KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
NICHT EXPLOSIV, ABER SEHR EMPFEHLENSWERT
Von FM Joachim Wintzer
Jouni Yrjölä und Jussi Tella
An Explosive Chess Opening Repertoire for Black
Seitenzahl: Paperback, 272 S.,
Gambit 2001
24,95 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
ÜBER DIE AUTOREN
Der finnische Großmeister Jouni Yrjölä, (Elo um 2440) hat im Jahre 2000 bereits ein Eröffnungsbuch veröffentlicht: Easy Guide to the Classical Sicilian. Featuring the Richter-Rauzer and Sozin Attacks. Sein Landsmann, IM Jussi Tella (Elo um 2430), ist bisher noch nicht schriftstellerisch tätig gewesen.
EIN EXPLOSIVES REPERTOIRE!?
Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Wie wollen es die Autoren anstellen, dem Schwarzspieler ein Repertoire zusammenzustellen, welches a) explosiv ist und b) den zündelnden Schwarzspieler nicht sofort in Stücke reißt? Die Antwort ist einfach. So etwas gibt es nicht. Die Versprechung im Titel ist sicher der Hoffnung des Verlages geschuldet, mit diesem reißerischen Titel den Verkauf zu stimulieren. Die Autoren kommen in ihrem Vorwort selbst auf den Interessenkreis zu sprechen: „Most of the lines are more positional than tactical in nature but they leave a lot of space for creativity and aggressive play by Black. […] For players who don’t like endings, our repertoire is hardly optimal although the many endings discussed usually take rather a queenless middle-game nature.“
Ein Titel wie „Ein sperriges Repertoire“ hätte den Inhalt des Buches besser wiedergegeben. Der Wartezug 1…d6 lässt dem Schwarzen gegen 1.d4 die Option, in Eröffnungen wie die Moderne Verteidigung, Königsindisch, Altindisch oder Holländisch überzuleiten. Die meisten Weißspieler haben gegen diese Eröffnungen ein bestimmtes Repertoire, das durch 1….d6 umgangen werden kann. Wer gegen Königsindisch die Sämisch-Variante spielt, kann nach 1.d4 d6 nicht 2.Sf3 spielen. Nach 2.c4 e5 hat Schwarz jedoch gute Chancen auf dynamischen Ausgleich, weil im Unterschied zum Altinder mit eingeschaltetem Sc3 und Sf6 der f-Bauer mobil ist.
SYSTEMREPERTOIREBÜCHER
Die meisten auf dem Markt erhältlichen Repertoirebücher behandeln nur eine Eröffnung, wie zum z.B. Play the French, Wie schlägt man Sizilianisch oder das von mir in dieser Kolumne besprochene Die Katalanische Eröffnung. Davon abzugrenzen sind Bücher, die ein gesamtes Eröffnungsrepertoire zusammenstellen. Um den Lern- und Schreibaufwand nicht zu groß werden zu lassen, entscheiden sich die Autoren derartiger Werke meist für Eröffnungen mit ähnlichen Bauernstrukturen, so dass die Eröffnungen, die nach 1.e4 oder 1.d4 entstehen, durch Zugumstellung ineinander übergehen können. Da mir nur zwei Monographien dieser Art bekannt sind, seien sie beide kurz erwähnt.
Milos Jovicic hat sich in seinem 1998 veröffentlichten 1.d4 e6 Black is Good! dafür entschieden, das Repertoire auf der Bauernstruktur e6/b6 aufzubauen. Auf 1.d4 e6 2.c4 empfiehlt er 1…b6. Gegen 1.e4 untersucht er 1…e6 2.d4 c5. Beides sind keine etablierten Systeme, in denen ein Autor eine Unmenge von Stoff verarbeiten muss.
Andy Soltis 1994 erschienenes Black Defensive System With 1…d6 ist ein direkter Konkurrent zum besprochenen Buch. Gegen 1.e4 empfiehlt Soltis die Tschechische Verteidigung (1…d6, 2…Sf6 und 3…c6). Yrjölä/ Tella sind etwas ehrgeiziger und empfehlen die Pirc-Verteidigung als schwarze Waffe gegen 1.e4. Gegen 1.d4 und 1.c4 fol-gen Yrjölä / Tella dem von Soltis eingeschlagenen Pfad. Gegen 1.d4 d6 2.c4 ist 2…e5 der empfohlene schwarze Gegenzug. Und gegen 1.d4 d6 2.Sf3 werden mit 2…Lg4 Übergänge in andere Eröffnungen vermieden.
GLIEDERUNG
Einleitung (5 Seiten)
Part 1: 1.d4 d6 2.c4 e5 (65 Seiten)
1 1.d4 d6 2.c4 e5: Introduction
2 3.Sf3: Main Line with g3
3 3.Sf3: Main Line with e3
4 5th Move Alternatives for White
5 4th Move Alternatives for White
6 What Else Can Black Play?
7 3.Sc3: Introduction
8 3.Sc3 exd4 4.Dxd4 Sc6
9 3.Sc3 exd4 4.Dxd4 Sf6
10 3rd Move Alternatives for White
Part 2: 1.d4 d6 2.Sf3 Lg4 (73 Seiten)
11 The Hodgson Variation (2.Sf3 Lg4): Introduction
12 3.c4 Sd7
13 The Early … Lxf3
14 The Portuguese Gambit (1.d4 d6 2.Sf3 Lg4 3.c4 e5 4.de: Sc6)
15 3.e4
16 3rd Move Alternatives for White
Part 3: Other 2nd Moves for White (16 Seiten)
17 Other 2nd Moves for White: Introduction
18 Serious Alternatives for White
19 Odds and Ends
Part 4: The Pirc (54 Seiten)
20 The Pirc Defence: Introduction
21 The Austrian Attack with 5…c5
22 The Classical Pirc with 6…Lg4
23 The Pirc with Le3
24 The Pirc with Lg5 or Lf4
25 Pirc: Miscellaneous Lines
Part 5: Other First Moves for White (19 Seiten)
26 Other First Moves for White: Introduction
27 The Reti and English with Sf3
28 The English Opening without an Early Sf3
29 Rare First Moves
Part 6: Other Options for Black (31 Seiten)
30 Other Options for Black: Introduction
31 The Old Indian with .. Lf5
32 1.d4 d6 2.c4 Sf6 3.Sc3 e5 4.Sf3 e4
33 Endgame Systems when White Plays e4
Variantenindex (5 Seiten)
VORGÄNGER UND AKTUALITÄT
Das wichtigste Vorgängerwerk, Soltis Black Defensive System With 1…d6 wurde bereits genannt. Bedauerlicherweise haben die Autoren auf eine Bibliographie verzichtet, so dass sich nur mutmaßen lässt, welche Referenzwerke sie konsultiert haben. Die von Yrjölä und Tella vorgestellten Eröffnungen sind von der Theorie teilweise stiefmütterlich behandelt worden. Der frühe Damentausch in der Variante 1.d4 d6 2.c4 e5 3.de: de: 4.Dd8:+ ist eigentlich keiner Eröffnung richtig zuzuordnen. Nach dem Deckungszug 3.Sf3 entsteht nach 3…e4 eine Variante von Englisch 1.c4 e5. Dazu ist zuletzt The Gambit Guide to the English Opening 1…e5 von Carsten Hansen erschienen. Den Autoren scheint diese 1999 veröffentlichte Monographie nicht vorgelegen zu haben, denn sie zitieren Hansens Verbesserungsvorschläge nicht.
Die von den Autoren nach dem englischen Großmeister Julian Hodgson benannte Variante 1.d4 d6 2.Sf3 Lg4 ist erst in den 90er Jahren populär geworden. Es gibt zwar dazu einige Artikel im Schach-Archiv oder in den NIC-Yearbooks, aber (meines Wissens) kein eigenständiges Werk darüber. Bei der Pirc-Verteidigung ist die Darstellung notgedrungen äußerst knapp geraten. Die Autoren verweisen den wissensdurstigen Leser auf The Ultimate Pirc von Nunn und McNab (1998). Sie hätten auch noch auf das 2001 erschienene Pirc Alert von Lev Alburt und Alexander Chernin hinweisen können.
Die neusten erwähnten Partien stammen aus dem ersten Halbjahr 2001.
PRÄSENTATION DES MATERIALS
Wie bei den anderen bereits in dieser Kolumne rezensierten Gambit-Büchern, erfolgt die Präsentation des Materials nicht anhand von Beispielpartien, sondern in enzyklopädischer Form. Die Autoren nutzen die Möglichkeiten solcher Programme wie Chessbase und ChessAssistant extensiv. Sie führen in die Hauptvarianten jeweils mit Statistiken ein, in denen die Anzahl der Partien in ihrer Referenzdatenbank, das weiße Ergebnis in Prozent, die Elo-Zahl des Weißen und seine Performance (jeweils der Durchschnitt) angegeben werden. Kurz und bündig werden dann einige thematische Stellungen und Pläne resümiert.
Die Autoren weisen immer wieder auf mögliche Zugumstellungen zu anderen Varianten und Eröffnungen hin. Wer beispielsweise die Leningrader Variante im Holländischen in seinem Repertoire hat, aber dort die weißen Alternativen zu 2.c4 vermeiden möchte, kann von den Repertoirevorschlägen profitieren.
Nützlich ist die kurze Zusammenfassung über den Stand der Theorie am Ende der Hauptvarianten. Yrjölä und Tella gehen mit dem Leser ehrlich um. Wenn die Hauptvariante Weiß im Vorteil sieht, so versuchen sie nicht, den Leser durch Angabe einzügiger und ungeprüfter Verbesserungsvorschläge über die wirkliche Lage zu täuschen. Wenig nachvollziehbar ist allerdings häufig die Wahl der Hauptfortsetzung. Nach meinem Verständnis stellt die Hauptvariante das beste Spiel für beide Seiten dar. Die Autoren wählen jedoch oft eine minderwertige Fortsetzung für Weiß, und erst das Studium der Abweichungen ergibt, wie die derzeit beste Zugfolge aussieht.
Aber trotz dieser Einwände halte ich die Präsentation insgesamt für gelungen. Dagegen sind bei den von mir näher geprüften Varianten eigene Vorschläge der Autoren Mangelware.
ZUR THEORIE
Die Autoren handeln alle möglichen zweiten weißen Züge nach 1.d4 d6 ab, haben aber vergessen, eine wichtige weiße Möglichkeit zu untersuchen: 2.d5. Da der d-Bauer so-wieso meistens ein Feld vorschreitet, erscheint es nicht unlogisch, dies sofort zu tun. Im Vergleich zu der Variante 1.d4 d6 2.c4 e5 3.d5 f5 4.e4 fxe4 5.Sc3 Sf6, in der es Weiß nicht leicht fällt, den Bauern e4 wiederzugewinnen, kann Weiß nach 1.d4 d6 2.d5 e5 3.e4 f5 4.ef: hoffen, das Feld e4 unter Kontrolle zu bekommen, da kein schwarzer Bau-er auf e4 Ld3 verhindert.
Gegen die Hodgson-Variante sehen die Autoren folgende Zugfolge als kritisch an: 1.d4 d6 2.Sf3 Lg4 3.c4 Sd7 4.Sc3 e5 5.g3 Lxf3 6.exf3 exd4 7.Dxd4 Sgf6 8.Lg2 Le7 9.0-0 0-0 10.f4 c6 11.b3 Te8 12.Lb2 Lf8 13.Lf3 Db6 14.Dd2 Dc7 15.g4 Sc5 16.Tfe1
So entwickelte sich die Partie Van Wely – Timman, Match Play-off g/30, Breda (3) 1998. Der Bauer f2 schützt die weiße Königsstellung zuverlässig, so daß Weiß unbesorgt sei-ne Königsflügelbauern vorrücken kann. In der Partie folgte:
16…a5 17.g5 Sfd7 18.h4 Db6 19.La3 Se6 20.Tad1 Dd4 21.Lg4 Dxd2 22.Txd2 Sdc5 23.f5 Sf4 24.Txe8 Txe8 25.Lxc5 dxc5 26.Kh2 g6 27.f6 h5 28.Kg3 Se6 29.Lxe6 Txe6 30.Td8 Td6 31.Txd6 Lxd6+ 32.f4 b6 33.Kf3 Kf8 34.Ke4 Ke8 35.Se2 Kd7 36.f5 b5 1-0
Die Autoren trösten den Leser mit den schwarzen Abweichungen 6…Se7 und 7…Se7. Weiß vermag auch danach einen kleinen Vorteil festzuhalten, aber immerhin ist die schwarze Stellung nicht wie in der Timman-Partie explodiert!
Ein weiteres Beispiel für das Bemühen um Objektivität ist die Darstellung in einem der aggressivsten Systeme für Weiß, welches durch den sensationellen Opfersieg in der Partie Rogers – Milos bekannt wurde:
1.Sf3 d6 2.d4 Lg4 3.e4 Sf6 4.Sc3 e6 5.h3 Lh5 6.De2 c6 7.g4 Lg6 8.Lg5 Le7 9.Lxf6 Lxf6 10.h4
Die Autoren analysieren nun sowohl 10..h6 (die Partiefortsetzung) als auch das von ih-nen als besser angesehene 10..h5 als selbständige Hauptvarianten. In der Partie Rogers – Milos folgte
10…h6 11.0-0-0 Sd7 12.Kb1 Dc7 13.Tg1 h5 14.g5 Le7 15.d5 e5 16.Lh3 0-0-0 17.Sd2 Kb8 18.Sc4 Sb6 19.Sxb6 Dxb6 20.Td3 Ka8 21.a3 Tdf8 22.Lf5 Lh7 23.Tgd1 g6 24.dxc6 bxc6 25.Ld7 Dc7
Die schwarze Figurenanhäufung am Königsflügel inspirierte Rogers zu der folgenden Kombination:
26.Lxc6+ Dxc6 27.Sd5 Ld8 28.Tc3 Db7 29.Tb3 Dc6 30.Tdd3 La5 31.Tdc3 Lxc3 32.Da6 1-0
Bezüglich der Pirc-Verteidigung ist die wichtigste Frage natürlich: Was empfehlen die Autoren gegen den österreichischen Angriff. 1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.Sc3 g6 4.f4 Lg7 5.Sf3? Die Antwort: Die Remisvariante 5…c5 6.Lb5+ Ld7 7.e5 Sg4 8.e6 fxe6 9.Sg5 Lxd4 10.Sxe6 Lxb5 11.Sxd8 Lf2+. Wenn Weiß abweichen möchte, erhält die Partie natürlich ein neues Gesicht.
Am Ende des Buches wird der Altinder mit Lf5 analysiert. Hier macht Beljawskis wichtige Neuerung das System derzeit unattraktiv für Schwarz:
Beliawski – Hickl
ECC Panormo 2001
1.d4 Sf6 2.c4 d6 3.Sc3 Lf5 4.f3 e5 5.d5 e4
6.Le3 exf3 7.exf3 h5 8.Sge2 g6 9.Sd4 Ld7 10.Le2 Lg7 11.0-0 0-0 12.Kh1 Te8 13.Lg5 Dc8 14.Dd2 Sa6 15.Tae1 Sh7 16.Lh4 Lf5 17.a3 Ld7 18.b4 Te5 19.f4 Lh6 20.Dd3 Te8 21.f5 g5 22.Dd2 Lg7 23.f6 gxh4 24.fxg7 Te5 25.Dh6 h3 26.Ld3 hxg2+ 27.Kxg2 Tg5+ 28.Kh1 Txg7 29.Se6 1-0
FAZIT
An Explosive Chess Opening Repertoire for Black stellt für den Klubspieler ein interessantes Angebot dar, die ausgetretenen Pfade der indischen Eröffnungen zu verlassen. Die Präsentation des Materials ist überdurchschnittlich, eigene analytische Vorschläge sind leider nur spärlich aufzufinden. Für das Genre Repertoirebuch insgesamt ein sehr gelungenes Werk.