KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

GEMÄCHLICHE KÄMPFER

Von FM Johannes Fischer

Gladiatoren ante Portas Cover

Volker-M. Anton und Fritz Baumbach:
Gladiatoren Ante Portas:
Massow-Memorial: Brillante Züge und Schwachpunkte der Weltelite im stärksten Fernschachturnier aller Zeiten,
gebunden, 240 S., 21 Fotos,
13,80 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Tempo hieß der Schwerpunkt des ersten Karl-Hefts. Es ging um Zeit und Geschwindigkeit, ein immer aktuelles Thema. Und natürlich hätte man noch mehr abhandeln können, Zeitwahrnehmung im Fernschach beispielsweise. Dort dauern Partien Jahre – selbst heute, im Zeitalter von Email und Internet. Gern wird in diesem Zusammenhang erzählt, dass die Fernschachmannschaft der DDR, die bei der X. Fernschacholympiade antrat, viereinhalb Jahre nach der Wiedervereinigung noch eine Medaille für ihren Staat gewann, den es doch schon nicht mehr gab.

Zum Ausgleich spielt der Fernschachspieler in einem Turnier gegen alle Gegner gleichzeitig und wirklich leidenschaftliche Anhänger des Fernschachs absolvieren sogar etliche Turniere parallel. Für den Nahschachspieler, dessen Partien nach vier, fünf, maximal sieben Stunden vorbei sind, klingt das schwer begreiflich. Wie Fernschach für viele Nahschachspieler ohnehin eine fremde Welt zu sein scheint.

Dazu ein Test. Teil 1: Welcher der folgenden Spieler war nie Weltmeister?

a) Max Euwe
b) Wassili Smyslow
c) Akiba Rubinstein
d) José Raul Capablanca

Wer sich auch nur etwas in der Schachgeschichte auskennt, lächelt sicher gütig, weil dies nun wirklich keine schwere Frage ist. Die Antwort lautet natürlich Akiba Rubinstein.

Jetzt zu Teil 2: Welcher der folgenden Spieler war nie Weltmeister?

a) Victor Palciauskas
b) Horst Rittner
c) Tõnu Õim
d) Eric Bang

Vermutlich fällt die Antwort hier nicht ganz so leicht. Der 1944 geborene dänische Fernschachgroßmeister Eric Bang war nie Weltmeister. Im Finale von 1989-1995 wurde er lediglich Zweiter. Die drei anderen Genannten kamen alle einmal in den Genuß des WM-Titels – was in der Schachwelt allerdings kaum bekannt ist.

Aber die Nahschachspieler ignorieren nicht nur die Namen der Weltmeister, auch theoretische Erkenntnisse aus Fernpartien finden erst in letzter Zeit regelmäßig Eingang in die Datenbanken. Genau wie es nur wenige Fernpartien gibt, die in das Gedächtnis der Schachwelt eingegangen sind. Das eröffnungstheoretische Duell Estrin -Berliner bildet hier die große Ausnahme, aber Fernpartien, die einen Nimbus wie Byrne – Fischer, Botwinnik – Capablanca oder Kasparow – Topalow genießen, gibt es (noch) nicht.

Das liegt nicht unbedingt an der Ignoranz der Nahschachspieler. In Fernturnieren geht es gemächlich zu und sie ziehen sich über Jahre hin, bis sie dann irgendwann leise zu Ende gehen, weil die letzte Partie entschieden oder abgeschätzt wurde. Ihnen fehlt die Dramatik des aktuellen Ereignisses und die Schachzeitschriften berichten selten von ihnen. Außerdem gibt es kaum Turnierbücher über bedeutende Fernturniere und es fehlt dem Fernschach das Gegenstück zu Bronsteins Werk über das Kandidatenturnier Zürich 53 oder Aljechins Buch über das New Yorker Turnier 1924.

Um so erfreulicher ist deshalb Volker-M. Antons und Fritz Baumbachs Gladiatoren ante Portas, das Turnierbuch des stärksten Fernschachturnier aller Zeiten, dem im November 1996 begonnenen Massow-Memorials. Es wurde vom Deutschen Fernschachbund zu seinem 50-jährigen Jubiläum organisiert und erinnert an Hans-Werner von Massow, einen der ganz großen Förderer des Fernschachs. Bis auf Hans Berliner nahmen alle noch lebenden Fernschachweltmeister daran teil und betraten die virtuelle Arena der stärksten Fernschachspieler unserer Zeit.

Trotz des martialischen Titels wirkt das Buch angenehm und vermittelt einen guten Eindruck von der gemächlich-gemütlichen Welt des Fernschachs. 106 Partien, viele von den Teilnehmern anschaulich und unterhaltsam kommentiert, zeigen das Können der Fernschachgrößen. Dazwischen erzählen Anton und Baumbach nette und manchmal nicht so nette Anekdoten über Teilnehmer und Partien und philosophieren über Eigentümlichkeiten des Fernschachs. Dazu noch ein stabiler Einband, ein angenehmes Layout und eine übersichtliche Gestaltung: all das macht Gladiatoren Ante Portas zu einem gelungenen Werk. Es bleibt hoffentlich nicht das letzte Turnierbuch aus der Fernschachpraxis.


Fritz Baumbach


Volker-M. Anton

Gewonnen wurde das Turnier übrigens von einem der Autoren, Volker-Michael Anton aus Magdeburg. Hier eine seiner entscheidenden Partien.

ANTON – VAN GEET

1.d4 f5 2.g3 g6 3.Lg2 Lg7 4.Sf3 c6 5.0-0 d6 6.b3 Sh6 Dr. Dick van Geet, Fernschachgroßmeister mit Elo 2658 und Internationaler Meister im Nahschach liebt exzentrische Eröffnungen. Der Springer strebt nach f7, um den Vorstoß e5 zu unterstützen. 7.Lb2 0-0 8.Dc1 Sf7 9.Td1 Sd7 10.c4 e5 11.dxe5 dxe5 12.Sc3 Dieser Entwicklungszug bildet den Auftakt zu einer wahren Orgie von Springermanövern: In den nächsten 12 Zügen wird Weiß nicht weniger als zehn Springerzüge machen – danach beruhigen sich die beiden Rösser etwas, wenn auch nur für kurze Zeit. 12…Db6 13.Sa4 Dc7 14.Sg5 Lh6 15.Se6 Db8 16.Dc2 Te8 17.Sec5 Sf8 18.b4 Dc7 19.Sb3 Se6 20.a3 Seg5 21.Sc3 Lg7 22.Sc5 Lf8 23.Sb3 Ld7 24.Sd2 Se6 25.e3 Tac8 26.c5 b6 27.cxb6 axb6 28.Tac1 Ted8 29.Db3 Db8

Die Manöver der beiden Parteien nach der Eröffnung wirken undurchsichtig und ohne klare Linie. Um so überraschender kommt der folgende Springerzug: 30.Sde4! Am Ende der nun eingeleiteten Abwicklung hat Weiß eine Qualität weniger, aber aktive Figuren. 30…fxe4 31.Sxe4 Lg7 32.Txd7 Txd7 33.Dxe6 Tcc7 34.Sg5 Dd8 35.h4 Für die Qualität hat Weiß einen Bauern, das Läuferpaar, eine aktive Stellung und Spiel gegen den schwachen c-Bauern – mehr als genug Kompensation. Schwarz verliert chancenlos. 35…c5 36.bxc5 bxc5 37.Lc3 Ta7 38.Db3 Kh8 39.Se6 Dg8 40.Sxc5 Nach dem Gewinn des c-Bauern steht Weiß nicht einmal mehr materiell schlechter. In den folgenden Monaten lässt der spätere Turniersieger nichts mehr anbrennen und verwertet seinen Vorteil präzise. 40…Td8 41.Ld5 Tb8 42.Lb4 Tc7 43.Tc4 Dc8 44.Le6 De8 45.Sa6 Txc4 46.Dxc4 Tb7 47.Kg2 Lf8 48.Ld5 Lxb4 49.axb4 Te7 50.b5 Sd6 51.Dc5 Dd7 52.Sb8 Dc7 53.Sc6 Te8 54.b6 Dd7 55.Db4 Sb7 56.e4 Dd6 57.Db2 Sd8 58.Sxd8 Dxd8 59.Lc6 Te6 60.b7 Db8 61.Da1 Tf6 62.f4 Kg7 63.Dxe5 und Schwarz gab auf. Nach 63…Dxe5 64.fxe5 Tf8 65.Ld7 ist alles entschieden.