auf höchster Ebene, nämlich im Wettkampf gegen Karpow, einzusetzen. Karpow gewann einige Partien mit unterschiedlichen Systemen, ohne dass dies die Spielbarkeit von Grünfeldindisch in Frage gestellt hätte. In den letzten Jahren hat Kasparow die Verteidigung nur noch sporadisch eingesetzt, weil ihm der Arbeitsaufwand für Grünfeldindisch und die Najdorf-Variante zu groß geworden ist. Der Schwarzspieler muss sich auf eine Vielzahl von möglichen System vorbereiten, bei denen es auf jeden Zug ankommt. Derzeit verteidigt hauptsächlich der ungarische GM und Weltmeisterschaftsherausforderer Leko die schwarzen Farben.
GLIEDERUNG
Davies hat sein Material folgendermaßen gegliedert:
Bibliographie (1 Seite)
Einleitung (2 Seiten)
The Exchange Variation 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cd Sd5: 5.e4 Sc3: 6.bc Lg7 7.Sf3 c5
Exchange Variation with 8 Tb1 (17 Seiten)
Exchange Variation with 8 Le3 (11 Seiten)
Exchange Variation with 7 Lc4 (15 Seiten)
Exchange Variation: Lines with Lb5+ or h3 (10 Seiten)
Exchange Variation: Early Divergences (10 Seiten)
The Russian System 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.Sf3 Lg7 5.Db3 dc: 6.Dc4: 0-0 7.e4
The Russian System: Prins Variation (10 Seiten)
The Russian System: Hungarian Variation (13 Seiten)
The Russian System: Smyslov Variation (11 Seiten)
The Russian System: Early Divergences (8 Seiten)
Other Systems
Classical with Lf4 (13 Seiten)
Lines with Lg5 (10 Seiten)
The Fianchetto Variation (13 Seiten)
Other Variations (18 Seiten)
Partienindex (3 Seiten)
VORGÄNGER UND AKTUALITÄT
Es gibt nur wenige Gesamtdarstellungen über Grünfeldindisch. Die von Botwinnik und Estrin verfasste und im Schmaus-Verlag verlegte Monographie von 1986 ist inzwischen natürlich veraltet. Nichtsdestotrotz erstaunt das Fehlen dieses wichtigen Referenzwerks in der Bibliographie. Adorjans und Dörys „Grünfeld-Indische Verteidigung – richtig gespielt“ (1987/1991) stellte dem Schwarzspieler ein Repertoire zusammen. Auch wenn viele Nebenvarianten nicht behandelt wurden, hatte man als Leser doch den Eindruck, mit Hilfe dieses Buchs Grünfeldindisch in das eigene Repertoire aufnehmen zu können. Das wichtigste Konkurrenzprodukt ist das 1999 bei Gambit erschienene Erstlingswerk des schottischen Großmeisters Jonathan Rowson „Understanding the Grünfeld“, ein gut lesbares und mit vielen eigenen Analysen versehenes Repertoirebuch aus schwarzer Sicht. Davies hat seinen Rowson gelesen und zitiert häufig aus ihm.
Die Hauptpartien stammen fast alle aus den Jahren 1997 bis 2001. Die letzte TWIC, die Davies eingearbeitet hat, stammt vom April 2002.
PRÄSENTATION DES MATERIALS
Zur Präsentation des Materials wurde weiter oben schon einiges gesagt. Davies schreibt in seiner Einleitung, dass er ein besonderes Augenmerk auf die Darstellung von Nebenvarianten gelegt hat. Das Buch ist kein Repertoirebuch aus schwarzer Sicht, bei der Auswahl der Systeme, welche keine oder nur eine sehr knapper Darstellung finden, entscheidet Davies aber immer aus schwarzer Sicht. Der Weißspieler wird daher einige Systeme vermissen, weil sie Davies für Schwarz nicht als aussichtsreich erachtet. Der Textanteil ist etwas größer als in den von mir besprochenen Gambit-Eröffnungsbüchern.
Zu beklagen ist das Fehlen eines Variantenindexes. Es ist ein Rätsel, warum Everyman immer noch auf dieses unentbehrliche Hilfsmittel zum Auffinden von Varianten verzichtet. Die kurzen Zusammenfassungen am Ende des Kapitels sind kein vollwertiger Ersatz.
STAND DER THEORIE
Mit Hilfe einiger Stichproben wollte ich die Qualität von Davies‘ Darstellung überprüfen. Mich interessierte zunächst, was Davies zum „Widerlegungsversuch“ des ehemaligen Fernschach-Weltmeisters Hans Berliner zu sagen hat.
Es handelt sich um die Variante 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 c5 7.Lc4 Lg7 8.Se2 Sc6 9.Le3 0-0 10.Tc1 Da5 11.Kf1 cxd4 12.cxd4 Da3:
Berliner hatte in seinem Buch The System diese Variante als Widerlegung von Grünfeldindisch angegeben, ohne aber den letzten, schon mehrmals mit befriedigenden Ergebnissen gespielten Zug Da3 zu analysieren. Die Rezensenten von Berliners Buch wiesen zurecht auf dieses Versäumnis hin. Berliner analysierte die Stellung ausführlich und veröffentlichte seine Ergebnisse in mehreren Schachzeitschriften. Berliner empfiehlt 13.Tc3! Dd6 14 h4!! (seine Ausrufezeichen). Davies scheint von Berliners Analysen nichts mitbekommen zu haben. Er zitiert nur die Partie Browne – Kudrin, Philadelphia 1992, in welcher 14.f3 geschah.
Als nächstes interessierte mich, wie Davies die in den achtziger Jahren häufig gespielte Variante 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 Lg7 7.Sf3 c5 8.Tb1 0-0 9.Le2 Sc6 10.d5 Se5 11.Sxe5 Lxe5 12.Dd2 präsentieren würde.
Davies bringt zwei Partien, ohne aber auf die Fortsetzung 13…e6 14.f4 Lh8 einzugehen. Wer diese Variante mit Weiß spielt, wird sich anderswo umsehen müssen.
Der aus diesen Beispielen gewonnene Eindruck ist nicht unbedingt repräsentativ, zeigt aber die Schwächen in der Darstellung auf. Die Theorie der letzten Jahre wird insgesamt befriedigend zusammengefasst. Bei den Nebenvarianten gibt es einige nette Anregungen, wie z.B. 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 und jetzt 4.h4!? (Partie 70).
Eigene Analysen des Autors, welche Beachtung verdienen, sind nur wenige zu finden.