KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
DIE SCHÖNSTE PARTIE ALLER ZEITEN:
EINE FAHNDUNGSGESCHICHTE (Teil 1)
Von FM Johannes Fischer
Ärger gab es immer. Schönheitspreise sind beliebt, die jeweiligen Gewinner jedoch meist umstritten. Entweder der Verlierer fühlt sich benachteiligt oder es gibt Leute, die meinen, andere Partien seien schöner. Dazu kommen nicht-schachliche Faktoren: wie spektakulär war die Partie, wer spielte gegen wen, hatte die Partie historische Bedeutung, in welchem Turnier wurde sie gespielt – nicht zu vergessen das Schachverständnis der jeweiligen Jury.
Ist es da nicht absurd, sich auf die Suche nach der schönsten Partie aller Zeiten zu machen? Alle überlieferten Partien der Schachgeschichte als ein Turnier zu begreifen und aus diesem Pool den Gewinner des Schönheitspreises zu ermitteln? Wenn man einen eindeutigen Sieger küren möchte und verbissen danach Ausschau hält – vermutlich ja. Aber da man das Ganze nicht gar so ernst nehmen muss und bei der Suche etliche Höhepunkte der Schachgeschichte entspannt Revue passieren lassen kann, sollte einen dies nicht hindern. Und vielleicht kommt man nebenbei zu einem besseren Verständnis für die Schönheit im Schach. Ergänzend zum Schwerpunkt des aktuellen Hefts wird sich der Karl deshalb in den folgenden Tagen und Wochen auf die Suche nach der schönsten Partie aller Zeiten machen und die Ergebnisse etwa einmal pro Woche auf Karl-Online veröffentlichen.
Natürlich ist die Frage nach der schönsten Partie aller Zeiten nicht neu. Und obwohl ein späterer Beitrag sich noch näher mit bereits angestellten Betrachtungen zum Thema befassen wird, hier ein Tipp für Ungeduldige: Wer sehen möchte, welche Partien in die engere Wahl kommen könnten oder wer bereits einen Favoriten hat, der ist bei ChessBase gut aufgehoben. Die Hamburger Firma veranstaltet auf ihrer Webseite eine Umfrage nach den zehn schönsten Partien aller Zeiten, in der jeder über seine Lieblingspartie abstimmen kann. Aktueller Spitzenreiter ist Bobby Fischers Partie gegen Donald Byrne aus dem Lessing Rosenwald-Turnier 1956.
Aber wie kann man entscheiden, was schönes Schach ist? Ein Blick auf berühmte Partien der Schachgeschichte mag helfen, dieses Problem klarer zu fassen und ein paar Kriterien zu etablieren. Den meisten Leuten fällt in diesem Zusammenhang vermutlich die Partie Anderssen – Kieseritzky, die so genannte „Unsterbliche“ ein. Aber schon vor Anderssen wurde schönes Schach gespielt. Und ein sehr früher Kandidat für einen Schönheitspreis ist die Partie McDonnell – Labourdonnais aus dem Jahre 1834.
Alexander McDonnell und Louis Charles de Labourdonnais waren die führenden Spieler ihrer Zeit. Angefacht von der traditionellen Rivalität zwischen Frankreich und Großbritannien organisierten ihre jeweiligen Anhänger irgendwann eine Reihe von Wettkämpfen zwischen den beiden, um den besten Spieler der Welt zu ermitteln. Am Ende siegte Labourdonnais.
Der 1797 geborene Labourdonnais wuchs mit den Lehrsätzen der französischen Schachschule heran und die folgende Partie wirkt wie eine überzeugende Demonstration von Philidors Ausspruch „Die Bauern sind die Seele des Spiels“.
MCDONNELL – LABOURDONNAIS
London 1834
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 e5 5.Sxc6 Eröffnungstheoretisch tappte man damals noch im Dunkeln. Der weiße Zug stärkt das schwarze Zentrum und ignoriert die durch e5 entstandene Schwächung der schwarzen Felder gänzlich. Heute gilt 5.Sb5 als beste Fortsetzung. 5…bxc6 6.Lc4 Sf6 7.Lg5 Le7 8.De2 d5 9.Lxf6 9.exd5 cxd5 10.Lb5+ Ld7 11.Lxd7+ Sxd7 12.Lxe7 Dxe7 13.0-0 0-0 gibt Schwarz ein schönes Bauernzentrum und bequemes Spiel. 9…Lxf6 10.Lb3 0-0 11.0-0 a5 12.exd5 cxd5 13.Td1 d4 14.c4 Weiß spielt aggressiv. Statt zu versuchen, die schwarzen Bauern in Schach zu halten, setzt er auf Gegenangriff und schickt seinen c-Bauern nach vorne. 14…Db6 15.Lc2 Lb7 16.Sd2 Tae8 Schwarz spielt konsequent: Er pocht auf seine Bauernmasse im Zentrum und obwohl es die Bewegungsfreiheit der Türme beeinträchtigt, lässt einen Turm auf der f-Linie, um den Vorstoß des f-Bauern zu unterstützen. 17.Se4 Ld8 18.c5 Dc6 19.f3 Le7 20.Tac1 f5 Weiter konsequent gespielt: Schwarz setzt ganz auf seine Bauern und opfert eine Qualität, um sie voranzubringen. 21.Dc4+ Kh8
22.La4?! Mit dem Zwischenzug 22.Sd6 hätte Weiß das schwarze Konzept auf eine harte Probe stellen können, z.B.: 22…Lxd6 23.La4 Dxc5 (23…Dc7 24.Lxe8 Le7 25.c6 Lc8 26.Ld7 Lxd7 27.cxd7 Dxd7 28.f4) 24.Dxc5 Lxc5 25.Lxe8 Lb6 26.Lb5 und Schwarz muss beweisen, dass er ausreichend Kompensation für die Qualität besitzt. 22…Dh6 23.Lxe8 fxe4 24.c6 exf3 25.Tc2 Die Kraft der Bauern zwingt den Weißen in die Defensive. So scheitert 25.cxb7? an 25…De3+ 26.Kh1 fxg2+ 27.Kxg2 Tf2+ 28.Kg1 Txb2+ 29.Kh1 Df3+ 30.Kg1 Dg2#. 25…De3+ 26.Kh1 Lc8 27.Ld7 f2 Mit der Drohung 28…De1+. 28.Tf1 d3 29.Tc3 Lxd7 30.cxd7 Auch 30.Txd3 hilft nicht: 30…Le6 31.Dc2 Dc5 und Weiß steht auf Verlust. 30…e4 31.Dc8 Ld8 Weiß ist gegen die schwarzen Freibauern hilflos. 32.Dc4 De1 33.Tc1 d2 34.Dc5 Tg8 35.Td1 e3 36.Dc3 Dxd1 37.Txd1 e2
Ein wunderbares Bild: drei schwarze Bauern auf der zweiten Reihe. Weiß gab auf.
So spektakulär der Triumph der Bauern und so ästhetisch befriedigend die Schlussstellung auch sein mag – aus heutiger Sicht überzeugt die Partie nur bedingt. Das beginnt mit der Eröffnung. Bereits 4….e5 gilt als fragwürdig und die weiße Antwort 5.Sxc6 macht nur das schwarze Zentrum stark – wie die Partie anschaulich demonstriert. Zudem wirkt das Spiel eindimensional, da beide Seiten vor allem ihre eigenen Pläne verfolgen und wenig Rücksicht auf das nehmen, was der Gegner tut. Entsprechend schwach ist die weiße Gegenwehr.
Adolf Anderssen
Schwache Gegenwehr ist aus heutiger Sicht auch ein Makel der „Unsterblichen Partie“. Gespielt wurde sie am Rande des ersten Turniers der Schachgeschichte, das anlässlich der Weltausstellung von 1851 in London ausgetragen wurde. Neben den offiziellen Wettkämpfen vergnügten sich Anderssen und Kieseritzky mit einer Reihe freier Partien, von denen Kieseritzky die meisten gewann. Die spektakulärste aber ging an Anderssen. Mehr über Kieseritzky erfährt man übrigens in der Karl-Kolumne.
ANDERSSEN – KIESERITZKY
London 1851
1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Lc4 Dh4+ 4.Kf1 b5 5.Lxb5 Sf6 6.Sf3 Dh6 7.d3 Sh5 8.Sh4? Beide Seiten spielen die Eröffnung bizarr. Dr. Hübner empfiehlt hier 8.Tg1 mit der Idee 9.g4. 8…Dg5 9.Sf5 c6 10.g4 Sf6 11.Tg1 Unter Figurenopfer spekuliert Weiß auf die gefährdete Position der Dame. 11…cxb5 12.h4 Dg6 13.h5 Dg5 14.Df3 Das war die Idee des Weißen: er erobert den Bauern f4 und bringt die schwarze Dame in Bedrängnis. Um seine Dame zu retten, tritt Schwarz den Rückzug an und spielt seine einzig entwickelte Leichtfigur wieder auf die Grundreihe. 14…Sg8 15.Lxf4 Df6 16.Sc3 Plötzlich hat Weiß überwältigenden Entwicklungsvorsprung. Die Minusfigur fällt kaum auf. 16…Lc5 17.Sd5
Der Auftakt der berühmten Kombination. Aber wie Dr. Hübner gezeigt hat, war 17.d4 besser, z.B.: 17…Le7 18.Sd5 Dc6 19.Sdxe7 Sxe7 20.Sd6+ Kf8 21.Db3 und Schwarz verliert Haus und Hof, wenn er nicht Matt gesetzt werden will. Hier begegnet uns ein häufiges Paradox schöner Partien: Viele spektakuläre Kombinationen wären bei korrektem Spiel des Siegers nie zustande gekommen – aber hätte Anderssen den besseren Zug gespielt, wäre diese Partie vermutlich im Dunkel der Geschichte verschwunden. 17…Dxb2
18.Ld6? Ein spektakuläres Opfer zweier Türme – aber objektiv gesehen ein Fehler. Laut Dr. Hübner konnte Weiß hier mit drei verschiedenen Zügen gewinnen – 18.d4, 18.Le3 und 18.Te1. Etwas ernüchternd ist es schon, dass Weiß neben den beiden Opferfortsetzungen 18.d4 und 18.Le3 auch mit dem relativ prosaischen Zug 18.Te1 gewinnt, z.B: Lb7 (oder 18…Sa6 19.Ld6 Lb7 20.Lxc5 Sxc5 21.Sd6+ Kd8 22.Sxf7++-) 19.d4 und Schwarz kann sich nicht retten, z.B.: 19…Le7 (oder 19…Lf8 20.Sc7+ Kd8 21.Sxa8) 20.Ld6 und Schwarz kann wegen 20…Lxd6 21.Sxd6+ Kd8 22.Sxf7+ Ke8 23.Sd6+ Kd8 24.Df8# nicht auf d6 nehmen. Weiß gewinnt Material bei anhaltendem Angriff. 18…Lxg1 Die kritische Stellung der Partie. Spätere Analysen fanden heraus, dass sich Schwarz mit 18…Dxa1+ 19.Ke2 Db2! verteidigen kann. In dieser unübersichtlichen Stellung gibt Dr. Hübner die folgende Hauptvariante an: 20.Kd2 Lxg1 21.e5 La6! 22.Sc7+ Kd8 23.Dxa8 Lb6 24.Dxb8+ Lc8 25.Sd5 La5+ 26.Ke3 Dxc2 und bewertet die Schlussstellung als leicht vorteilhaft für Schwarz. Ein überraschendes Urteil. Schließlich hat Schwarz einen ganzen Turm mehr und bei einem derart großen materiellen Vorteil sollte man mit einer prononcierteren Einschätzung der Stellung rechnen können. Aber nach 27.Dxa7 hat Schwarz Probleme, seinen Materialvorteil zur Geltung zu bringen: z.B.: 27…Dd2+ (aber nicht 27…Dxa2 28.Lb4) 28.Kd4 Db2+ (oder 28…Dxa2 29.Lc7+ Ke8 30.Lxa5 mit Kompensation.) 29.Ke3 Dc1+ 30.Kd4 Dg1+ 31.Sfe3 Da1+ 32.Ke4 und während Schwarz weiter materiell im Vorteil bleibt, ist seine Stellung gefährdet.
Der Textzug gestattet das spektakuläre Finale. 19.e5 Schneidet die schwarze Dame von der Verteidigung ab – und danach schlägt der weiße Angriff durch. 19…Dxa1+ 20.Ke2 Sa6 21.Sxg7+ Kd8
22.Df6+ Zum Abschluss opfert Weiß die Dame und setzt mit den drei verbleibenden Figuren Matt. 22…Sxf6 23.Le7# 1-0
Der anhaltende Ruhm dieser Partie demonstriert die Attraktivität von Opferkombinationen. Sie tauchen in fast allen Schönheitspreispartien auf. Aber mit dem Abstand von anderthalb Jahrhunderten Schachgeschichte betrachtet, weist die Unsterbliche Partie einige Schwächen auf: die Eröffnung macht keinen überzeugenden Eindruck und die Manöver beider Seiten wirken zufällig. Züge wie Sh4 und …Sh5 erscheinen nicht wie Teil eines wohldurchdachten Plans. Der Eindruck des Zufälligen wird noch dadurch verstärkt, dass sowohl Schwarz als auch Weiß mehrfach die beste Fortsetzung auslassen. Und das weiße Opfer schlägt nur durch, weil Schwarz die beste Verteidigung nicht findet. Aus heutiger Sicht fehlt der Partie Harmonie und Tiefe.
Harmonisch und zwangsläufig wirkt dagegen der folgende brillante Sieg Morphys gegen den Herzog von Braunschweig und den Grafen Isouard. Diese Partie gilt als typisch für den Stil Morphys: rasche Entwicklung, zielstrebiges Spiel und brillante Opfer, um den Gegner schließlich Matt zu setzen.
MORPHY –
HERZOG V. BRAUNSCHWEIG / GRAF ISOUARD
Paris 1858
1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.d4 Lg4? Bereits im dritten Zug ein Fehler. 4.dxe5 Lxf3 Da Schwarz nach 4…dxe5 5.Dxd8+ Kxd8 6.Sxe5 einfach einen Bauern verliert, muss er mit diesem Tausch das Läuferpaar aufgeben. 5.Dxf3 dxe5 6.Lc4 Sf6 7.Db3 De7 Um f7 zu decken und nach 8.Dxb7 Db4+ zu spielen. 8.Sc3 c6 9.Lg5 Weiß entwickelt sich konsequent weiter. Nach dem verfehlten Bauernvorstoß des Schwarzen am Damenflügel bricht die schwarze Stellung schnell zusammen. 9…b5? 10.Sxb5 cxb5 11.Lxb5+ Sbd7 12.0-0-0 Td8 13.Txd7 Txd7 14.Td1 Alle schwarzen Figuren sind gefesselt und Schwarz steht auf Verlust. Der Textzug gestattet eine nette Kombination. 14…De6
15.Lxd7+ Sxd7 16.Db8+ Sxb8 17.Td8# Wie in der Unsterblichen Partie setzt Weiß mit einem Minimum an Material Matt.
Eine klare logische Partie mit einer Reihe schöner Opfer. Aber aus heutiger Sicht leidet sie unter dem gleichen Mangel wie die beiden vorherigen Partien: Die Verteidigung ist einfach zu schwach. Bereits in der Eröffnung gerät Schwarz auf die schiefe Bahn und anstatt danach zu versuchen, seine Entwicklung abzuschließen, begeht er durch einen verfrühten Vorstoß am Damenflügel Harakiri.
Im aktuellen Karl (S. 12-15) hat David Friedgood die Kriterien schachlicher Schönheit erläutert, die er zusammen mit dem englischen GM Jonathan Levitt in ihrem lesenswerten Buch Secrets of Spectacular Chess entwickelt hat. Es sind die Elemente Paradox, Spielfluss, Tiefe und Geometrie.
Wendet man diese Kriterien auf die vorgestellten klassischen Partien an, fällt auf, dass das paradoxe Element das größte Gewicht zu haben scheint. In McDonnell – Labourdonnais triumphieren drei Bauern über Turm und Dame, in Anderssen – Kieseritzky opfert Weiß alle seine Schwerfiguren, um mit dem Rest seiner Armee Matt zu setzen. Und obwohl Morphys Partieanlage durch harmonischen Spielfluss überzeugt, brilliert Weiß auch dort durch Opfer: um seine Figuren möglichst rasch zu entwickeln, gibt er erst einen Springer gegen zwei Bauern und danach noch eine Qualität – am Ende setzt er mit einem Turm weniger unter Damenopfer Matt.
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All das deutet darauf hin, dass es lohnt, dem Phänomen des Paradoxen weiter nachzugehen. Mehr darüber in ein paar Tagen.
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