KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

ERSTLINGSWERK GENÜGT HÖCHSTEN ANSPRÜCHEN

Von FM Joachim Wintzer

Bronznik Tchigorin-Verteidigung Cover

Valeri Bronznik: Die Tschigorin-Verteidigung
Hardcover, 303 S.,
Schachverlag Kania 2001
22,50 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Kania-Verlag zur Verfügung gestellt.)

ZU AUTOR UND VERLAG

Wer in den letzten Jahren gute Eröffnungsbücher kaufen wollte, war meist auf fremdsprachige Literatur angewiesen. Sowohl Euwes Eröffnungsreihe (Rattmann) als auch die Übersetzung russischer Theoriewerke ins Deutsche (Sportverlag, Schmaus) sind veraltet. Von Rolf Schwarz ist seit langer Zeit nichts mehr erschienen.

Diese Lücke konnte der Dreier-Verlag mit seinen Publikationen allein nicht schließen. Chessgate hat zwar eines der besten Eröffnungsbücher der letzten Jahre – Kindermann/Dirr (2001), (vgl. KARL 3/2001, S. 60f.) – vorgelegt, es steht jedoch in den Sternen, wann weitere Eröffnungsbücher verlegt werden.

Inzwischen gibt es mit dem Schachverlag Kania einen neuen Wettbewerber, der im Segment Eröffnungsbücher einige beachtliche Neuerscheinungen aufzuweisen hat. Der Verleger von Kania ist Harald Keilhack, der selbst eine Monographie über eine Eröffnung – Die Tarrasch-Verteidigung – verfasst hat.

Valeri Bronznik, der Autor des vorliegendes Buches, spielt wie sein Landsmann und Teamkollege Golubev für Stuttgart in der Ersten Bundesliga. Als IM mit einer Elo-Zahl von über 2400 und B-Trainer des Deutschen Schachbundes können von ihm fundierte Einschätzungen erwartet werden. Bei seinem Erstlingswerk wurde
er vom Fernschach-GM Dieter Mohrlok unterstützt.

ZUR TSCHIGORIN-VERTEIDIGUNG

Die Tschigorin-Verteidigung 1.d4 d5 2.c4 Sc6 gehört zu den als strategisch verdächtig geltenden Eröffnungen, weil Weiß den Schwarzspieler zur Aufgabe des Läuferpaares und zur Stärkung des weißen Bauernzentrums zwingen kann. Als Kompensation dafür erhält der Nachziehende ein gutes Figurenspiel. Beide Läufer können meist außerhalb der Bauernkette entwickelt werden. Und wie im Grünfeldindisch gibt das gegnerische Bauernzentrum auch Ansatzpunkte für Gegenspiel. Wenn Schwarz es allerdings nicht schafft, seinen Entwicklungsvorsprung in andere Vorteile zu transformieren, kommen im Mittel- und Endspiel die weißen strukturellen Vorteile zum Tragen. Wer einmal eine theoretische Untersuchung zu diesem Themen-komplex lesen möchte, dem seien die Kapitel „Chigorin and the Knight Pair – The Traditional Case for Success“ und „The Rest of the Story – Chigorin usually lost with the Knight Pair“ in Steve Mayers „Bishop versus Knight. The Verdict“ (1997) empfohlen.

In der Großmeisterpraxis ist die Tschigorin-Verteidigung ein seltener Gast. Smyslow wandte sie in den achtziger Jahren einige Male, darunter auch im Kandidatenwettkampf gegen Kasparow, an. Morosewitsch und insbesondere Miladinovic sind derzeit die Hauptvertreter der schwarzen Farben.

GLIEDERUNG

Bronznik hat sein Material auf die folgende Weise gegliedert:

Einführung (4 S.)

Kapitel 1 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sc3 dc: 4.e3 (10 S.)
Kapitel 2 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sc3 dc: 4.d5 (32 S.)
Kapitel 3 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sc3 dc: 4.Sf3 (53 S.)
Kapitel 4 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sc3 Sf6 (16 S.)
Kapitel 5 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sf3 Lg4 4.cd: Lf3: 5.gf:
(23 S.)
Kapitel 6 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sf3 Lg4 4.cd: Lf3: 5.dc: Lc6: 6.Sc3 (15 S.)
Kapitel 7 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sf3 Lg4 4.Sc3 (9 S.)
Kapitel 8 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sf3 Lg4 4.e3 (6 S.)
Kapitel 9 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sf3 Lg4 4.Da4 (8 S.)
Kapitel 10 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.Sf3 e5 (14 S.)
Kapitel 11 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.cd: Dd5: 4.Sf3 e5
(11 S.)
Kapitel 12 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.cd: Dd5: 4.e3 e5 5.Sc3 Lb4 6.Ld2 Lc3:7.bc: (49 S.)
Kapitel 13 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.cd: Dd5: 4.e3 e5 5.Sc3 Lb4 6.Ld2 Lc3:7.Lc3: (27 S.)
Kapitel 14 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.e3 e5 4. de: (6 S.)
Kapitel 15 1.d4 d5 2.Sf3 Sc6 3.Lf4 Lg4 (12 S.)
Kapitel 16 1.d4 d5 2.Sf3 Sc6 3.g3 (14 S.)

Quellenverzeichnis (1 S.)
Spielerverzeichnis (1 S.)
Variantenindex (3 S.)

Aus der Gliederung wird ersichtlich, dass Bronznik auch die weißen Spielweisen ohne 2.c4 abhandelt. Damit steht dem Schwarzspieler ein komplettes Repertoire gegen 1.d4 zur Verfügung.

VORGÄNGER UND AKTUALITÄT

Bronznik teilt zu Beginn mit, dass ihm IM John Watson sowie die FS-IM Jonathan Tait und Bernd Rädecker privates Partie- und Analysematerial überlassen haben. Er verwandte die üblichen Periodika (NIC und Informator) und Datenbanken (TWIC bis einschließlich 15.8.2001). Bei Eröffnungen wie der Tschigorin-Verteidigung ist es besonders wichtig, dass auch Fernpartien bei der Materialsuche berücksichtigt werden. Dies ist durch die Verwendung der entsprechenden Chessbase-Datenbank gegeben.

Dagegen werden überraschenderweise die Enzyklopädie und Darstellungen über die Tschigorin-Verteidigung in Handbuchreihen – beispielsweise der Band von Polugajewski aus dem Sportverlag – nicht im Quellenverzeichnis genannt. Von den Vorgängern – Watson (1981) und (1998), Dunnington (1996) und Breutigam
(2000) kenne ich keinen aus eigener Anschauung. Breutigams Chessbase-CD enthält wesentlich weniger Text, dafür aber dem Medium angemessen wesentlich mehr Partien.

PRÄSENTATION DES MATERIALS

Die kurze Einführung erläutert kurz die unterschiedlichen schwarzen Verteidigungsmöglichkeiten nach 1.d4 d5 2.c4 und ist somit sehr allgemein gehalten.

Bronznik hat sich für die Darstellung seines Untersuchungsgegenstandes anhand der Analyse kompletter Partien entschieden. Die 110 Beispielpartien wurden durchweg in den letzten zwei Jahrzehnten gespielt. Namen wie Tschigorin, Tarrasch oder Schlechter tauchen im Spielerverzeichnis nicht auf. Morosewitsch, Miladinovic und Rädecker haben die meisten Einträge.

Die Präsentation von Beispielpartien hat den großen Vorteil, dass typische Mittel- und Endspielstrukturen sowie die wichtigsten Pläne erläutert werden können. Der Autor nimmt sich immer wieder viel Zeit und Text, um den Leser die wichtigsten Stellungsmerkmale zu erklären. Es ist anzunehmen, dass Bronznik seine Tätigkeit als DSB-Trainer zugute gekommen ist. Er schreibt nicht nur für Großmeister. Von den Eröffnungsbüchern, die der Rezensent bisher mit dieser Darstellungsweise
gelesen hat, gehört Die Tschigorin-Verteidigung zum oberen Viertel.

Auch hinsichtlich der Qualität der Analysen und der Anzahl eigener Verbesserungsvorschläge ist der Autor zu loben. Heutzutage sollte es für einen Spieler mit IM-Stärke und Computerunterstützung kein großes Problem sein, Neuland zu entdecken. An vielen Stellen ist zu bemerken, dass sich der Autor nicht mit den bekannten Urteilen zufriedengab, sondern versuchte, die Theorie weiterzuentwickeln.

Hilfreich wäre eine Gesamtbewertung jedes Abspiels zu Beginn oder Ende eines Kapitels gewesen, in welcher der derzeitige Stand der Theorie kurz zusammengefasst wird.

STAND DER THEORIE

Um die neuesten Entwicklungen in der Tschigorin-Verteidigung seit dem Erscheinen des Buches kennenzulernen, habe ich im Internet Chess Club die zuletzt von Miladinovic gespielten Partien angesehen. Diese Partien bestätigten die Einschätzung, dass als aussichtsreichste weiße Fortsetzungen nach wie vor die nach
1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.cd: Dd5: 4.e3 e5 5.Sc3 Lb4 6.Ld2 entstehenden Abspiele anzusehen sind. Bronznik hat sie ausführlich in Kapitel 12 (1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.cd: Dd5: 4.e3 e5 5.Sc3 Lb4 6.Ld2 Lc3: 7.bc: und Kapitel 13 (1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.cd: Dd5: 4.e3 e5 5.Sc3 Lb4 6.Ld2 Lc3:7.Lc3: behandelt. Wenn die Tschigorin-Verteidigung lebensfähig sein sollte, muss Ausgleich in diesen beiden Abspielen nachgewiesen werden.

In der Variante 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.cd: Dd5: 4.Sf3 e5 5.Sc3 Lb4 6.Ld2 Lc3: 7.Lc3: e4 8.Se5

untersucht Bronznik auf Seite 190 nur das Bauernopfer 8…e3 und 8…Se5:, beides Fortsetzungen die Weiß nicht fürchten muss. Miladinovic spielte in 2 Partien gegen Azmaiparaschwili das – wahrscheinlich neue 8…Sge7. Es folgte 9.e3 Le6 10.Lc4 Dd6 11.Db3 Lxc4 12.Sxc4 Dg6 (12…Dd5 13.Sd2 Dxb3 14.axb3 f5 15.g4 Sd5 16.gxf5 Sf6 17.d5 Sxd5 18.Lxg7 Tg8 19.f6 Scb4 20.Ke2 Kf7 21.Sxe4 h6 22.Lxh6 Tae8 23.Sc3 Sxf6 24.Txa7 Sfd5 25.h4 Tg6 26.Lg5 Tb6 27.Td1 Sxc3+ 28.bxc3 Sc6 29.Ta3 Ke6 30.b4 Se5 31.Ta5 Tc6 32.Lf4 Sc4 33.Tc5 Txc5 34.bxc5 Ta8 35.h5 Ta2+ 36.Kf3 Sd2+ 37.Txd2 Azmaiparaschwili – Miladinovic / ICC 3 0 2002/1–0 (67)) 13.g3 0–0 14.Dxb7 Tfc8 15.Db3 a5 16.Se5 Sxe5 17.dxe5 a4 18.Dc4 Df5 19.0–0 Sg6 20.Tfd1 h5 21.Td7 Te8 22.Txc7 h4 23.Td1 Txe5 24.Tdd7 Tf8 25.De2 Td5 26.Txd5 Dxd5 27.Kg2 Dxa2 28.Dc4 Db1 29.g4 h3+ 30.Kxh3 Dd1 31.Dxe4 Df1+ 32.Dg2 Dd3 33.Df3 Df1+ 34.Kg3 Da6 35.h4 Dd6+ 36.Kh3 Dxc7 37.h5 Se5 38.Dd5 Te8 39.f4 Dd7 40.Dc5 Dxg4+ 41.Kh2 Sf3+ 0–1 Azmaiparaschwili – Miladinovic / ICC 3 0 2002.

Das Abspiel 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.e3 e5 4.cd Dd5: 5.Sc3 Lb4 6.Ld2 Lc3: 7.bc Sf6 8.f3 0–0 9.e4 Dd6 10.d5 Se7 11.c4 b6 12.Se2 Sd7 13.Sc3

behandelt Bronznik aus Seite 225ff. Er folgt im Haupttext der Partie Dautow – Miladinovic, Erewan 1996. Dort geschah weiter 13…a6. Bronznik erwähnt die Alternative 13…Sc5 „ohne Furcht vor 14.Sb5 – 14…Dd8 15.Le3 f5 mit Gegenspiel“, die Miladinovic gegen Ubiyca erprobte: 14.Le2 f5 15.ef Sf5: 16.0–0 Sd4 17.Le3 Se2:+ 18.De2: Lf5 19.Kh1 Dg6! Und dank der Schwäche des Feldes d3 hatte Schwarz genügendes Gegenspiel. Es folgte weiter 20.Lxc5 Ld3 21.Dxe5 Lxf1 22.Txf1 bxc5 23.Se4 Tae8 24.Da1 h5 25.h3 Da6 26.Tc1 Da3 27.Tc3 Db4 28.a3 Da5 29.Dc1 Tf5 30.Tb3 Da4 31.Dc3 Dd7 32.Tb1 De7 33.Da5
Ubiyca – Miladinovic / ICC 3 0 2001 / 1/2–1/2 (65).

Ein anderer Stellungstyp entsteht, wenn Weiß das Zentrum zuerst abschließt, um seine Entwicklung nachzuholen und erst dann auf die Kraft des Läuferpaares zu vertrauen. Miladinovic demonstrierte nach 1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.e3 e5 4.cd Dd5: 5.Sc3 Lb4 6.Ld2 Lc3: 7.bc Sf6 8.f3 e4 9.f4 eine neue Idee.

Bronznik analysiert die beiden zum Ausgleich führenden Züge 9…0-0 und Sa5. Mittels 9…h5 bereitete sich Schwarz darauf vor, dem nach g3 strebenden Springer gleich wieder einen Tritt zu verpassen: 10.c4 Dd6 11.Se2 a5 12.d5 Sb4 13.Sd4 Ld7 14.Db3 c5 15.dxc6 bxc6 16.Le2 c5 17.Sb5 Lxb5 18.cxb5 Sd3+ 19.Lxd3 exd3 20.0–0 0–0 21.Tad1 Tfe8 22.a4 Te4 23.h3 c4 24.Db2 Sd5 25.Tf3 Tc8 26.Tc1 f6 27.g4 h4 28.Kf2 c3 29.Txc3 Sxc3 30.Lxc3 Tec4 31.Ld4 Tc2+ 0-1 Fidget- Miladinovic / ICC 3 0 2002

FAZIT

Bronzniks Erstlingswerk genügt höchsten Ansprüchen. Sowohl was die Präsentation des Materials und die kritische Prüfung bekannter Fortsetzungen betrifft, kann „Die Tschigorin-Verteidigung“ mit den derzeit den Standard setzenden Eröffnungsmonographien von Gambit mithalten – zumal er für denselben Preis ein Buch mit Hardcover erhält. Wer die Tschigorin-Verteidigung mit Schwarz spielt, wird dieses Buch wahrscheinlich schon besitzen. Der Schwarzspieler, der eine komplette Verteidigung gegen 1.d4 sucht, findet in diesem Buch genügend Rüstzeug für eine erfolgreiche Umsetzung in die Praxis. Aufgrund der ausführlichen Texterklärungen kann das Buch bereits ab einer Spielstärke von 1600 DWZ mit Gewinn studiert werden. Sehr empfehlenswert!