KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

NICHT ZU ÜBERSEHENDE SCHWÄCHEN

Von FM Joachim Wintzer

Katalanische Eröffnung Cover

Alexander Raetzki / Maxim Tschetwerik
Die Katalanische Eröffnung,
Schachverlag Kania 2001,
Hardcover, 207 S.,
17,50 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Kania-Verlag zur Verfügung gestellt.)

ÜBER DIE AUTOREN

Die beiden russischen Autoren IM Alexander Raetzki (Elo-Zahl um 2500) und FM Maxim Tschetwerik haben beim Schachverlag Kania bereits ein Buch über Albins Gegengambit publiziert. Raetzki hat letztes Jahr bei Everyman Chess ein Repertoirebuch über „Meeting 1.e4“ veröffentlicht.

DIE KATALANISCHE ERÖFFNUNG

Nach den Zügen 1.d4 Sf6 2.c4 e6 hat Weiß die Wahl zwischen Nimzoindisch (3.Sc3 Lb4), Damen- und Bogoindisch (3.Sf3 b6 bzw. 3.Sf3 Lb4+) und Katalanisch (3.g3). Weiß entwickelt in den nächsten Zügen zunächst seinen Königsflügel mit Sf3, Lg2 und 0-0. Je nachdem, ob Schwarz durch d5:c4 einen weißen Bauern des Feldes verwiesen hat oder nicht, entstehen unterschiedliche Stellungstypen: das geschlossene Katalanisch und das Katalanische Gambit. Raetzki und Tschetwerik behaupten in ihrem Vorwort, dass „die ‚offizielle‘ Zugreihenfolge in den Enzyklopädien“ 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.g3, „also Damengambit“ lauten würde. Wie sie zu dieser Einschätzung gekommen sind, ist mir ein Rätsel. Ein Blick in die Enzyklopädie der Schacheröffnungen hätte die Autoren eines Besseren belehrt. Katalanisch werden dort die ECO-Kennziffern E01-E09 (1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.g3) zugewiesen, gefolgt von E10-E19 (Damenindisch) und E20-E59 (Nimzoindisch). Keines der mir bekannten Eröffnungsbücher über Katalanisch verwendet die Zugfolge der Autoren.

EIN REPERTOIREBUCH

Die Autoren erklären in ihrem Vorwort, dass die Masse an vorhandenem Material eine Gesamtdarstellung über die Katalanische Eröffnung – selbst eine im Informatorstil – unmöglich machen würde. Auch diese Behauptung ist nicht zutreffend. Eine Monographie über Katalanisch zwänge den Autor zu einer Beschränkung auf das Wesentliche, wäre aber keineswegs ein unmögliches Unterfangen, wie beispielsweise Graham Burgess mit seiner Monographie über Slawisch bewiesen hat.

Wenn eine Gesamtdarstellung nicht in Frage kommt, bieten sich drei Alternativen an: Eine Präsentation der neuesten Spielweisen à la „Trends in“, eine Darstellung der wichtigsten Pläne und Strukturen à la „Wie spielt man“ und ein Repertoirebuch, in welchem die Autoren einer Seite ein komplettes Eröffnungsprogramm an die Hand geben.

Raetzki und Tschetwerik haben sich für Letzteres entschieden, begehen aber gleich eine Inkonsequenz. Ihre Auswahl der Varianten soll den Weißspieler in die Lage versetzen, auf alle schwarzen Varianten die aus ihrer Sicht derzeit aussichtsreichsten Zugfolgen zu spielen. Im Offenen System ist dies das Katalanische Gambit – 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.g3 d:c4 5.Lg2 (also nicht die Alternative 5.Da4+). John Watson hat mit seinen Repertoirebüchern Maßstäbe gesetzt, an denen sich auch die Autoren orientieren. Für Weiß wird nicht nur jeweils ein Abspiel untersucht, sondern auch alternative Spielweisen, „die verschiedene Spielstile befriedigen sollten“. So weit, so gut.

Nun wird aber plötzlich der Anspruch erhoben, als ob „Die Katalanische Eröffnung“ auch ein Repertoirebuch für den Nachziehenden darstellen würde: „Für den Nachziehenden empfehlen wir insbesondere 5…Sc6, die Darstellung im entsprechenden Kapitel ist solcherart, dass sich für beide Seiten ein komplettes Repertoire ergibt.“ Wenn der Nachziehende vertrauensvoll die Zugfolgen verinnerlichen würde und sich damit ausreichend gewappnet fühlte, so könnte er am Brett eine schöne Überraschung erleben, wenn Weiß sich für die nicht untersuchte Spielweise 5.Da4+ entscheiden sollte.

Die Erklärung für die merkwürdige Zugfolge der Autoren läßt sich vielleicht aus folgender Überlegung erschließen: „Bei einem Repertoirebuch wird von uns erwartet, dass auch die Varianten nach 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.g3 Lb4+ behandelt werden. Dies kommt aus welchen Gründen auch immer nicht in Frage, daher geben wir der Damengambit-Zugfolge den Vorzug. Denn niemand wird von uns erwarten, dass wir die schwarzen Abweichungen auf dem Weg von Damengambit zu Katalanisch behandeln werden und die Auslassung 3…Lb4+ fällt nicht weiter auf.“

GLIEDERUNG

Die Autoren haben ihr Material folgendermaßen gegliedert:

Einführung (2 S.)
Quellenverzeichnis (1 S.)

Das Katalanische Gambit
1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.g3 dc: 5.Lg2
Kapitel 1 Die Verteidigung 5…Sc6 (31 S.)
Kapitel 2 Die Verteidigung 5…a6 (22 S.)
Kapitel 3 Die Verteidigung 5…b5 (10 S.)
Kapitel 4 Die Verteidigung 5…c6 (3 S.)
Kapitel 5 Die Verteidigung 5…Ld7 (5 S.)
Kapitel 6 Die Verteidigung 5…Sbd7 (16 S.)
Kapitel 7 Die Verteidigung 5…c5 (17 S.)
Kapitel 8 Die Verteidigung 5…Lb4+ (12 S.)
Kapitel 9 Die Verteidigung 5…Le7 (31 S.)

Die Variante mit Entwicklung des Läufers nach d6
Kapitel 10 Die Verteidigung 4…c6 5.Lg2 Ld6 (8 S.)

Geschlossene Variante
1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.g3 Le7 5.Lg2 0-0 6.0-0
Kapitel 11 Das Geschlossene System: Abweichungen von der Hauptlinie (12 S.)

Geschlossene Variante
1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.g3 Le7 5.Lg2 0-0 6.0-0 Sbd7 7.Dc2 c6 8.Sbd2 b6
Kapitel 12 Die Hauptvariante des Geschlossenen Systems (26 S.)

Variantenindex (6 S.)


VORGÄNGER UND AKTUALITÄT

Die Autoren haben die NIC-Jahrbücher bis einschließlich Nummer 58 und die Informatoren bis einschließlich Nummer 80 ausgewertet. Als russische Muttersprachler werteten sie zudem die Analysen in Shakhmatny bulleten und Shakhmaty v SSSR aus. Als Referenzdatenbank diente ChessAssistants HugeBase 2001. Die Partien des ersten Halbjahrs 2001 fanden somit noch Berücksichtigung.

Die Autoren führen im Literaturverzeichnis nur drei Bücher an und erwecken somit den Eindruck, als ob über Katalanisch fast gar nichts veröffentlicht worden sei. Neistadts 1988 bei Schmaus in 2 Bänden veröffentlichte Untersuchung ist die bisher umfangreichste Darstellung. Die Autoren erwähnen weiterhin Dunningtons Winning with the Catalan (1997) – dem Titel nach auch ein Repertoirebuch aus weißer Sicht -, ohne auf Eric Schillers Wie spielt man Katalanisch (1986), Gennadi Nesis und Nikolai Kalinitschenkos Katalanisch – Richtig gespielt (1992) und Ken Smith und John Halls The Catalan (1995) hinzuweisen. Merkwürdig ist auch, dass Kotronias‘ ausgezeichnetes Repertoirebuch aus schwarzer Sicht Beating the Flank Openings (1996) Erwähnung findet, Lasha Janigavas The Queen’s Gambit and Catalan for Black (2000) hingegen nicht. Auch die Auswertung von Sosonkos Katalanisch-CD (1997) hätte erwartet werden können.

PRÄSENTATION DES MATERIALS

Die Autoren haben auf ein einführendes Kapitel verzichtet, in welchem einige wichtige strategische und taktische Motive hätten erläutert werden können. Wie aus der Inhaltsübersicht deutlich wird, steigen sie sofort in die Theorie ein. Wie auch bei Neistadt wird das Material in enzyklopädischer Form und nicht anhand kompletter Partien präsentiert. Verbesserungen der Theorie sind nur selten zu finden. Meistens werden nur bereits publizierte Analysen wiedergegeben. Eigene Vorschläge sind meist nur dann anzutreffen, wenn Raetzki eine Partie zu der besprochenen Variante gespielt hat. Man kann den Eindruck gewinnen, dass der Leser Raetzkis Repertoire übernehmen soll.

Der Wortanteil ist nicht ausführlich. Beim Leser wird einiges Schachwissen vorausgesetzt.

STAND DER THEORIE

Anhand dreier Stichproben soll die Genauigkeit und Ausführlichkeit der Analysen überprüft werden.

Da die Autoren in ihrer Einleitung betonen, dass sie die Variante mit 5…Sc6 für Schwarz empfehlen und in diesem Kapitel ein komplettes Repertoire für Schwarz und Weiß anbieten, liegt es nahe, diese Aussage zu überprüfen.

Nehmen wir die nach 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.g3 d5 4.Sf3 dxc4 5.Lg2 Sc6 6.0-0 Tb8 7.Sc3 b5 entstandene Stellung als Ausgangspunkt.

Auf Seite 32 gehen die Autoren nur auf die Fortsetzung 8.Se5 ein. Wer mit Schwarz diese Variante spielen möchte, soll die Antwort auf 8.e4, 8.Lg5 und 8.Sg5 anscheinend am Brett finden.

Nach den weiteren Zügen 8…Se5: 9.de: Sd7 untersuchen Raetzki und Tschetwerik 10. Lc6 und 10.Dd4. Keine Erwähnung finden die Varianten 10.a4 b4 11.Se4 oder 11.Sb5 und 10.Lf4.

Zu 10.Dd4 wird nur die Partie Raetzki – Kelecevic, Silvaplana 1997 angeführt. Dort war Weiß nach 10…Lb7 11.Td1 Lg2: 12.Kg2: Dc8 13.a4 a6 14.ab: ab: 15.f3 Le7 16.Ta5 erfolgreich. Als kritische Variante bezeichnen die Autoren den Angriff auf die Dame mit 10…c5. Die Partie Prakken – Ippolito, Ubeda 2000, in welcher 11.Df4 folgte, wird nicht erwähnt. Empfohlen wird statt dessen 11.Dg4 mit folgender Analyse: 11…Se5: 12.Dh5 Sg6 13.Lc6+ Ld7 14.Lg5 Dc7 15.Ld7:+ Dd7: 16.Tfd1. Die weiße Initiative sei offenkundig. Offenkundig hat Schwarz zwei Bauern mehr, doch wie kann Weiß die Initiative nach etwa 16…Dc6 festhalten?

Ein anderes Beispiel. In den achtziger Jahren war die scharfe Variante 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.g3 d5 4.Sf3 dxc4 5.Lg2 b5 6.a4 c6 in Mode. Weiß muss sehr erfindungsreich spielen, um Schwarz daran zu hindern, seinen Mehrbauern zu konsolidieren. Zwei Möglichkeiten werden untersucht, 7.0-0 und 7.Se5. Nach 7.0-0 hat Schwarz nach Meinung der Autoren keinen Ausgleich. Mich interessierten mehr die faszinierenden Varianten, die nach 7.Se5 Sd5 8.axb5 cxb5 entstehen.

Nach 9.Sc3 kann Schwarz die selten gespielte Fortsetzung 9…f6 versuchen.

Die Autoren folgen in ihrer Hauptvariante der Partie Milovanovic – Raicevic, Jugoslawien 1990: 10.e4 Sxc3 11.Dh5+ g6 12.Sxg6 hxg6, in welcher Weiß nach 13.Dg6:+ Kd7 keine ausreichende Kompensation erhielt. Sie erwähnen auf S. 67 eine Empfehlung von Kharlow: 13.Dxh8 Dxd4 14. Lh6 Sd7 15.0-0, die „praktischer Erprobung bedarf“.

Eine kurze Überprüfung mit der Datenbank ergab, dass Dh8: schon mehrmals gespielt wurde: 13.Dxh8 Dxd4 14.Lh6 ( 14.Le3 Dd3 15.bxc3 Dxc3+ 16.Ke2 Db2+ 17.Kf3 Sd7 18.g4 Se5+ 19.Kg3 Sxg4 20.Dg8 Sxe3 21.Dxg6+ Kd7 22.Df7+ Le7 23.Thd1+ Sxd1 24.Txd1+ Kc6 25.Dxe7 De5+ 26.f4 Dc3+ 27.Kh4 1-0 Steele – Vaughan, Fernpartie USA 1988) 14…Sd7 15.Dg8 ( 15.0-0 f5 16.Dg8 Sxe4 17.Dxe6+ Kd8 18.Tad1 Dc5 19.Lxe4 fxe4 20.Td5 Db6 21.Lg5+ Kc7 22.Lf4+ Kd8 23.De5 Lb7 24.Lg5+ 1-0 Hackel – Rausch, Oberliga Ost 1996) 15…Ke7 16.Dh7+ Kd8 17.Lxf8 Sxf8 18.Dg7 Ke8 19.e5 Dxe5+ 20.Kf1 Se4 21.h4 Ld7 22.h5 gxh5 23.Lxe4 Dxe4 24.Txh5 Dd3+ 25.Kg1 Dg6 26.Dh8 Kf7 27.Tc5 Tc8 28.Txc8 Lxc8 29.Txa7+ Ld7 30.Dh4 Kg8 31.Tc7 e5 32.b3 Lg4 33.bxc4 Lf3 34.Dh3 b4 35.Tc8 Db1+ 36.Df1 Dh7 0-1 Watson, A – Chow.

Erwähnt sei, dass die Autoren gegen die Robatsch-Variante 7…Sc6 – nach 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.g3 dxc4 5.Lg2 Le7 6.0-0 0-0 7.Se5 – die Spielweise 8.Sxc6 bxc6 9.Sa3 empfehlen.

Zum Schluss noch ein Blick auf die geschlossene Variante: 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.g3 d5 4.Sf3 Le7 5.Lg2 0-0 6.0-0 Sbd7 7.Dc2 c6 8.Sbd2.

Raetzki und Tschetwerik geben auf Seite 172 folgende Erläuterung: „8..Te8 ist in der Praxis recht oft anzutreffen – freilich nicht in hochkarätigen Turnieren. Was soll der Turm auf e8 leisten? Eigentlich machen nur Züge Sinn, die mit dem schwarzen Hauptplan – Vorbereitung von …c6-c5 – in Zusammenhang stehen.“ Zu 8…Te8 und Sf6 wird nur eine Partie angegeben. 8…b5 wird als Hauptvariante auf zwei Seiten, 8…b6 in einem eigenen Kapitel analysiert. Es fragt sich, für welche Leserschaft das Buch geschrieben ist. In meiner Datenbank fand ich zu der Diagrammstellung 1117 Partien, davon gingen 151 mit Te8 und 76 mit der Hauptvariante b5 weiter. Es ist sicherlich richtig, dass Te8 strategisch fragwürdig ist, aber ist es nicht anzunehmen, dass die meisten Leser nicht in Turnieren der Kategorie 10 aufwärts spielen? Hätte es also nicht nahe gelegen, Te8 etwas mehr Beachtung zu schenken?

FAZIT

Für ein Repertoirebuch hat „Die Katalanische Eröffnung“ nicht zu übersehende Schwächen. Varianten, die bei Neistadt und der Enzyklopädie zu Katalanisch gerechnet werden, sind ohne Grund weggelassen worden. Die im Vergleich zu den anderen Spielweisen ausführliche Darstellung des Abspiels 5…Sc6 ergibt entgegen der Behauptung des Vorworts auch kein komplettes Repertoire für Schwarz. Bei den behandelten Varianten ist die Analyse und Präsentation bestenfalls durchschnittlich. Für den Schwarzspieler gibt es wesentliche bessere Repertoirebücher (Kotronias und Janigava) auf dem Markt. Wer Katalanisch mit Weiß spielt, mag von einigen Vorschlägen und der aktuellen Darstellung der ausgewählten Varianten profitieren, mehr aber auch nicht. Eine gewisse Spielstärke (circa 1800 DWZ) wird beim Leser vorausgesetzt.