KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

SAKAEVS NEUES GRÜNFELD-STANDARDWERK

Von FM Wilhelm Schlemermeyer

Sakaev 7.Bc4 Gruenfeld Cover

Konstantin Sakaev,
An Expert’s Guide to the 7.Bc4 Gruenfeld,
Sofia (Chess Stars) 2006,
broschiert, 426 Seiten,
28,95 €

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Konstantin Sakaev ist ein russischer Großmeister mit einer aktuellen Elozahl von 2640. In der Bundesliga spielt er für die SG Köln-Porz. Für einen Autor von Eröffnungsbüchern ist Sakaev ein bemerkenswert starker Spieler. Schließlich stammt die Masse der Eröffnungsliteratur aus der Feder deutlich schwächerer Spieler. Sakaev genießt den Ruf eines ausgezeichneten Theoretikers und schreibt zudem über Eröffnungen, die er selbst regelmäßig anwendet. Meines Wissens ist Expert’s Guide, wie ich den besprochenen Titel abkürzen möchte, sein viertes Buch. Seit 2004 sind bei Chess Stars bereits Monografien über das Angenommene Damengambit, Semislawisch und Grünfeldindisch erschienen, sämtlich exzellente Bücher. Bei How to get the Edge against the Gruenfeld (2004) handelt es sich sogar um einen direkten Vorgänger, der sich ebenfalls ausschließlich mit der Abtauschvariante mit 7.Lc4 befasst. Dazu gleich noch mehr. Nach dem Gesagten dürfen wir aber schon jetzt eine hochklassige Monografie über eine der Hauptvarianten der Grünfeldindischen Verteidigung erwarten. Und diese Erwartungen werden nicht enttäuscht. Schon vorweg: Sakaevs Expert’s Guide ist das neue Standardwerk zum Thema und wird es auch wohl bis zu einer Neuauflage auch bleiben. Wer diese Variante mit Weiß oder Schwarz spielt, kommt um dieses Buch kaum herum.

Zur Einordnung der Grünfeldindischen Eröffnung. Es gibt einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den beiden weißen Haupteröffnungszügen 1.e4 und 1.d4. Nach 1.e4 ergeben sich regelmäßig Zentrumsformationen, in denen der Nachziehende die Bauernmehrheit im Zentrum bekommt. Das liegt daran, dass z.B. bei Französisch, Caro-Kann oder Sizilianisch die weißen Bauern e4 und d4 mittels d5 und c5 abgetauscht werden, während der schwarze e-Bauer auf dem Brett bleibt. Die weiße Kompensation besteht zumeist in aktiverer Figurenstellung und Initiative. Dagegen ergeben sich 1.d4 regelmäßig Zentrumsformationen, in denen der Anziehende die Bauernmehrheit im Zentrum bekommt. Das liegt daran, dass der e-Bauer zunächst zurückgehalten und z.B. beim Damengambit oder Nimzoindisch mittels c4 einer der schwarzen Mittelbauern abgetauscht wird. Mindestens gerät der Anziehende im Zentrum nicht in Bauernnachteil.

So gesehen packt Grünfeldindisch den Stier des Eröffnungsproblems gewissermaßen bei den Hörnern. Denn mit der Zugfolge 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 macht Schwarz dem Weißen das Angebot, mittels 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 oder 4.Sf3 Lg7 5.Db3 dxc4 6.Dxc4 ein mobiles Bauernzentrum zu bilden. Dabei entstehen im ersten Abspiel Felderschwächen auf der c-Linie (c3 und c4), die der Anziehende im zweiten für den Preis einiger Damenzüge vermeidet. In jedem Fall bekommt der Nachziehende aktives Figurenspiel und Hebelmöglichkeiten (c5, e5, f5) gegen das weiße Zentrum. Meines Erachtens ist Grünfeldindisch eine ganz prinzipielle Spielweise gegen 1.d4, weil sie sich bewusst gegen dessen Stärke, die Zentrumsfundierung wendet. Sie lässt eine weiße Bauernmehrheit im Zentrum nicht nur zu, sondern provoziert sie geradezu. Nimmt der Anziehende dieses Angebot nicht an, kann Schwarz mittels c5 den weißen Bauern auf d4 beseitigen und kommt zu einer im Vergleich z.B. zum Damengambit aktiveren Figurenstellung.

Wegen ihres prinzipiellen Charakters stellt Grünfeldindisch theoretisch eine ganz besondere Herausforderung für die d4-Eröffnungskonzeption dar. Wie die relativ schlechten Ergebnisse von Kasparow in seinen Wettkämpfen gegen Karpow und Kramnik gezeigt haben, ist Grünfeldindisch praktisch aber auch mit einigen Risiken verbunden. Das liegt daran, dass der Nachziehende an vergleichsweise vielen Fronten, d.h. in vielen Varianten ganz konkrete Probleme zu lösen hat. Dies erfordert vom Schwarzen nicht nur ein gutes Gedächtnis, sondern auch eine umfangreiche Vorbereitung. Es ist zwar immer gut auf der Höhe der theoretischen Entwicklung zu sein – oder besser noch: etwas voraus, aber für Grünfeld-Spieler ist es geradezu lebenswichtig. Zumindest gilt dies auf dem Niveau der Super-GMs. Für Normalsterbliche hat Jonathan Rowson in seinem „Understanding the Grünfeld“ 1999 den Versuch unternommen, sozusagen ein Handbuch der Grünfeld-Ideen zu verfassen. Wie auch immer: Trotz aller Risiken handelt es sich um eine faszinierende Eröffnung.

Nun aber wieder zu Sakaev. Wenn es in seiner Monografie auch ausschließlich nur um die Abtauschvariante mit 7.Lc4 geht, so handelt es sich doch um eines der drei kritischen Abspiele der Grünfeldindischen Verteidigung. Die anderen beiden sind die Abtauschvariante mit 7.Sf3 und das Russische System mit 5.Db3. Dass Sakaev bei diesem fundamental wichtigen Thema als Anwalt der weißen Seite auftritt, nützt der Sache eher als es schadet. Denn in seinem Bemühen, die für Schwarz gefährlichsten weißen Möglichkeiten aufzuspüren, wird er als Forscher tätig und geht über das bloße Zitieren bekannter Partien und Analysen weit hinaus. Dass er nach meinem Eindruck dabei gelegentlich schwarze Verteidigungen außer Acht lässt und vorschnell weißen Vorteil verkündet, ist meines Erachtens durchaus verzeihlich. Zum Schluss möchte ich an einigen Beispielen zeigen, wie weit Sakaev die Untersuchung treibt.

Wie oben schon angedeutet, ist nach dem Schlagen auf c3 das Feld c4 die Achillesferse der Abtauschvariante. Dass Weiß seinen Königsläufer trotzdem gerade auf dieses Feld entwickelt, ist deshalb etwas überraschend. Doch wenn der Königsspringer, um die Fesselung durch Lg4 zu vermeiden, nach e2 gehen soll, gibt es kein besseres Feld. Bei der wichtigsten schwarzen Verteidigung in diesem System geht es denn auch um die Beherrschung von c4. Sie entsteht nach den Zügen (1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 Lg7 7.Lc4) c5 8.Se2 Sc6 9.Le3 0-0 10.0-0 Lg4 11.f3 Sa5

Spielt der Anziehende nun einfach 12.Ld3 cxd4 13.cxd4 Le6 14.Da4, antwortet Schwarz 14.-a6 15.Tac1 b5 und kommt dank der Besetzung des Feldes c4 zu gutem Spiel. Will Weiß in dieser Variante etwas erreichen, muss er entweder mittels 14.d5 Lxa1 oder 14.Tc1 Lxa2 Material opfern oder selbst schon mit 12.Lxf7 einen Bauern gewinnen. Immer kommt es in der Folge zu sehr forciertem Spiel, so dass die Theorie inzwischen sehr weit reicht. Ein Vergleich: Jonathan Rowson behandelt diese Varianten in seinem Understanding the Grünfeld auf 17 Seiten. Jacob Aagaard nimmt sich in Starting out: the Grünfeld immerhin 30 Seiten Raum. In Konstantin Sakaevs Vorgängerbuch How to get the Edge against the Gruenfeld entfallen 99 der insgesamt 166 Seiten darauf. Und in Expert’s Guide sind es nun 202 von 426 eng bedruckten Seiten. Dies liegt zum Teil daran, dass Sakaev die von ihm behandelten Abspiele in der Breite erweitert hat. Aber es gibt auch eine beeindruckende Vertiefung der alten Analysen.

Ein Beispiel: In der so genannten Sevilla-Variante 12.Lxf7 Txf7 13.fxg4 Txf1 14.Kxf1 gilt 14.-cxd4 15.cxd4 e5 als solide für Schwarz. Sakaev geht bei seinen Betrachtungen erheblich über das gegebene Partienmaterial hinaus und versucht, in vielen Varianten durch kleine Präzisierungen doch noch etwas für Weiß herauszuholen. Eine andere gute Fortsetzung für Schwarz ist 14.-Dd6 15.e5 Dd5, wie Kasparow schon 1987 gegen Karpow spielte.

Hier analysiert Sakaev z.B. nach 16.Lf2 Td8 17.Da4 b6 die von Nielsen 2005 gewählte neue Fortsetzung 18.Sf4 Df7 19.Sh3 De6 20.g5 und verbessert hier das schwarze Spiel durch 20.-Dc6, was zu Ausgleich führen soll. Seine Einschätzung belegt er durch Analysen, die eine halbe Seite füllen. Die passive Springerstellung kann ihn für Weiß nicht überzeugen. Für erfolgversprechender hält Sakaev die Fortsetzung 16.g5 De4 17.Lf2 Tf8 18.Sg1 Sc4 19.Sf3 Se3 20.Lxe3 Dxe3 21.Db3 Kh8 22.Te1 Dxg5 23.Dxb7 Dd2 24.Dxe7 Dxc3, was schon einige Male gespielt und auch analysiert wurde. In einer Partie Onischuk – Grischuk folgte 25.Db7 Dc4 26.Kg1 Dc3 27.De4 cxd4, wonach Krasenkow den Zug 28.e6 erwähnt. Diesen Hinweis nimmt Sakaev auf und analysiert die möglichen Fortsetzungen auf einer ganzen Seite und kommt zu dem Ergebnis, dass Weiß zumindest einige Chancen bekommt. Auf 28.-d3 gibt er die Variante 29.Td1 Td8 30.e7 Te8 31.Txd3 Da1 32.Kf2 Dxa2 33.Kg3 mit klarem weißen Vorteil an. Dies ist nur eine Variante aus einem umfangreichen Geflecht. Mir scheint, dass Schwarz hier mit 32.-Db2 an Stelle von 32.-Dxa2 ein sicheres Remis hat, aber das tut nichts zur Sache. Wer mit Büchern wie dem von Sakaev arbeitet, darf sich nie auf die Einschätzungen verlassen, sondern muss sich selbst sein Urteil bilden. Expert’s Guide bildet dafür allerdings eine hervorragende Grundlage.

Die eben angeführten Abspiele sind mehr oder weniger willkürlich gewählt. Sie zeigen aber sowohl die Herangehensweise von Sakaev als auch die Verpflichtungen, welche Grünfeldindisch für den Nachziehenden mit sich bringt. Die Varianten sind sehr konkret und reichen sehr weit. So war ich z.B. überrascht und gleichzeitig auch nicht, als ich beim Durchblättern des Buches bemerkte, dass die Hauptvariante einer meiner Analysen aus 2003 zum so genannten Sokolsky-Angriff tatsächlich bis zum 37.Zug 2004 in einer russischen Partie gespielt wurde und nun theoretisch als Remis gilt. Für Spieler, die es mit Rowson eher mit Ideen als mit langen forcierten Varianten halten, ist es vielleicht angeraten, auf die Hauptvariante mit 10.-Lg4 und 11.-Sa5 zu verzichten und es mit einer eher ruhigen Nebenvariante zu probieren. Eine noch recht unerforschte Möglichkeit ist z.B. das Abspiel 10.-Ld7 11.Tb1 Dc7, das bei Sakaev 2004 in „How to get the Edge against the Gruenfeld“ nur in einer Fußnote vorkommt, 2006 in „Expert’s Guide“ aber schon ein eigenes Kapitel mit zwei Seiten Analyse umfasst.

FAZIT

Konstantin Sakaevs An Expert’s Guide to the 7.Bc4 Gruenfeld trägt seinen Titel zu Recht und ist eine hervorragende Monografie über ein theoretisch bedeutsames Eröffnungssystem. Ergänzt wird das Buch durch eine Sammlung von 20 im Informatorstil kommentierten Beispielpartien, darunter auch Klassiker wie Spassky-Fischer, Santa Monica 1966. Register, Literaturverzeichnis oder Quellenangaben der verwendeten Analysen anderer Autoren sucht man allerdings vergebens.