KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

FASZINIERENDE FIGUREN

Colleen Schafroths Führung durch die Schachgeschichte

Von FM Johannes Fischer

Schafroth Schach Eine Kulturgeschichte

Colleen Schafroth,
Schach:Eine Kulturgeschichte,
München: Knesebeck 2002,
Leinen mit Schutzumschlag,
176 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen,
24,90 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

„Ich sah Leute in der Stadt Gartenschach spielen, was mich irgendwie inspiriert hat“. So schildert Großmeister Christopher Lutz, die langjährige deutsche Nummer Eins, im aktuellen KARL seine erste Begegnung mit dem Schach. Er ist nicht der Einzige, den die Figuren auf den ersten Blick gefesselt haben. Das Spiel übt eine eigenartige Faszination aus und schlägt Menschen auf der ganzen Welt seit Jahrhunderten in seinen Bann.

Und seit Schach gespielt wird, setzen Künstler all ihren Ehrgeiz und ihr ganzes Können ein, um schöne Schachfiguren und Bretter zu schaffen. Dadurch verraten uns diese Figuren etwas über die Kultur und die Geschichte ihrer Epoche. In Schach: Eine Kulturgeschichte enthüllt Colleen Schafroth, die Direktorin des Museum of Art in Goldendale, Washington, USA, einen Teil dieser Geheimnisse. Wie auf dem Klappentext zu lesen ist, stellt Schafroths Museum eine Sammlung kostbarer Schachgarnituren aus und mit Hilfe zahlreicher faszinierender Abbildungen dieser Exponate unternimmt Schafroth einen anregenden Rundgang durch über tausend Jahre Schachgeschichte. Dabei ist ihr Buch keine gelehrte wissenschaftliche Abhandlung zur Schachgeschichte und ihrer vielen offenen Fragen, sondern ein kurzer, unterhaltsamer Überblick über die Entwicklung des Spiels. Schachpartien enthält das Buch ebenfalls nicht. Es beschränkt sich darauf, die Figuren zu zeigen, mit denen gespielt wurde.

Turm, Italien, Elfenbein, 11. Jh.

Die hier abgebildete Figur stammt z.B. aus dem 11. Jahrhundert und wurde in Italien entdeckt. Man nimmt an, dass sie Teil eines Schachspiels ist, das Karl dem Großen gehört hat. Dargestellt ist ein Turm, der durch einen Streitwagen symbolisiert wird. Wie Schafroth schreibt, wurden diese Streitwagen aber nach dem 4. Jahrhundert nicht mehr eingesetzt; manche Forscher leiten daraus ab, das Schachspiel müsse älter sein als bislang angenommen und bereits zu einer Zeit entwickelt worden sein, in der der Streitwagen als Kriegsgerät noch im Gedächtnis der Menschen vorhanden war.

Solche Diskussionen zeigen, wie wenig Einigkeit unter Experten darüber besteht, wann und wo das Schachspiel „erfunden“ wurde. Zwar liegen die Ursprünge des Spiels mit höchster Wahrscheinlichkeit in Asien, aber ob Indien oder China das Geburtsland des Schachs ist, konnte noch nicht zweifelsfrei geklärt werden. Allerdings tippen die meisten Experten auf Indien und nehmen an, das Spiel ist von dort sowohl in den Osten nach China und als auch in den Westen nach Persien gelangt. Nach der Eroberung Persiens durch die Araber im 7. Jahrhundert fand das Schach über die arabischen Länder dann allmählich seinen Weg nach Europa und erfreute sich dort bereits im 12. Jahrhundert großer Popularität. Wie schnell sich das Schach in Europa ausgebreitet hat, zeigen die berühmten Lewis-Figuren.

„Lewis-Chess-Set“

Abgebildet sind Läufer, Turm und Dame als Teil eines Fundes von insgesamt 78 Figuren, die man 1831 auf der in der Nähe von Schottland liegenden Hebriden-Insel Lewis bei Ausgrabungen entdeckt hat. Geschnitzt wurden sie vermutlich in Skandinavien im späten 11. Jahrhundert. Die detaillierte Darstellung der Figuren markiert den Übergang von der abstrakten Darstellung, die im arabischen Raum verbreitet war, zum konkreten europäischen Gestaltungsstil. Die sorgenvollen Gesichter der Figuren laden zu Spekulationen ein: Waren die Zeiten so schlecht, dass die Menschen immer niedergedrückt waren? Oder zeigen die Figuren Schachspieler, die sich Sorgen über ihre Stellung machen? Oder liegen ihre traurigen Gesichter doch nur an den kalten Wintern Skandinaviens?

Allerdings musste sich die Mehrzahl der Schachspieler im Mittelalter relativ wenig Sorgen machen, denn damals spielten vor allem Adlige Schach. Das Spiel ging noch recht langsam vonstatten und manche Partien zogen sich über Tage hin. Wer die männerdominierte Turnieratmosphäre heutiger Tage vor Augen hat, mag überrascht sein zu hören, dass sich beim Schach so manche Romanze anbahnte. Es bot Verliebten eine gute Gelegenheit zu unverfänglichen Begegnungen und da die Liebe in der Kunst immer schon ein populäres Thema war, wurden damals oft Liebespaare beim Schachspiel gezeigt.

Auch in die Literatur hält das Schach Einzug. Zwischen 1280 und 1320 verfasst Jacobus de Cessolis das Buch von den Gebräuchen der Menschen und den Pflichten der Adligen, in dem er das Schachspiel als gesellschaftliche Allegorie benutzt und moralische Unterweisungen erteilt. Diese Schrift war äußerst populär und wurde in den folgenden Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt.

Buchillustration, England, Holzschnitt, 1480

Dieses Bild zeigt einen Ausschnitt aus der zweiten englischen Ausgabe des Buches, die William Caxton 1480 gedruckt hat. Schafroth erläutert: „Auf dem linken Holzschnitt bereitet sich die Hauptfigur des Buches, der Philosoph, auf ein Gespräch über Schach vor. Auf dem rechten unterrichtet er den König“ (S.57). Aber auch weniger anspruchsvolle Bücher widmen sich dem Schach und Ratgeber über die Benimm-Regeln in der feinen Gesellschaft räumen ihm einen hohen Stellenwert ein. So sollte „eine Frau von Rang in der Beizjagd bewandert sein, sie musste Geschichten erzählen, singen, Musik machen, lesen und schreiben können – und natürlich eine hervorragende Schachspielerin sein“ (S.58). Aber auch bei den Herren war die Beherrschung des Schachspiels Teil der höfischen Künste.

Im 15. Jahrhundert erfuhr das Schach eine grundlegende Veränderung. Die Dame wurde zur mächtigsten Figur und auch der Läufer durfte plötzlich weiter ziehen. Die neuen Regeln reflektieren die Aufbruchstimmung im Europa des ausgehenden Mittelalters. Während wissenschaftliche Entdeckungen von Kopernikus, Galilei und später Newton alte Glaubenssysteme erschütterten, erweiterten Seefahrer und Eroberer wie Christopher Kolumbus und Vasco da Gama den geographischen Horizont der damaligen europäischen Welt.

Mit der Verbreitung der Gedanken der Aufklärung in den folgenden Jahrhunderten wurde Schach auch in der Bürgerschicht immer populärer. Als intellektuelles Spiel passte es zu den aufklärerischen Idealen der Vernunft, und in den zahlreichen Kaffeehäusern, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den europäischen Metropolen entstanden, trafen sich bedeutende Figuren der damaligen Zeit, um Schach zu spielen und intellektuellen Austausch zu pflegen. Die ersten Schachklubs wurden gegründet, Turniere und Wettkämpfe organisiert und Schachzeitschriften und Bücher versorgten eine stetig wachsende Zahl von Spielern mit Information, Unterhaltung und Unterweisung.

Heute vergisst man angesichts der Dauerkrise der Fide und den ewigen Streitereien um die Weltmeisterschaft leicht, dass das Schach populärer ist denn je. Der Computer macht’s möglich: Rund um die Uhr spielen Tausende von Schachfans im Internet und die Partien bedeutender Turniere aus aller Welt können entweder live verfolgt werden oder erreichen das Publikum schon am nächsten Tag. Und neben Hunderten von neuen Schachbüchern und zahlreichen Schachzeitschriften versorgen eine unüberschaubare Zahl von Webseiten den Schachfan mit Partien, Unterhaltung und Informationen.

Während die Figuren der Computerprogramme nur noch virtuell existieren und nicht mehr greifbar sind, spielt man bei den Turnieren mit Standardfiguren. Wer also heute Schachfiguren gestaltet, möchte weniger einen Gebrauchsgegenstand schaffen, sondern nutzt das Schachspiel als Medium, um sich künstlerisch auszudrücken. So zeigt die folgende Abbildung einen von der Künstlerin D’Olliamson geschaffenen Figurensatz, der „Tiere [darstellt], die in und um die Barentsee am Polarkreis leben. Das Brett dient dabei zur Abbildung einer hydrografischen Karte der Region“ (S.161).

Figurensatz und Brett, Frankreich, bemaltes Blei, spätes 20. Jh.

Aber nach wie vor reflektieren Schachfiguren die Kunststile und Zeit. So sind die unten abgebildeten Figuren in Italien in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts entstanden.

Figurensatz, Italien, Stein, 1957

In ihrer abstrakten Form eignen sie sich natürlich kaum zum Spielen, reflektieren aber stilistische Entwicklungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Genau wie der folgende Figurensatz, den der Maler Max Ernst entwickelt hat.

Figurensatz, Frankreich, Holz, 1944

So endet Colleen Schafroths kurzer Rundgang durch die Schachgeschichte beinahe zwangsläufig mit der Frage ob „weitere Fortschritte in der Computertechnik herkömmliche Spielgarnituren überflüssig machen werden“. Angesichts der vielen prachtvollen Spiele, denen man beim Lesen des Buches begegnet ist, kann man Schafroth nur zustimmen, wenn sie sagt: „Man kann nur hoffen, dass dieser Fall nicht eintreten wird. Solange es Spieler und Sammler gibt, die ebenso viel Freude an den Figuren wie am Spiel selbst finden, wird das Schachspiel weiter fortbestehen wie in den letzten Jahrhunderten“ (S.168).

Zum Thema Schach und Kunsthandwerk s. auch: Schach – Kunsthandwerklich betrachtet. Der Sammler Thomas Thomsen.