KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

ANTI-SIZILIANER UNTER DEM MIKROSKOP

von Thomas Feldtmann

Experts on the Anti-Sicilian Cover

Jacob Aagaard, John Shaw,
Experts on the Anti-Sicilian
440 Seiten, kartoniert,
Quality Chess 2011,
24,99 Euro
(gebunden 29,99 Euro).

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Sieben Jahre nach seinem erfolgreichen Erstlingswerk Experts vs. the Sicilian hat der Quality-Chess-Verlag 2011 einen Band herausgegeben, der nicht nur einen ähnlichen Titel trägt, sondern auch im gleichen Geiste entstanden ist. Für Experts on the Anti-Sicilian hat sich unter der Redaktion von Jacob Aagaard und John Shaw eine zehnköpfige Mannschaft renommierter Schachautoren zusammen getan, denen bei Länge und Gestaltung ihrer Beiträge weitgehend freie Hand gelassen worden ist. Heraus gekommen ist eine bunte Mischung von Artikeln zu einer Reihe von Eröffnungssystemen, in denen der Anziehende nach 1.e4 c5 den offenen Sizilianer vermeidet. Dabei werden sowohl Weiß- als auch Schwarzspieler mit Repertoirevorschlägen versorgt. Im Gegensatz zu Experts vs. the Sicilian handelt es sich bei Experts on the Anti-Sicilian allerdings nicht um ein zusammenhängendes Repertoirebuch, so dass der Leser noch andere Werke zu Rate ziehen muss, um nach 1.e4 c5 für alles andere als 2.Sf3 gefolgt von d4 gewappnet zu sein.

Viele dieser „Anti-Sizilianer“ werden den Kunden in einer nicht abbrechenden Folge von Neuerscheinungen als eine Art von Geheimwaffen angepriesen, mit deren Hilfe ein kreativer und mit gesundem Schachverstand ausgestatteter Spieler ohne großes Theoriestudium den Najdorf-, Drachen- oder Sveshnikov-Anhängern ein Schnippchen schlagen kann. Ein kurzes Blättern in Experts on the Anti-Sicilian sollte bereits genügen, um eine solche Hoffnung nachhaltig zu begraben. Statt dass der Leser mit ein paar typischen Motiven gepaart mit oberflächlichen Analysen abgespeist wird, offenbart sich unter dem Mikroskop der Experten in den Anti-Sizilianern ein ähnlicher Detailreichtum wie in den Hauptsystemen. Tatsächlich enthält das Buch auch einige sehr kurze Kapitel, in denen es aber jedes Mal der Schwarze ist, dem ein einfaches Rezept für ein vollwertiges Mittelspiel an die Hand gegeben wird. Wer als Weißer in einem Anti-Sizilianer um Eröffnungsvorteil kämpfen will, wird sich spätestens nach Erscheinen dieses Buches auf den Hosenboden setzen und seine Hausaufgaben erledigen müssen.

Die Güte der Analysen und die Form der Präsentation bewegen sich durchgängig auf dem von Quality Chess gewohnten, ausgesprochen hohen Niveau. Obwohl es in der Mehrzahl der Kapitel konkrete Varianten sind, die den Ton angeben, muss sich der Leser nicht durch endlose Bleiwüsten kämpfen, sondern wird der Text immer wieder durch hilfreiche verbale Erläuterungen aufgelockert. Den meisten Autoren gelingt es sehr gut, Stellungseinschätzungen und Pläne in wenigen Worten plastisch zu beschreiben. Der unter Schachspielern weit verbreitete trocken-ironische Humor zieht sich als Stilmittel fast durch das gesamte Buch.

Experts on the Anti-Sicilian ist in die folgenden Abschnitte gegliedert:

Kapitel 1: Boris Avrukh
über 3…e6 gegen den Grand-Prix-Angriff

Kapitel 2: Jacob Aagaard
über 2…Sf6 gegen die Alapin-Variante

Kapitel 3: Tiger Hillarp Persson
über 3…d6 gegen die Rossolimo-Variante

Kapitel 4: Tiger Hillarp Persson
über 3…Sd7 gegen die Moskau-Variante

Kapitel 5: Andrew Greet
über die Moskau-Variante
mit 3…Ld7 4.Lxd7+ Dxd7 5.c4

Kapitel 6: Christian Bauer
über 2.Sf3 d6 3.Lc4

Kapitel 7–9: Christian Bauer
über 2.Sf3 d6 3.c3 Sf6 4.h3

Kapitel 10: Christian Bauer über den Königsindischen Angriff gegen 2.Sf3 e6

Kapitel 11: Christian Bauer
über 2.Sf3 e6 3.c3 d5 4.e5 d4

Kapitel 12: Milos Pavlovic über den Botvinnik-Aufbau mit …e5 und …Sge7 gegen den geschlossenen Sizilianer

Kapitel 13–20: Matthieu Cornette
über Tiviakovs Interpretation des
Grand-Prix-Angriffs 2.Sc3 Sc6 3.Lb5

Kapitel 21: Colin McNab über 2.a3 g6

Kapitel 22: Colin McNab über 2.f4 d5

Kapitel 23: Colin McNab
über 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.f3 e5

Kapitel 24: John Shaw
über ein Schwarz-Repertoire nach 2.d3

Kapitel 25: Peter Heine Nielsen
über 2.b3 g6

Den Herausgebern ist es gelungen, die Überschneidungen mit Ftacniks Grandmaster Repertoire 6 – The Sicilian Defence auf ein Minimum zu beschränken. Vielmehr sind die Kapitel 21–23 sogar als Ergänzungen des genannten Werkes konzipiert. Greet, Bauer und Cornette schreiben aus weißer Sicht, alle anderen Autoren tischen für die Schwarzspieler auf. Während die Analysen durchweg einen sehr ausgewogenen und objektiven Eindruck erwecken, kann man dies von der sprachlichen Gestaltung nur eingeschränkt behaupten. Zwar geben sich die Vertreter der weißen Seite bescheiden und unternehmen gar nicht erst den Versuch, die sizilianische Verteidigung zu widerlegen, doch findet man in den anderen Kapiteln teilweise deutliche Worte zugunsten des Schwarzen, wofür ich weiter unten einige Beispiele angeben werde. Auffällig ist auch, dass alle sechs Kapitel, die mit „Beating […] with […]“ tituliert sind, Repertoire-Empfehlungen für den Nachziehenden beinhalten.

Es darf in einer Rezension nicht unerwähnt bleiben, dass sich nirgendwo im Buch ein Literaturverzeichnis findet. Gelegentlich werden fremde Werke im Text zitiert, doch im Allgemeinen erfahren die Vorarbeiten anderer Autoren keine Würdigung. Da Experts on the Anti-Sicilian zu einem Großteil aus Originalanalysen besteht und einige Systeme in dem Buch weitaus detaillierter untersucht werden als es je zuvor geschehen ist, erscheint zwar vorbehaltlich einer genaueren Prüfung ein Plagiatsverdacht unbegründet. Eine Selbstverständlichkeit sollte es jedoch sein, wenigstens einen Blick in die Veröffentlichungen der Konkurrenz zu werfen, die dann aber auch als Quellen angegeben werden sollten.

Nach dieser kurzen Beschreibung des Gesamteindrucks möchte ich im Folgenden auf die Arbeit jedes einzelnen Autors gesondert eingehen, schon allein, um die Analysetätigkeit und den organisatorischen Aufwand zu würdigen, die offenbar hinter der Produktion dieses Buches gestanden haben:

GM Avrukh, der mit seinem Repertoirewerk über 1.d4 die Reputation eines Startheoretikers erworben hat, untersucht nach 1.e4 c5 2.Sc3 Sc6 3.f4 e6 4.Sf3 d5 5.Lb5 Sge7 6.exd5 exd5 7.De2 das (bislang!) wenig populäre 7…f6. Da dieser Zug in der einschlägigen Literatur weitgehend vernachlässigt wird, dürfte er in näherer Zukunft noch manchen Weißspieler unvorbereitet treffen. Avrukh gibt einen kurzen Überblick über die schwarzen Alternativen im siebten Zug, um darzulegen, warum er sie allesamt für problematisch hält. In der Variante, die er stattdessen vorschlägt, geht der schwarze König in der Regel auf das ungewöhnliche Feld f7, was beide Springer gleichzeitig entfesselt. Da die langfristigen positionellen Vorteile (Raumvorteil, Zentrumskontrolle, voraussichtlich auch das Läuferpaar) auf Seiten des Nachziehenden liegen, muss Weiß bestrebt sein, aus seinem momentanen Entwicklungsvorsprung Kapital zu schlagen. In den kritischen Varianten nimmt das Spiel daher einen sehr konkreten Charakter an. Mit seinen gewohnt treffenden Analysen und seiner schnörkellosen Art der Präsentation führt Avrukh den Leser auf wenigen Seiten sicher durch die Komplikationen. Die entstehenden Mittelspielstellungen sind unausgeglichen und bieten dem Schwarzen reichlich Potential, seinen Gegner auszuspielen.

Einer der lästigsten Antisizilianer ist die Alapin-Variante 2.c3, die, um den Rückentext von Frank Zellers Anti-Anti-Sizilianisch (Kania 2005) zu zitieren, „sich als fast uneinnehmbare Bastion der Bürokraten am Schachbrett [erweist]“. Dabei versuchen diese „Bürokraten“ nicht nur, den kreativen Sizilianisch-Freigeist mit Übersichtlichkeit und definierten Strukturen zu Tode zu langweilen, sondern fordern ihm auch noch ein gewisses Maß an Genauigkeit ab, auf dass er sich nicht ausgangs der Eröffnung in einer perspektivlosen Mittelspielstellung wiederfindet. Im zweiten Kapitel des Buches nimmt sich der laut Quality-Chess-Blog neue „Creative Director“ des Verlags, GM Aagaard, der schwarzen Sache an. Im Gegensatz zu Ftacnik, der in seinem Repertoire-Buch zwei selten gespielte Systeme mit neuen Ideen belebt hat, vertraut Aagaard auf die klassische Entgegnung 2…Sf6, deren mögliche Folgen er einer äußerst genauen Analyse unterzieht. Fast 50 Seiten umfasst seine Arbeit, obwohl er betont, sich auf die wichtigsten weißen Versuche konzentriert zu haben. Aagaard macht keinen Hehl daraus, welcher Seite im Anti-Sizilianer allgemein („my strategy against Anti-Sicilians has always been to overrun them – and successfully so“, Seite 28) und in der Alapin-Variante im Speziellen („in every one of my own games in this opening, no matter how poorly I played on the day, I stood better with the black pieces at some stage“, Seite 69) seine Sympathien gehören, bleibt aber trotzdem stets ausgesprochen objektiv in seinen Untersuchungen. Im Zweifel gibt er konservativen und sicheren Lösungen den Vorzug gegenüber allzu riskanten Entscheidungen, wofür er sich an mehreren Stellen geradezu entschuldigt. Nichtsdestoweniger sind seine Repertoire-Vorschläge in der Regel als ambitioniert zu bezeichnen; er empfiehlt kämpferische Optionen, wo immer dies vertretbar erscheint, und demonstriert in den übrigen Fällen klare Wege zu völligem Ausgleich. An Gründlichkeit, Umfang und Stichhaltigkeit der Analysen übertrifft Aagaards Arbeit alles, was ich bisher in Repertoirewerken für Schwarzspieler gesehen habe, und wird sich wohl auch vor keinem aus weißer Sicht geschriebenen Alapin-Buch verstecken müssen.

Tiger Hillarp Persson schlägt gegen die Anti-Sizilianer mit 3.Lb5(+) zwei ehrgeizige Systeme vor, die jeweils nicht die populärsten schwarzen Antworten darstellen. Nach Einschätzung des schwedischen Großmeisters, dessen Vorname in seinen Sturm-und-Drang-Jahren auch auf dem Schachbrett Programm gewesen ist, sind seine Empfehlungen keineswegs schwächer als die Hauptvarianten, wohl aber deutlich anspruchsvoller und weniger fehlertolerant. Hillarp Persson räumt ein, dass die Weißen die Rossolimo-Variante 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 in der Regel in aggressiver Ansicht wählen („you do not have to worry about White wanting a draw here“, Seite 71), zeigt aber wenig Respekt vor der Moskau-Variante 2…d6 3.Lb5+. Um einen Eindruck von seiner sicherlich etwas überzogenen Polemik zu vermitteln, die aber vielen Najdorf- oder Drachenanhängern aus der Seele sprechen dürfte, führe ich ein Zitat aus seiner Einleitung an (siehe Seite 103): „There are three main types of players that launch the bishop to b5 in this position: 1. Those who are more afraid of losing a game than they are happy to win one and; 2. Those who are more afraid of losing a game than they are happy to win one; And you can guess the third type yourself.“ Hillarp Perssons Gegengift 3…Sd7 wurde bereits in Joe Gallaghers Klassiker Beating the Anti-Sicilians (Batsford 1994) empfohlen; jüngere Repertoire-Bücher aus schwarzer Sicht haben sich jedoch fast unisono für das solidere 3…Ld7 ausgesprochen. Nach 3…Sd7 erobert Schwarz für gewöhnlich das Läuferpaar als Kompensation für eine zunächst etwas gedrückte Stellung. Dieses Ungleichgewicht bietet ihm deutlich bessere Chancen, seinen Gegner zu überspielen, als dies bei 3…Ld7 der Fall gewesen wäre. Als kritischer Test der schwarzen Herangehensweise gilt 4.d4 cxd4 5.Dxd4 a6 6.Lxd7+ Lxd7 7.Lg5, worauf Hillarp Persson den hintersinnigen Abwartezug 7…Tc8! analysiert, der auf eine Idee von GM Bologan zurück geht. Die Pointe besteht darin, den Zug 8.Sc3 zu provozieren, um darauf mit 8…h6 9.Lh4 e5! zu reagieren, wonach 10.Lxd8?? exd4 am hängenden Springer auf c3 scheitern würde. Viel besser ist 10.Dd3!, worauf der Schwarze mit 10…g5! nachsetzt. Mit dieser Entscheidung nimmt er eine löchrige Struktur am Königsflügel in Kauf und verzichtet in der Hauptvariante sogar auf die Rochade, um seinen Gegner durch aktives Spiel im Zentrum und am Damenflügel schon in der Eröffnung unter Druck zu setzen. Hillarp Persson gibt zu, dass es sich hierbei um einen Drahtseilakt handelt, nimmt die Risiken aber gerne in Kauf, um den Weißen für seine mutmaßliche Feigheit zu bestrafen. Vom Stil her erinnert die Arbeit des schwedischen Großmeisters an sein vielbeachtetes Erstlingswerk Tiger’s Modern (Quality Chess 2005). Als einziger Autor des Bandes bringt er seine Analysen in vollständigen Beispielpartien unter statt sie in Form von Variantenbäumen zu präsentieren. Dabei findet er eine optimale Balance zwischen konkreten Zugfolgen und verbalen Erläuterungen der zugrunde liegenden Ideen, die bei einem allgemein sehr hohen Niveau der Kommentare seine Kapitel noch vor den anderen auszeichnet.

IM Greet nimmt sich anschließend aus weißer Sicht der Moskau-Variante nach 3…Ld7 4.Lxd7+ Dxd7 5.c4 Sf6 6.Sc3 g6 7.d4 cxd4 8.Sxd4 Lg7 an und durchforstet das „traditionelle System“ (9.f3 gefolgt von Le3), das „moderne System“ (f3 kombiniert mit dem Rückzug Sde2) sowie die Systeme 9.h3 und 9.b3 auf der Suche nach Eröffnungsvorteil. Das moderne System ist im neuen Jahrtausend wieder aus der Mode gekommen, nachdem Ivanchuk den weißen Bemühungen mit dem Bauerndurchbruch 9.f3 O-O 10.O-O Tc8! 11.b3 d5!! (zuerst gesehen in der Begegnung Delchev – Ivanchuk, Istanbul 2003) einen heftigen Dämpfer versetzt hatte. Der Weiße muss hier eine völlige Verflachung des Spiels zulassen, will er nicht sogar selbst in Nachteil geraten. Greet untersucht verschiedene Zugumstellungen, um Ivanchuks Idee zu umgehen, kommt aber zu dem Schluss, dass jeder Ansatz seine eigenen Nachteile mit sich bringt. Ein ähnliches Schicksal hat in jüngerer Zeit das System 9.h3 erlitten, das von Agdestein in seiner Partie gegen Hracek auf der Schacholympiade in Dresden 2008 durch die genaue Zugfolge 9…Dc7! 10.b3 Da5! 11.Ld2 Sxe4! mit Abwicklung in ein ausgeglichenes Endspiel entkräftet worden ist. Im traditionellen System kann Schwarz laut Greet mit genauem Spiel auf verschiedene Weisen ausgleichen. Bleibt noch das Damenläuferfianchetto 9.b3, bei dem es sich um ein Eigengewächs des Autors handelt. Knapp sieben Seiten verwendet Greet, um dieses System dem Leser schmackhaft zu machen. Dabei bleibt er objektiv genug zuzugeben, dass Weiß auch hier nicht auf mehr als einen Minivorteil hoffen darf. Überhaupt wäre Greets Kapitel auch in einem Sizilianisch-Repertoirebuch aus schwarzer Sicht nicht negativ aufgefallen, wenn man, wie bei weniger gewissenhaften Autoren und Herausgebern nicht unüblich, aus jedem „+=“ ein „=“ gemacht hätte. Obwohl Greet eine sehr ordentliche Arbeit abgeliefert hat, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Kapitel nur deswegen Einzug in den Band gefunden hat, um die Schwarzen für Hillarp Perssons risikofreudige Behandlung der Moskau-Variante zu gewinnen.

GM Bauer behandelt aus weißer Sicht eine Reihe von Systemen, in denen der Anziehende zunächst mit 2.Sf3 einen offenen Sizilianer antäuscht, dann aber doch auf 3.d4 verzichtet. Ein vierzigseitiges Kapitel entfällt allein auf die Zugfolge 2…d6 3.Lc4. Vermutlich handelt es sich hierbei um die umfassendste Arbeit, die jemals zu dieser Eröffnung publiziert worden ist. Da Weiß für gewöhnlich mit c3 und d3 im Zentrum eher zurückhaltend agiert, gibt es im frühen Partiestadium für sizilianische Verhältnisse wenig Feindkontakt. Forcierte Varianten, mit denen Schwarz Verflachung und trockenen Ausgleich erzwingt, sucht man hier, anders als zum Beispiel in Greets Kapitel, deshalb vergebens. Andererseits wird der Nachziehende jedoch nur wenig unter Druck gesetzt und kann mit umsichtigem Spiel auf verschiedene Arten vollwertige Chancen erhalten. Trotz des etwas abstrakten Charakters des Systems hat Bauer einen sinnvollen Weg gefunden, den Komplex übersichtlich in Varianten zu gliedern. Dabei geht er vorbildlich auf die Vor- und Nachteile verschiedener Zugumstellungen ein. Dem System 2…d6 3.c3 Sf6 4.h3 haben die Herausgeber sogar drei Kapitel und insgesamt 50 Seiten zugestanden. Hier geht es etwas konkreter zu als nach 3.Lc4, da der Anziehende ziemlich bald ernsthaft droht, mit dem Zug d4 ein starkes Vollzentrum zu erobern, und der Schwarze geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen muss. Bauers Art der Präsentation ist auch in diesen Kapiteln sehr überzeugend. Auf jeweils 30 Seiten erörtert der französische Großmeister schließlich die Fragen, wie Weiß gegen 2…e6 am geschicktesten in den Königsindischen Angriff überleitet, und wie er reagieren soll, wenn der Schwarze sich nach 2… e6 3.c3 d5 4.e5 mit 4…d4 weigert, einen Vorstoßfranzosen zu spielen. Beides gelingt ihm sehr ordentlich, wobei ich allerdings im erstgenannten Kapitel einen populären schwarzen Aufbau vermisse: Nach 3.d3 Sc6 4.g3 g6 5.Lg2 Lg7 6.O-O untersucht der Autor nur 6…d5, ohne auf den Plan mit d6 und e5 einzugehen, zu welchem dem Nachziehenden in mehreren Sizilianisch- und Französisch-Repertoirewerken geraten wird. Auch wenn Bauer in allen sechs Kapiteln die weiße Seite vertritt, bleibt seine Darstellung stets erfreulich objektiv. „We could hardly hope to refute the Sicilian Defence!“ gibt er auf Seite 245 unumwunden zu, schreibt den betrachteten Systemen jedoch allemal genügend Gift zu, um den Schwarzspieler auf dem falschen Fuß zu erwischen. Da Bauer die empfohlenen Anti-Sizilianer selbst anwendet und seine Aussage damit auf Erfahrung beruht, bin ich nicht in der Position, ihm hier zu widersprechen, wage aber doch leise Zweifel anzumelden. Egal, zu welchem der schwarzen Repertoirebücher in meinem Regal ich auch greife, stets brauche ich nicht mehr als ein paar Zeilen zu lesen, um zumindest so gut vorbereitet zu sein, dass ich gegen Bauers Empfehlungen bequem aus der Eröffnung heraus kommen würde. Angesichts der Verbreitung der Bücher des Quality-Chess-Verlags muss der Anziehende sogar damit rechnen, dass sein Gegner bei der Partievorbereitung ebenfalls Bauers Kapitel studiert hat. Sofern beide Seiten sich auf die Buchvarianten verlassen, wird der Weiße aus der Eröffnung nicht viel heraus holen und muss zu diesem Zweck auch noch deutlich mehr pauken als sein Gegner, der sich ja aus vielen etwa gleichwertigen Antworten eine aussuchen kann. Natürlich sind ab einer gewissen Spielstärke eigene Analysen in der Vorbereitung unumgänglich, wozu Bauers Vorarbeit eine sehr solide Grundlage liefert. Allerdings sollte sich der Weiße dann nicht mehr der Illusion hingeben, Anti-Sizilianer seien einfach zu erlernende Systeme, mit denen man die schwarzen Theoriehengste ohne großartige Vorbereitung am Brett überspielen könne.

Ähnlich wie sein Landsmann hat sich auch GM Cornette einen Antisizilianer aus der zweiten Reihe ausgesucht, um ihn einer beispiellos gründlichen Analyse zu unterziehen. Seine acht Kapitel und mehr als 80 Seiten über die Variation 2.Sc3 Sc6 3.Lb5 des Grand-Prix-Angriffs hätten, wie im Vorwort des Bandes zurecht angemerkt, auch ohne weiteres ein eigenständiges Buch abgeben können. Im Gegensatz zu Bauers 2.Sf3 d6 3.c3 ist das weiße Spiel hier eher auf einen Königsflügelangriff als auf eine zentrale Expansionsstrategie ausgerichtet. Da der Weiße seine Figuren sehr zügig entwickelt, muss der Nachziehende sich in Acht nehmen, um nicht schon nach wenigen Zügen in eine der vielen Fallen zu tappen. Beispielsweise muss man am Brett erst einmal darauf kommen, dass nach 3…Sd4 4.Lc4 e6 5.Sge2 Sf6 6.O-O der Zug 6…d5? schon beinahe die Partie verliert: 7.exd5 exd5 8.Sxd5! Sf3+ (8…Sxd5 9.Sxd4 cxd4 10.Dh5 Le6 11.Te1) 9.Kh1! Sxd5 10.Sc3! Sofern man in diesem System von einer Hauptvariante sprechen kann, handelt es sich dabei um 6…a6 (statt 6…d5?) 7.d3!? b5 8.Lb3 Sxb3 9.axb3 Lb7 10.f4 d5 11.e5 d4 12.exf6 dxc3. Die entstandene Stellung kann sowohl über 5.Sge2 als auch über 5.Sf3 erreicht werden, und Cornette hat jeweils mehrere Kapitel geschrieben, um auf die Besonderheiten der beiden Zugfolgen einzugehen. Nach 12…dxc3 studiert er unter anderem das abenteuerliche 13.f5!?, das auf Großmeisterniveau in einer Partie zwischen zwei Spielern mit sehr prominenten Namen Premiere gefeiert hat (T. Petrosian – T. Petrosian, Batumi 2003). Nach 13…Dxf6! 14.fxe6 cxb2! mündet diese Idee in einem Figurenopfer, wofür Weiß einen gefährlichen Angriff erhält. Auf diese Variante hätte mich tatsächlich keines meines Repertoirebücher vorbereitet. Cornette gibt eine genaue, zum Remis durch Zugwiederholung führende Verteidigung an, die sich am Brett kaum finden lässt. An Stelle von 13.f5 betrachtet er auch 13.fxg7 Lxg7 14.bxc3, was in der bekannten Begegnung Tiviakov – Shirov, Wijk aan Zee 2010, zu einem drastischen Schwarzsieg geführt hat. Cornettes Verbesserungsvorschlag vermag nicht recht zu überzeugen, da sich Weiß bei strengem schwarzen Spiel lediglich mit knapper Not in ein Dauerschach retten kann. Allerdings hat die Hauptvariante des Systems keinen derart forcierten Charakter, dass nicht noch genügend Raum für eigene Ideen des Lesers bliebe. Auch in den zahlreichen Abzweigungen auf dem Weg zu Cornettes Tabiya hat der Forschende zweifellos Chancen, fündig zu werden. Wie schon bei der Diskussion von Bauers Kapitel angedeutet, wird der Weiße dann aber kaum weniger hart arbeiten müssen als wenn er sich auf den offenen Sizilianer einließe, zumal er ja auch gegen andere zweite Züge als 2…Sc6 etwas auf Lager haben muss.

Pavlovic‘ Kapitel vertritt das zu den Arbeiten von Bauer und Cornette entgegengesetzte Extrem. Auf gerade einmal sieben Seiten stellt der serbische Großmeister ein „10-Minuten-Repertoire“ gegen den altehrwürdigen geschlossenen Sizilianer vor, das auf dem Botvinnik-Aufbau 2.Sc3 Sc6 3.g3 g6 4.Lg2 Lg7 5.d3 d6 gefolgt von 6…e5 beruht. Er rechtfertigt den geringen Umfang seiner Untersuchungen damit, dass in diesem System konkrete Varianten gegenüber allgemeinen positionellen Überlegungen in den Hintergrund träten. Diese Einschätzung mag zutreffen, doch hätte man sich als Leser wohl nicht gewundert, die gleiche Aussage in einem Kapitel über die von Bauer analysierten Systeme zu finden. Allerdings macht es natürlich einen Unterschied, ob man einen Anti-Sizilianer aus schwarzer Sicht behandelt oder als Waffe gegen Sizilianisch vorschlägt. Jedenfalls erscheint Pavlovic‘ Empfehlung in seiner Knappheit zuverlässig und allemal alltagstauglich.

Wer sich als Schwarzer für ein System gegen den geschlossenen Sizilianer entscheidet, braucht ein kompatibles Repertoire gegen das verwandte 2.d3, was zahlreiche Überleitungen gestattet. Dieser Aufgabe nimmt sich GM Shaw in einem separaten Kapitel an, das ähnlich kurz und bündig geschrieben ist wie das von Pavlovic. Eigenständige Bedeutung erhält 2.d3, wenn Weiß den Damenspringer nicht nach c3 entwickelt, sondern zum Beispiel seinen Bauern auf dieses Feld stellt. Ein derartiger Aufbau ist im angelsächsischen Sprachraum als „big clamp“ bekannt und hat sich in den Händen britischer Großmeister wie McShane und Short auch gegen starke Spieler als effektive Waffe erwiesen. Shaw stellt sich als kundiger Lotse durch diese gefährlichen Gewässer heraus.

GM McNab nimmt drei Systeme unter die Lupe, die in Ftacniks The Sicilian Defence vergessen worden waren, wie auch der Autor dieser Zeilen in seiner Rezension bemängelt hatte. Diese Lücke wird nun im vorliegenden Buch überzeugend geschlossen. Auch wenn die Gewissenhaftigkeit der Quality-Chess-Mannschaft sehr erfreulich ist, werden sich Leser, die Ftacniks Buch nicht besitzen, möglicherweise fragen, was diese relativ unbedeutenden Varianten in Experts on the Anti-Sicilian zu suchen haben. Naheliegender wäre es gewesen, McNabs Analysen in der ohnehin geplanten Neuauflage des Najdorf-Repertoires unterzubringen.

Das spielstärkste Mitglied des Autorenteams, Peter Heine Nielsen, beschließt den Band mit einer knappen aber inspirierenden Untersuchung des Systems 2.b3. Der dänische Supergroßmeister bricht eine Lanze für das ehrgeizige 2…g6!? 3.Lb2 Sf6!, das den weißen Einfluss auf der langen Diagonalen auf geradezu provokante Weise ignoriert. Mit relativ geringem Gedächtnisaufwand kommt Schwarz hier zu komfortablen Spiel, wobei es in der Mehrzahl der Varianten eher der Weiße ist, der um den Ausgleich bemüht sein muss. Allerdings warten viele Anhänger des weißen Damenläuferfianchettos mit 2.Sf3 auf 2…e6, bevor sie zu 3.b3 greifen; in dieser Zugfolge kann Nielsens Empfehlung leider nicht mehr angewendet werden. Quality Chess brüstet sich gerne damit, dass die Eröffnungsbücher des Verlags sogar von Weltklassegroßmeistern gelesen werden. Tatsächlich habe ich beim kürzlich beendeten Fide World Cup in Chanty-Mansijsk die Begegnung Kabanov – Navara über das Internet live verfolgen dürfen, in der der Weiße nach 1.e4 c5 2.b3 g6 3.Lb2 Sf6 4.e5 Sd5 das von Nielsen nicht erwähnte 5.Df3 ausgepackt hat, nach der starken Erwiderung 5…Sb4! jedoch bereits frühzeitig auf Abwege geraten ist und die Partie folgerichtig verloren hat.

FAZIT

Es steht zu erwarten, dass Experts on the Anti-Sicilian ebenso in den Rang eines Standardwerks aufsteigen wird wie Experts vs. the Sicilian. Bei unterschiedlichen Zielsetzungen und Umfängen ihrer Beiträge sind alle Autoren dieser Gemeinschaftsarbeit dem hohen Anspruch gerecht geworden, den Herausgeber wie Kunden an die Bücher aus dem Quality-Chess-Verlag stellen. Auch wenn die Stoffauswahl natürlich Geschmackssache bleibt, ist das Angebot so groß, dass sich die Anschaffung für jeden schwarzen und viele weiße Sizilianischspieler lohnen dürfte.