KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
EIN MAMMUTPROJEKT
Von FM Uwe Kersten
Alexander Khalifman,
Opening for White according to Anand 1.e4, Band 6 & 7,
paperback, 345 bzw. 280 Seiten,
Chess Star Openings 2006,
jeweils 23,50 €
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Unter der Federführung von Alexander Khalifman, seines Zeichens 14. Schachweltmeister der Fide, beschäftigen sich die Bände 6 und 7 der Chess Star Opening Reihe über Anand auf zusammen über 500 Seiten mit dem Repertoire des genialen Inders gegen die Französische-Verteidigung. Natürlich werden nicht nur seine eigenen Partien berücksichtigt, aber sie bilden das theoretische Grundgerüst der Variantenauswahl. Zur Übersicht zunächst ein kurzer Blick auf die anderen Bände dieser Eröffnungsserie, welche ein komplettes Repertoire nach 1.e4 zum Ziel hat:
- Band 1: Lettisch, Philidor, Russisch und Spanisch ohne 3…a6
- Band 2: Spanisch mit 3…a6
- Band 3: Caro-Kann und Skandinavisch
- Band 4: Pirc und Moderne Verteidigung
- Band 5: Aljechin, 1…b6, 1…Sc6 und andere seltene Fortsetzungen
- Band 8-10: (noch nicht erschienen, soll die Sizilianische Verteidigung aus weißer Sicht behandeln)
Wie schon in den Bänden zuvor stehen auch beim Repertoire gegen Französisch die kritischen Hauptvarianten auf der Tagesordnung. Dies ist die natürliche Konsequenz, wenn man das Repertoire eines Weltklassespielers wie Anand als Grundlage nimmt. Es werden im Prinzip alle schwarzen Abweichungen behandelt, sodass der Weißspieler ein praktisch wasserdichtes Repertoire gegen Französisch erhält. Doch der unbestreitbare Vorteil dieses sehr guten Referenzwerkes – seine große Ausführlichkeit – ist nach meiner Meinung auch sein größter Nachteil. Welcher Nicht-Schachprofi hat schon Zeit und Lust sich über 500 Seiten Eröffnungstheorie anzueignen? Als Grundlage für einen Fernschachspieler – mit der Möglichkeit zum Nachschlagen – sicherlich ideal, aber für den gemeinen Turnierspieler bleibt die vorliegende Arbeit schwer verdaulich. Um nicht missverstanden zu werden, die Analysen, welche teilweise bis ins Endspiel hinein gehen, und ausführlichen Erläuterungen sind qualitativ hochwertig, allein die große Masse droht den geneigten Leser zu erschlagen. Ein gutes Eröffnungsbuch sollte auch immer als Kompass dienen, um sich besser orientieren zu können. Hier wurde für meinen Geschmack einfach zu viel hineingepackt und so versäumt, die Spreu vom Weizen zu trennen – MegaBase & Co sind hier die verantwortlichen Verführer dieses Auswuchses. Der Leser muss also noch selber selektieren, will er nicht in der Fülle des dargebotenen Materials untergehen.
Inhaltlich behandelt Band 6 alle Varianten nach 1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3, außer den Zug 3…Lb4, dem der 7. Band gewidmet ist. Die einzelnen Abspiele werden in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit bzw. Güte abgehandelt, wobei die kritischen Fortsetzungen immer am Ende stehen. In Teil 1 geht Band 6 auf Seltenes im 3. Zug von Schwarz ein, wobei hier nicht weniger als 9(!) unterschiedliche Züge untersucht werden, bevor man sich mit 3…Sc6 der wichtigsten Nebenvariante zuwendet. Teil 2 ist dann dem Rubinsteinsystem (3…dxe4) gewidmet, während im 3. Hauptteil ausführlich die Steinitzvariante (3…Sf6 4.e5 Sfd7 5.f4 c5 6.Sf3 Sc6 7.Le3 usw.) mit ihren Abweichungen analysiert wird.
Band 7 orientiert sich mit 3…Lb4 4.e5 c5 5.a3 Lxc3 6.bxc3 Se7 7.Dg4 ebenfalls an einer kritischen Hauptvariante. Selbstverständlich werden auch hier wieder alle Abweichungen ausführlich analysiert und egal, ob der Schwarze nun zu dem scharfen Bauernopfer 7…Dc7 oder dem moderneren 7…0-0 greift, eine über 130 Seiten lange Darstellung sollte kaum eine Frage offen lassen.
FAZIT
Wer schon immer von einem wirklich kompletten Weißrepertoire gegen Französisch geträumt hat, der kommt mit dem Kauf dieser beiden Bände seinem Traum sehr nahe. Umfassende Variantenangabe, lehrreiche Kommentare und ein hoch qualifizierter Autor lassen das vorliegende Werk wie das perfekte Eröffnungskompendium erscheinen.
Wenn man allerdings bedenkt, dass das Gesamtwerk über Anand’s Eröffnungen wohl deutlich über 2000(!) Seiten umfassen wird, dürfte schnell klar werden, dass es für jeden Normalsterblichen unmöglich sein wird, die Fülle des vorgegebenen Materials auch nur ansatzweise zu memorieren, sodass der praktische Nutzen eingeschränkt ist. Trotz dieser Einschränkung, wenn man sie überhaupt als solche empfindet, bin ich der Meinung, dass jeder einzelne Band der Eröffnungsserie über Anand in die heimische Schachbibliothek gehört, da insgesamt die Vorzüge dieses Mammutprojekts überwiegen!