KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
EIN GUTES BUCH IN FALSCHEM GEWAND
Von FM Uwe Kersten
Neil McDonald,
Starting out: 1.e4!
a reliable repertoire for the improving player,
Everyman Chess 2006, 200 Seiten,
21.85 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Während in den bisherigen „starting out“ – Büchern zumeist nur eine Eröffnung oder in eine überschaubare Anzahl verwandter Systeme eingeführt wurde, wagt der englische Großmeister Neil McDonald hier den Versuch, ein „zuverlässiges“ (reliable) Repertoire nach 1.e4 vorzustellen. Da ihm hierzu offensichtlich nur 200 Seiten zur Verfügung standen, ist von vorne herein klar, dass er bezüglich Tiefe und Ausführlichkeit nicht in Konkurrenz treten kann mit Khalifmans Werk über Anands Weißrepertoire, was sich bekanntlich über 10 Bände erstrecken wird. Dies wird umso mehr deutlich, wenn man einen Blick ins Inhaltsverzeichnis riskiert:
- 005 Introduction
- 007 Open Games
007 1 e4 e5 - 048 The Sicilian
048 2 Sicilian: Introduction and Classical
058 3 Sicilian Scheveningen
069 4 Sicilian Najdorf
081 5 Sicilian Dragon
094 6 Sicilian Sveshnikov (and Kalashnikov)
108 7 Sicilian Taimanov (and other variations) - 125 Black’s Other Defences
125 8 Alekhine’s Defence
134 9 Caro-Kann Defence
146 10 Scandinavian (and 1…Nc6)
161 11 Pirc and other Fianchetto Defences
173 12 French Defence - 194 Index of Variations
- 199 Index of Complete Games
McDonald empfiehlt den “Offenen Sizilianer”, Schottisch gegen 1…e5, den Panov-Angriff gegen Caro-Kann und die Tarrasch Variante (3.Sd2) gegen Französisch, also durchweg theorielastige Hauptsysteme. Wie schafft er es dann, auf so wenigen Seiten ein „zuverlässiges“ Repertoire zu präsentieren? Die Antwort ist einfach: “Gar nicht!“ Es ist in meinen Augen schier unmöglich, in derartiger Kürze den selbst gestellten Anforderungen gerecht zu werden.
Dennoch und dies möchte ich betonen, legt McDonald eigentlich ein gutes Werk vor, nur werden dem Leser etwas zu rosige / verkaufsfördernde Versprechungen gemacht. In Wahrheit liefert der Autor gut ausgewählte Beispielpartien zu den vorgestellten Eröffnungssystemen, was einen Einstieg ermöglicht. Man bekommt einen ersten Eindruck der verschiedenen Varianten und kann mit weiterführender Literatur gut darauf aufbauen, wenn einem die Stellungstypen zusagen. Die Partien sind fachmännisch kommentiert, auch wenn der Weiße über die Gebühr gut weg kommt.
Doch ein „zuverlässiges“ Repertoire liefert das Buch nicht – zu groß sind die Lücken. Wenn man mit 200 Seiten ein „zuverlässiges“ Weißrepertoire abdecken will, muss man auf Nebensysteme ausweichen, was der Autor aber – wie er im Vorwort darlegt – gerade nicht wollte, selbst die Wahl von Schottisch anstatt Spanisch sieht er schon als Kompromiss an!
FAZIT
Wer ein Repertoire zu 1.e4 (neu) aufbauen will, findet hier ein erstes Grundgerüst. Die Auswahl der Eröffnungssysteme ist anspruchsvoll und ausbaufähig, es werden keine Trickvarianten oder unsolide Systeme empfohlen. Wer allerdings etwas mehr Tiefgang verlangt, ist auf weitere Quellen – Spezialliteratur, ChessBase, usw. – angewiesen.