KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
WENN DER IGEL SEINE STACHELN ZEIGT …
von Markus Koch
Sergey Shipov
The Complete Hedgehog, Vol. 2,
Mangoose: 2011, kartoniert, 584 S.,
24,95 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Schachspieler sind bekanntermaßen eigenwillige, bisweilen gar wunderliche Menschen. Vielen von uns gelingt es nicht einmal, an einem Schachbuch vorbeizugehen, ohne es zu kaufen. Von Fußballern im Sportgeschäft ist mir ein derartiges Verhalten nicht bekannt. Von diesem Phänomen profitieren wenige mutige Kleinstunternehmer, die Wochenende für Wochenende von Turnier zu Turnier tingeln, um ihr Produktsortiment auszustellen. Der Schachspieler ist jedoch ein dankbarer Konsument. Von der Hoffnung getrieben, durch den reinen Erwerb eines guten Schachbuchs seine Spielstärke (idealerweise) kurzfristig steigern zu können, wächst der Teil des Bücherschranks, der dem Schach reserviert ist, über die Zeit munter an. Dies führt üblicherweise zu periodisch auftretenden radikalen Aufräumarbeiten – entweder aufgrund von reinem Platzmangel oder Unmut der Partnerin. Vor gut fünf Jahren war es bei mir soweit, mittlerweile ist das Regal aber schon wieder voll. Das ursprüngliche Ziel, die Verbesserung der Spielstärke, wurde dabei leider nur ansatzweise erreicht. Vor dem Kauf eines Schachbuchs sollte man sich daher ernsthaft fragen, ob man bereit ist, Zeit in das Studium der Lektüre zu investieren. Im nächsten Schritt ist ein Schachbuch zu identifizieren, welches wirklich geeignet ist, einen Spieler weiter zu entwickeln.
Kann Sergey Shipovs The Complete Hedgehog (Vol. 1 +2) da weiterhelfen? Die Antwort ist ein klares „it depends“
Grundsätzliches: Nach dem 532-seitigen ersten Band, der 2009 veröffentlicht wurde, und in dem die klassische Variante mit 7.cxd4 und das derzeit recht populäre 7.Te1-System behandelt werden, gibt es nun druckfrische 584 Seiten zu sämtlichen Igel-Ideen, bei denen der weiße Bauer auf dem Feld f3 Platz nimmt (Teil 1) und Systemen, in denen der weißfeldrige Läufer die Diagonale b1-h7 in Beschlag nimmt (Teil 2). Teil 3 widmet sich damenindischen Igel-Aufbauten bei Rochaden auf unterschiedlichen Flügeln. Das macht zusammen 1116 Seiten Igel! Die Herangehensweise im zweiten Band ähnelt der im ersten. In Teil 1 präsentiert Shipov den „Canonical Piece Set-up“, gefolgt von typischen Plänen des Schwarzen wie bspw. dem Sämisch-Manöver (Überführung des schwarzfeldrigen Läufers von e7 nach d8) oder dem Fischer-Plan (Kh8, Tg8 und g5!). In der Folge werden aktive Pläne für Weiß vorgestellt, bspw. Druckausübung auf den d6-Bauern oder der Bauernsturm am Königsflügel. In Teil 2 und 3 werden erneut die Grundideen aufgezeigt und einzelne Pläne für beide Seiten vorgestellt.
Was macht beide Bücher so besonders?
Shipov versucht nicht dem Leser eine konkrete Zugfolge einzuhämmern, sondern ein grundlegendes Verständnis der Pläne beider Seiten aufzuzeigen. Da sich diese über Jahrzehnte entwickelt haben, scheut er sich nicht, eine Vielzahl älterer, extrem hochwertig kommentierter Partien zu präsentieren. Positiv ist in diesem Zusammenhang, dass die Partien nicht irgendwo im Übergang zum Endspiel enden, sondern i.d.R. bis zum bitteren Ende kommentiert werden. Als Leser kann man somit verfolgen, wie man strukturell / strategisch überlegene Stellungen spielt – etwas, das in vielen aktuellen Eröffnungsbüchern gänzlich fehlt und zu lustigen Zügen nach Ende der ‚aktuellen Theoerie‘ in der Spielpraxis führt. Hinzu kommen die zum Teil recht gelungenen Kommentare des Autoren, die mich hier und da zum Schmunzeln gebracht haben.
Problematisch ist es, den richtigen Adressaten für dieses Buch zu finden. Für ambitionierte Vereinsspieler, die sich erstmals mit dem Igel befassen wollen, ist das Buch m.E. leider ungeeignet. 1116 Seiten für ein Eröffnung, der Weiß im Zweifel durch geschickte Zugfolge ausweichen kann, sind ein verdammt hartes Brot. Da gibt es sicherlich andere Bücher, die für eine erste Igelbekanntschaft besser geeignet sind. Für all jene, die den Igel aber bereits in Ihr Repertoire aufgenommen haben und sich dort weiter verbessern wollen, wird sich das Buch als wahre Goldgrube erweisen. Und dies gilt für Spieler jeglicher Spielstärke!
FAZIT
Ein unglaublich gutes Buch, welches aufgrund seiner Tiefe und seines Umfangs aber nur für all jene empfehlenswert ist, die den Igel bereits aktiv einsetzen oder fest entschlossen sind, dies in Zukunft zu tun, und dabei nach der bestmöglichen Lektüre zu diesem System suchen.