KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

SCHACH EINFACH GEMACHT

Siegbert Tarraschs „Die Moderne Schachpartie“

Von FM Johannes Fischer

Tarrasch Moderne Schachpartie Cover

Siegbert Tarrasch,
Die Moderne Schachpartie,
Mit eröffnungstheoretischen Anmerkungen hrsg. von Rudolf Teschner.
Olms-Verlag, 2003,
ca. 29,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Streng schaut er, der Herr Dr. Tarrasch. Aber womöglich existiert diese Strenge nur im Auge des Betrachters. Die Schachwelt hat sich angewöhnt, Dr. Tarrasch als veralteten Dogmatiker abzutun, seine berühmten Lehrsätze wie „Tempo verloren, Partie verloren“, „Springer am Rande ist eine Schande“ oder „Türme gehören hinter die Freibauern“ wurden schon so oft zitiert, dass sie eigentlich nur noch zur Parodie taugen und Tarraschs lateinischer Ehrentitel Praeceptor Germaniae wirkt heute altmodisch und pompös – kein Zweifel, der einst so populäre Schachautor hat viel von seinem Nimbus eingebüsst.

Aber ein Blick in die Neuauflage von Tarraschs Klassiker Die Moderne Schachpartie zeigt, dass diese Geringschätzung mindestens so dogmatisch ist wie die Urteile des Meisters – und weniger fundiert. Dieses 1916 zuerst veröffentlichte Buch enthält 224, nach Eröffnungen geordnete, Partien aus den Jahren 1903 bis 1913, die Tarrasch, wie er im Vorwort schreibt, alle „zum Gegenstand eines tiefen Studiums gemacht [hat], dessen Resultate ich den Lesern unterbreite, so dass ihnen mühelos das volle Verständnis der Partie erschlossen wird (S.16)“. Dieser Anspruch, die Geheimnisse des Schachs zu erläutern, ohne dem Leser Mühe zu machen, zeigt wie großartig und wie vermessen der Schachlehrer Tarrasch war.

Denn dieser Ansatz führt zwangsläufig zu Vereinfachungen. Was viel Gutes hat, wie Tarrasch weiß: „Ich abstrahiere meist vom speziellen Fall auf das Allgemeine und stelle eine Reihe von Grundsätzen und Lehrsätzen auf, deren Kenntnis die Sicherheit der Spielführung ungemein fördert (S.17)“. Dass diese Lehrsätze längst schachliches Allgemeingut geworden sind, ist kein Wunder, denn Tarrasch schreibt pointiert, witzig und unterhaltsam. Die folgende Partie demonstriert die Vorzüge der Kommentare Tarraschs.

TARTAKOWER – SPIELMANN
Wien 1910

1.f4 d5 2.Sf3 Sf6 3.e3 e6 4.b3 c5 5.Lb2 Sc6

Tarraschs Anmerkung bringt das Problem der weißen Stellung – ja, des weißen Eröffnungssystems insgesamt – auf den Punkt: „Schablonenhafte Entwicklung, die das schwierige Spiel des Anziehenden erleichtert. Weiß ist in dieser Eröffnung in Verlegenheit, wohin er seinen Königsläufer entwickeln soll. Auf e2 steht er nicht aggressiv genug und nimmt außerdem der Dame das Feld e2 weg, das für sie zur Deckung des Be3 gegen den Angriff Sg4 notwendig gebraucht wird, wenn d2-d3 nebst Sbd2 geschehen ist. … Da ist es für Weiß recht angenehm, ihn nach b5 entwickeln zu können, noch dazu mit einer nicht unbedenklichen Drohung (S.438)“.

6.Lb5

Auch der Kommentar zu diesem Zug verblüfft durch seine Genauigkeit – und dadurch, dass er Geschichte und Idee eines typischen Manövers der erst später populär gewordenen Nimzo-Indischen Verteidigung en passant erläutert: „Droht auf c6 einen Doppelbauer zu verursachen, ihn mit c2-c4 zu fixieren und dann mit dem Manöver Sb1-c3-a4, La3 und Tc1 den Bc5 anzugreifen, wodurch der ganze Damenflügel des Schwarzen gelähmt wird, ein Stratagem, das bereits – wenn nicht schon früher – von dem Engländer Elijah Williams in dem Londoner Turnier 1851 (wo er Howard Staunton mit 4:3 Punkten besiegte) mehrmals angewandt worden ist. Später ist es hauptsächlich von Simon Winawer adoptiert worden (S.438)“.

6…Ld7 7.0-0 Ld6 8.d3 Dc7 9.De2 0-0-0

Auch bei dem Kommentar zu diesem Zug ist Tarrasch in seinem Element: klare Urteile, mit strategischen Erläuterungen begründet: „Dies ist ganz verfehlt. Die schwarze Stellung verlangt ein Vorgehen auf dem Damenflügel. Aber wie soll das geschehen, wenn dort der König steht? Schwarz hat die ganze Eröffnung ohne Finesse gespielt und gerät dadurch in Nachteil, wie das leicht geschehen kann, wenn man eine schlechte Eröffnung, die dabei einiges Gift in sich birgt, nicht widerlegt (S.439)“. Wie Recht Tarrasch mit seiner Einschätzung hat, belegt die Partie. Weiß gewinnt durch ein kombiniertes Spiel im Zentrum und auf dem Damenflügel.

10.Sbd2 a6 11.Lxc6 Lxc6 12.g3 Se8 13.c4 f6 14.cxd5 exd5 15.e4 d4 16.b4 g5 17.bxc5 Lxc5 18.fxg5 Tg8 19.Tac1 La7 20.Sb3 Sg7 21.Sc5 Lxc5 22.Txc5 Se6 23.Tc4 fxg5 24.Tfc1 Db6 25.Se5 Db5 26.Sxc6 bxc6 27.Txc6+ Kd7

28.Txe6! Kxe6 29.Dg4+ Kf6 30.Tf1+ Kg7 31.De6 Tgf8 32.Lxd4+ Txd4 33.De7+ Kg6 34.Dxf8 1-0

Aber in seiner Suche nach einfachen Aussagen geht Tarrasch oft zu weit. Dann erscheinen seine Urteile dogmatisch und oberflächlich. Er weigert sich, die Komplexität des Schachs anzuerkennen und in solchen Momenten scheint das Spiel für ihn nicht mehr als ein schwieriges, aber schließlich doch lösbares Rätsel zu sein, dessen Reiz darin liegt, dass er, Tarrasch, es so gut meistert. So schreibt er über die heute als dubios geltende Breslauer Variante im Offenen Spanier (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0-0 Sxe4 6.d4 b5 7.Lb3 d5 8.dxe5 Le6 9.c3 Le7 10.Te1 0-0 11.Sd4 Sxe5 12.f3 Ld6): „eine Opferkombination, die im Frühjahr 1913 von mir gefunden und bald darauf – unabhängig von mir – von K. Bergmann in Breslau veröffentlicht wurde. Die Breslauer Variante, wie diese Fortsetzung genannt wird, verschafft dem Schwarzen einen so heftigen Angriff, dass sich seitdem noch niemand in einer ernsten Partie als Anziehender auf sie einlassen wollte. … [A]ller Wahrscheinlichkeit nach haben wir in ihr eine Widerlegung des stärksten Angriffs in der Spanischen Partie und somit die Lösung des dreihundertjährigen Rätsels, das der spanische Priester Ruy Lopez der Schachwelt aufgegeben hat (S.83)“.

Heute wirken solche mit viel Selbstbewusstsein vorgetragenen Urteile unfreiwillig komisch. Aber sie weisen auf ein tiefer liegendes Problem hin. So pointiert Tarraschs allgemeine Stellungseinschätzungen sind, so gehen sie in komplizierten, zweischneidigen Stellungen doch oft am Kern der Partie vorbei. Die folgenden Kommentare sind typisch. Kontinuierlich unterschätzt Tarrasch die Verteidigungsressourcen des Weißen und stellt eine komplexe Partie zu vereinfacht dar.

LASKER – JANOWSKI
Berlin 1910

1.e4 e5 2.f4 Lc5 3.Sf3 d6 4.c3 Lg4 5.d4 Lxf3 6.gxf3 Dh4+ 7.Ke2 Lb6 8.Sa3 f5 9.Sc4 fxe4 10.fxe5 dxe5 11.Sxe5 Sc6 12.Sxc6 bxc6

Hier schreibt Tarrasch: „Jetzt wird allmählich klar, dass die Anlage der weißen Partie verfehlt gewesen ist. Weiß hat erst eine einzige Figur entwickelt, nämlich den König. Für das Endspiel ist das sehr gut, für das Mittelspiel aber sehr schlecht. Der König ist nicht mehr durch Bauern oder durch den Springer genügend geschützt, die e- und f-Linien sind offen oder leicht zu öffnen. … Die Partie ist strategisch schon beinahe entschieden und der gerechte Kritiker wird nicht umhin können, Janowskis Genie in der Anlage dieser Partie mit Bewunderung anzuerkennen (S.357)“.

Dieses Lob für Janowski ist zwar großzügig, aber der Lage auf dem Brett völlig unangemessen. Gewonnen ist die schwarze Stellung keineswegs. Zwar stimmt es, dass der weiße König durch die extravagante Eröffnung Laskers im Freien steht, aber Tarrasch ignoriert die prekäre Stellung des Läufers auf b6. Falls es Schwarz nicht gelingt, diesen Läufer mit dem Vorstoß c5 zu befreien, bleibt er auf Dauer vom Spiel ausgeschlossen. Tatsächlich erweist sich dieser Läufer in der Partie als Sorgenkind des Schwarzen.

13.Lg2 Dh5 14.Le3 Db5+ 15.Kf2 Se7

Hier schreibt Tarrasch: „Den Bb2 mit gutem Spiel mitzunehmen ist einfacher: 15…Dxb2+ 16.Dd2 Dxd2+ 17.Lxd2 c5 18.dxc5 Lxc5+ (S.358). Wie Rudolf Teschner, der Bearbeiter dieser Ausgabe der Modernen Schachpartie, in einer Anmerkung erläutert, ist 16.De2 chancenreicher als 16.Dd2. Tatsächlich steht Weiß nach 16….Dxe2+ 17.Kxe2 exf3+ 18.Lxf3 keineswegs schlechter.

16.fxe4 Dxb2+ 17.Dd2 0-0+ 18.Ke2 Db5+ 19.Dd3 Dh5+ 20.Kd2 c5 21.Dc4+ Kh8 22.dxc5 La5

Hier schlägt Tarrasch 22…Tad8+ 23.Kc2 Dg4 24.cxb6 Dxg2+ 25.Kb3 cxb6 vor und schreibt: „Schwarz hat das überlegene Spiel, denn alle weißen Bauern sind vereinzelt, der König steht immer noch im freien Feld und Schwarz beherrscht die offenen Linien (S.358)“. Tatsächlich verfügt Weiß über mehr Gegenchancen, als Tarrasch ihm zugesteht, z.B.: 26.Ld4 Sg6 27.Thg1 Dh3 (27…Dxh2 28.Th1 Df4 29.Taf1 Dd2 (besser ist 29…b5 mit zweischneidigem Spiel.) 30.Tfg1 und Weiß hat sehr starken Angriff) 28.Taf1 mit kompliziertem Spiel, z.B.: 28…Txf1 29.Dxf1! (29.Txf1 Txd4) 29….Dxh2 30.Df7 Tg8 31.Dxa7 mit Chancen für beide Seiten.

23.Taf1 Dg4 24.Thg1 Sf5! 25.Txf5

Tarrasch lobt das schwarze Spiel und gibt 25.Lf4 Sh4! 26.Lg3 Sxg2 27.Txg2 Txf1 28.Dxf1 mit Gewinn an. Aber Weiß verfügt über zwei stärkere Züge, nämlich 26.h3 Dh5 27.Kc2 mit kompliziertem Spiel oder 26.Lh1, wonach 26….Sf3+ 27.Lxf3 Dxf4+ 28.Kc2 Dxh2+ 29.Tg2 De5 die beste Fortsetzung für Schwarz ist. Danach steht er zwar etwas besser, aber dennoch macht ihm der La5 Sorgen. Aber auch Lasker traut diesen Varianten nicht und opfert lieber die Qualität.

25…Txf5 26.Kc2!

Tarrasch: „Jetzt aber droht Weiß, durch 27.Lf1 seine Dame zu decken und die schwarze anzugreifen und somit den Tf5 zu erobern. Dass Janowski, der doch die ganze Partie in großartigem Stil behandelt hat und jetzt nur die verhältnismäßig leichte Nacharbeit der Ernte zu leisten hat, diese einfache Drohung übersieht, ist bedauerlich und würde wenigen Hauptturnierspielern passieren (S.359)“. Wieder irrt Tarrasch. Ebenso wie die Partie die ganze Zeit offen war und an keiner Stelle eine klare Gewinnfortsetzung für Schwarz zu finden ist, liegen die Dinge auch hier alles andere als einfach.

26…Tb8?

Nach diesem Zug geht es mit Tarrasch durch und er schwadroniert: „Schade um die schöne Partie! Wenn er sie auch verloren hat – Hochachtung vor Janowskis Genie! (S.359)“. Aber warum hat Janowski 26…Td8! nicht gespielt? Vermutlich, weil er nach 27.Ld4 (und nicht 27.Lf1 Dd1+ und Schwarz gewinnt wie von Tarrasch angegeben) Tg5 28.Lf3 Dh4 29.Txg5 Dxg5 30.Da4 Angst um seinen Läufer hatte. Zwar verfügt er über den Gegenangriff 30…Df4, aber nach 31.Dxa5 Dxf3 32.Dxc7 Dxe4+ 33.Kc1 Dh1+ 34.Kb2 Dg2+ (34…Tg8 35.Lxg7+ Txg7 36.Dd8+ Tg8 37.Df6+ Remis) 35.Ka3 Tg8 36.c6 ist Schwarz vom Gewinn noch weit entfernt.

27.Lf1 Dh4?

Schwarz bricht zusammen – vielleicht war er in Zeitnot. Nach 27….Df3! 28.exf5 Dxe3 29.Dd4 (und nicht 29.Tg2 De1! wie von Tarrasch angegeben) entsteht eine etwa ausgeglichene Stellung – die schlechte Königsstellung des Weißen wird durch den abseits stehenden La5 kompensiert.

28.exf5 Dxh2+ 29.Tg2 De5 30.Ld4 1-0

Aber trotz dieser Schwächen und auch wenn die von Tarrasch präsentierten Partien heute alles andere als modern wirken – lesenswert ist Die Moderne Schachpartie allemal. Die Vorzüge von Tarraschs Kommentaren kann man genießen, ihre Schwächen sollte man tolerieren, und wer möchte, kann versuchen, es besser zu machen – Shredder oder ein anderes Computerprogramm hilft dabei. Einfach abtun sollte man Tarraschs oft kategorische Urteile jedoch nicht – gerade die wankelmütige Meinung der Schachwelt über den Schachlehrer Tarrasch zeigt, wie vergänglich solche Einschätzungen sind.

WEITERE VERWEISE:

Biographisches Material über Tarrasch liefert Harald Ballo.

Interviews mit Harald Ballo und Ulrich Sieg, in denen sie über Schachgeschichtsforschung, Lasker und Tarrasch sprechen, stehen im Schadow-Karl.

Zur aktuellen Karl-Ausgabe mit dem Schwerpunkt In der Defensive.