KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
FUNDGRUBE MIT LÜCKEN
von FM Harry Schaack
Michael Ehn, Hugo Kastner,
Alles über Schach.
Mythen, Kuriositäten, Superlative.
Humboldt Verlag, Hannover 2010,
über 200 farbige Abbildungen, 464 S.,
19,95 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Humboldt Verlag zur Verfügung gestellt.)
In der Freizeit und Hobby-Sparte des Humbold Verlags sind mittlerweile eine Reihe von Schachbüchern erschienen. Das neuste hat den anspruchsvollen Titel Alles über Schach. Die Autoren Michael Ehn und Hugo Kastner müssen an der Erfüllung dieses Coverversprechens natürlich scheitern, denn auch 464 Seiten reichen bei Weitem nicht aus, dieses Spiel mit all seinen Facetten umfassend darzustellen. Trotzdem ist das Werk ein Kompendium, das die 64 Felder durch eine reiche Auswahl an Beispielen von allen Seiten beleuchtet. Die Autoren bringen viele Fakten, Anekdoten und wissenschaftliche Erkenntnisse zusammen, die teils wenig bekannt sind.
Das Buch zerfällt in sechs Teile. „Geschichte & Mythos“ fasst die Erkenntnisse über den Ursprung des Schachspiels zusammen, beschäftigt sich mit der Etymologie der Schachfiguren oder gibt die Entwicklung der Computer wieder. „Meister & Amateur“ spekuliert über den besten Schachspieler der Geschichte und zählt Rekorde auf. „Partie & Turnier“ zeigt eine Auswahl der besten Partien und Kuriositäten auf den 64 Feldern. „Kunst & Literatur“ behandelt Kino, Musik, Duchamp und Sammler. Fast 100 Seiten sind dem Bereich „Problem & Studie“ gewidmet, mit allen Formen über Märchenschach, Retro bis zum legendären Jahrhundertproblem, dem Babson-Task. Im Teil „Rösselsprünge & Rochaden“ ist all das viele untergebracht, das in den anderen Bereichen keinen Platz mehr hatte.
Die einzelnen Bereiche werden mal chronologisch, mal thematisch aufbereitet. Zu vielen Aspekten haben die Autoren Rankings erstellt: Wer war der beste Weltmeister der Geschichte? Welche Partie ist die schönste? Was waren die besten Bücher zum Thema Schach? Diese Rankings sind naturgemäß subjektiv, aber sie geben eine gute Orientierung.
Bei genauerer Betrachtung erscheint es allerdings so, als sei Alles über Schach eine erweiterte Neuauflage von Kastners schon 2008 im selben Verlag erschienenem Buch Das große Humboldt Schach Sammelsurium. Ein Vergleich zeigt, dass viele Einzelfakten nur wenig umformuliert nun ein zweites Mal dargeboten werden.
Einige wichtige Daten wird der Leser vermissen. So sucht man den Namen Hort zum Thema Blindschach vergeblich, obwohl der Tscheche einer der berühmtesten Vertreter dieser Disziplin ist.
Bei den längsten Strecken ohne Verlust im professionellen Schach ist zwar Mihail Tals erste Serie von 86 Partien ohne Niederlage (1972/73) zu finden, die zweite, die in den Jahren 1973-74 mit 95 Partien noch länger dauerte, jedoch nicht. Ebenso fehlen die sehr langen Spannen, die Kramnik (86 Partien) und Wang Yue (85 Partien) ungeschlagen blieben.
Während die Autoren Vieles in gebührender Breite erörtern, beträgt der Eintrag zu Fernschach lediglich zwei Seiten. Sogar auf die Auflistung aller Weltmeister wird verzichtet. Im Vergleich dazu nimmt das Problemschach üppige hundert Seiten ein.
Unter „Sportler und Spieler“, die dem Schach zugeneigt sind, wird zwar der neue deutsche Fußballstar Özil – übrigens mit falschem Vornamen – genannt, Magath oder auch Klitschko, die zu vielen Schachveranstaltungen wie z.B. auch der Schacholympiade in Dresden geladen waren, bleiben unerwähnt. Bei den schachbegeisterten Politikern wird zwar der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker genannt, Altbundeskanzler Helmut Schmidt dagegen nicht.
Und leider werden bei den besten Partien aller Zeiten jüngste Glanzlichter wie etwa Aronian – Anand, Linares 2007, nicht berücksichtigt. Auch beim Ranking „phantastischer Zugperlen“ hätte man sich Topalows spektakuläres Springeropfer im 12. Zug gegen Kramnik, Wijk aan Zee 2008, gewünscht, das es sogar auf das Titelblatt der FAZ brachte. Auch Vachier-Lagraves grandiose Verteidigung gegen Morosewitsch in Biel 2009, eine der aufsehenerregendsten Partien der letzten Jahre, hätte eine Erwähnung verdient gehabt. Vor allem aber fehlt Schirows wundervoller studienartiger Gewinnzug Lh3 im ungleichfarbigen Läuferendspiel gegen Topalow, Linares 1998, was eigentlich unverzeihlich ist.
Neben diesen Nichterwähnungen haben sich auch einige Fehler eingeschlichen, manche davon sind etwas seltsam. Der Turiner Olympiasieger Armenien von 2006 wird als Bronzemedaillen-Gewinner aufgeführt. Und unter der „kürzesten Partien bei Weltmeisterschaften“ findet man mit 0 Zügen Fischers kampflose Niederlage gegen Spasski, Reykjavik 1972, Kramniks ebenfalls kampflosen Verlust bei der WM 2006 gegen Topalow allerdings nicht.
Zwar muss man den Autoren zugute halten, dass sie einige weniger bekannte Partien präsentieren, die zweifellos der Veröffentlichung würdig sind. Aber man hat insgesamt den Eindruck, dass die jüngere Schachgeschichte unzureichend abgebildet ist – insbesondere wenn es um Partienrankings geht, wo die „neueste“ Partie aus dem Jahre 1999 stammt.
Etwas bedauerlich ist auch das fehlende Namens- und Stichwortverzeichnis, welches ein gezieltes Suchen erleichtert hätte.
Die zahlreichen Fotos und Abbildungen sind dagegen alleine den Kauf des Buches wert. Teilnehmerfotos wichtiger Turniere, Porträts vieler bedeutender Spieler, historische Postkarten, Briefmarken, Schachspiele, Kinoplakate, u.v.m. bilden den Reichtum der Schachwelt auch optisch ab. Trotz der genannten Einschränkungen ist Alles über Schach eine Fundgrube für diejenigen, die sich umfassend für die Vielfalt des Schachs interessiert. Kurz: Ein Nachschlagewerk, in dem sich intensiv und mit viel Gewinn stöbern lässt.