KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
RÜCKKEHR NACH KAKANIEN
Von Tareq Syed
Jan Timman,
The Longest Game.
The Five Kasparov – Karpov Matches for the World Chess Championship,
New in Chess 2018,
368 Seiten, kartoniert,
29,95 Euro
Jan Timman,
Die Längste Partie.
Die fünf Matches zwischen Kasparow und Karpow um die Schachweltmeisterschaft,
New in Chess 2019,
400 Seiten, gebunden,
29,50 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Dass die Namen Anatoli Karpow und Garri Kasparow für die vielleicht längste, sicher aber intensivste Rivalität um die Schachweltmeisterkrone stehen, ist allgemein bekannt. Zuvor konnte man dies von Botwinnik und Smyslow sagen, die sich von 1954 bis 1958 in drei WM-Kämpfen begegneten: Karpow und Kasparow brachten es zwischen 1984 und 1990 auf fünf Matches, in denen sie insgesamt 144 Partien spielten. Insbesondere diese letzte Zahl dürfte ein Rekord für die Ewigkeit sein, denn so etwas wie ihr legendäres erstes Duell von 1984/85, das nach sage und schreibe 48 Partien bei einer 5:3-Führung für Karpow abgebrochen wurde, wird es sicherlich kein zweites Mal geben.
Das Medieninteresse bereits für diesen ersten Wettkampf, in dem der seit Bobby Fischers Rückzug souverän regierende Champion Karpow vom erst 21-jährigen Kasparow herausgefordert wurde, war enorm. Die Schachfreunde in Deutschland konnten für diesen und auch die folgenden Wettkämpfe von K&K, wie sie gern abgekürzt wurden, einiges an Literatur erwerben: Bücher zu den einzelnen Matches wurden von Ludek Pachman, Lothar Nikolaiczuk, dem Autorenteam Lev Gutman/Gerd Treppner sowie dem Gespann Helmut Pfleger, Otto Borik und Michael Kipp-Thomas veröffentlicht (ein Trio, das beim letzten K&K-Wettkampf von 1990 auf Pfleger & Borik reduziert wurde). Sehr bemerkenswert war außerdem Alexander Nikitins „Mit Kasparow zum Schachgipfel“, das kurz nach dem Mauerfall bzw. Auflösung der alten sowjetischen Machtstrukturen erschien: Nikitin – in den ersten vier Matches Kasparows Cheftrainer – nutzte die Gunst der Stunde, um radikal mit allen Intriganten abzurechnen, die ihm und seinem Schützling das Leben schwer gemacht hatten. Nicht wenige Schachfreunde also – besonders natürlich diejenigen, die schon in den 1980er oder 1990er Jahren aktiv waren – dürften eine oder mehrere dieser Publikationen besitzen und sich von Zeit zu Zeit an den dort gebotenen Rückblicken erfreuen.
Lohnt es sich für solche bereits gut versorgten Leser, auch noch The longest game von Jan Timman zu erwerben? Die Antwort ist ein klares Ja. Wenn ein ehemaliger Weltklassemann und Zeitzeuge wie Timman, der für seine sorgfältige Analysearbeit bekannt ist, ein fast 400 Seiten starkes Werk zu allen fünf K&K-Matches vorlegt, muss eigentlich jeder Schachfan neugierig werden. Zwar führt Timman längst nicht alle Partien im Einzelnen vor, aber gerade diese Auswahl der Matchhöhepunkte tut seiner Sammlung gut, wurde doch der erste Wettkampf nach munterem Auftakt und schneller 4:0-Führung für Karpow eine reichlich zähe Angelegenheit. Timman geht hier unterschiedlich vor: teilweise zeigt er ganze Partien, teilweise Ausschnitte. Dazwischen behandelt er die restlichen Begegnungen rein berichtend, wobei er sich zum Beispiel über die Wahl der Eröffnungsvarianten Gedanken macht. Immer aber hat man als Leser das Gefühl, von Timman mit einer höchst sinnvoll getroffenen Auswahl versorgt und rechtzeitig an den nächsten Kulminationspunkt herangeführt zu werden – das Buch liest sich ausgesprochen spannend. Was man alleine schon auf dieser Ebene geboten bekommt, könnte man mit einer im Vorwort anzutreffenden, bemerkenswerten Einschätzung Timmans unterstreichen: Er ist der Meinung, dass K&K auf dem Weg zu ihrem letzten Wettkampf (also New York/Lyon1990) ein Matchniveau vorlegten, das weder von Kasparows folgenden Wettkämpfen gegen Anand und Kramnik, noch von Magnus Carlsens Auseinandersetzungen mit Anand und Karjakin erreicht worden sei.
Zu den analysierten Partien bzw. Stellungen ist dabei hervorzuheben, dass Timman keineswegs nur alte Untersuchungsergebnisse zusammenträgt. Ganz im Gegenteil wird sein Bemühen deutlich, hier stets auf den neuesten Stand zu kommen, wobei er nicht davor zurückscheut, Zweifel an vorangegangenen Ergebnissen seiner Kollegen anzumelden und Verbesserungen vorzuschlagen. Zwei Namen müssen hier besonders genannt werden: einmal Timman selbst, der z.B. Analysen aus seinem recht erfolgreichen Werk Timman’s Titans von 2016 revidiert, und dann der von Garry Kasparow höchstpersönlich: immer wieder nimmt Timman sich dessen Analysen aus Kasparow on Modern Chess vor und spart nicht mit kritischen Anmerkungen.
Letztgenannter Punkt verweist direkt auf eine weitere, große Stärke des Buches. Beim westlichen Publikum hat sich längst die Meinung verfestigt, dass 1) Karpow durch den umstrittenen Matchabbruch von 1984/85 geschützt werden sollte und 2) die damalige Schachpolitik in Gestalt des FIDE-Präsidenten Florencio Campomanes zielstrebig daran arbeitete, Karpow nach dem knappen Verlust des 1985er-Wiederholungsmatches eine schnelle Rückkehr als Weltmeister zu ermöglichen. Konsequenterweise wurde sein Widerpart Kasparow als jugendlicher Held wahrgenommen, der sich erfolgreich gegen die Intrigen seiner – eigentlich übermächtigen – Gegner zu Wehr setzte: ein recht bequemes „Gut gegen Böse“-Schema also.
Aus seiner Verachtung für Campomanes’ „Politik“ macht Timman keinen Hehl; somit bestätigt er weitgehend Punkt 2) und kann hierzu einiges aus eigener Erfahrung beisteuern. Was jedoch Punkt 1) betrifft, stellt Timman sich gegen die gängige Publikumsmeinung. Er schildert hier nicht nur Kasparows Perspektive, sondern auch jene Karpows, nach der dieser den ersten Wettkampf weiterspielen wollte und von Campomanes’ Entscheidung hintergangen worden sei. Timman hält vieles an Karpows Version für stimmig und meldet an Kasparows Darstellung der Dinge manchen Zweifel an. Ob er damit richtig liegt, ist eine andere Frage, aber schon die bloße Einstellung, nach bestem Wissen und Gewissen gegen lieb gewonnene Mythen anzuschreiben, ist Timman hoch anzurechnen. Auch dem Spannungsfaktor beim Lesen tut diese Haltung natürlich sehr gut.
Um jeden einzelnen der fünf Wettkämpfe und die dabei ausgetragenen Partien ranken sich so viele Geschichten, dass das Buch wahrscheinlich doppelt so dick ausgefallen wäre, wenn Timman sie alle zusammengetragen hätte. Es ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen, dass er darauf verzichtete – etwa auf die von Karpow höchstpersönlich bestätigte Anekdote, wie sein Chauffeur bei der Fahrt zur 27. Partie des ersten Wettkampfes auf den eisglatten Straßen Moskaus in einen vierspurigen Gegenverkehr schlitterte. Heil am Spiellokal angekommen, beendete Karpow eine für WM-Matches beispiellose Serie von 17 Remispartien und baute seine Führung auf 5:0 aus. Dass er trotz dieses „uneinholbaren“ Vorsprunges noch einmal ins Wanken kommen sollte, ahnte wahrhaftig niemand (der damalige Modus sah vor, dass der Spieler, der zuerst sechs Partien gewann, Weltmeister werden sollte, Remispartien zählten nicht).
Zu einer der hiermit verbundenen Überlieferungen hätte man in Timmans Werk dann aber doch gerne mehr gelesen: und zwar zur Vorgeschichte der 31. Partie desselben Matches, in der Karpow sich mit den weißen Steinen vergeblich bemühte, das krönende 6:0 zu erzielen. Die detailreichen Erinnerungen an das Heranrücken dieser Partie, wie Alexander Nikitin sie in seiner Kasparow-Biographie von 1990 ausbreitet, sind ziemlich atemberaubend (angeblich gingen die Veranstalter von einem Karpowschen „Sieg auf Bestellung“ aus und trafen im Vorfeld schon alle Vorbereitungen zur Abschlussfeier). Bei Timman erfährt man hierzu leider ebenso wenig wie aus anderen Quellen (etwa Pachmans zeitgenössischer Veröffentlichung zur „Abbruch-WM“).
So wird jeder K&K-Fan an der einen oder anderen Stelle bedauern, dass damals in der Schachpresse erwähnte Episoden oder Verdächtigungen in Timmans Werk nicht erwähnt werden, aber angesichts der Fülle des Stoffes ist dies eben unvermeidbar und dem Autor nicht zum Vorwurf zu machen. Dies gilt auch für etwaige Leerstellen, die bei den von Timman ausführlich angesprochenen Vorkommnissen auffindbar sein mögen (feststellbar etwa, indem man einen Quervergleich mit den zeitgenössischen Veröffentlichungen zu den Wettkämpfen vornimmt). Von diesen Nebenthemen sei eines hier erwähnt, nämlich die – nicht umsonst! – sehr abseitig anmutende Verdächtigung, dass es in den Matches der beiden K’s auch einzelne abgesprochene Partien gegeben habe. Man müsste sich über solche Theorien nicht lange auslassen, würden sie nicht von z.T. starken Großmeistern und sogar einem Ex-Weltmeister vertreten werden (und damit ist wohlgemerkt nicht Bobby Fischer gemeint, für den ja angeblich alle K versus K-Partien im Vorhinein arrangiert waren). Ein weltberühmter Großmeister zum Beispiel, der bis heute für die ChessBase-Nachrichtenseite schreibt, wird von Timman wie folgt zitiert: Das 12:12 von Sevilla 1987 sei ein von höchsten russischen Regierungskreisen angeordnetes Endresultat gewesen, und um dieses zu erreichen, waren die letzten beiden Wettkampfpartien abgesprochen. Soll folglich heißen: Karpows hart erkämpfter Führungstreffer zum 12:11 in der 23. Partie sowie Kasparows nicht minder hart erkämpfter Ausgleich in der 24. Partie nichts als Schiebung! Man ist Timman dankbar dafür, dass er solch unverständliches, um nicht zu sagen respekt- und verantwortungsloses Gerede deutlich zurückweist. Gänzlich ignorieren konnte er es leider nicht, denn auch anlässlich des letzten K&K-Wettkampfes in New York/Lyon 1990 kamen die Partieabsprachen-Gerüchte wieder auf: konkreter Anlass war der überraschende Remisschluss in der 19. Partie. Was genau ereignete sich? Kasparow war nach einer starken Vorstellung in der 18. Partie mit 9,5:8,5 in Führung gegangen. In der 19. Partie hatte er Schwarz und erarbeitete sich in einem Königsinder allmählich Vorteile, um nach Ausführung seines 39. Zuges – mit angeblich noch satten 17 Minuten auf der Uhr – Remis anzubieten (Karpow nahm postwendend an). Ex-Weltmeister Boris Spasski, der als Kommentator in Lyon anwesend war, soll daraufhin seiner Verdächtigung Luft gemacht haben, dass die Spieler schon vor Partiebeginn das Remis vereinbart hätten. Zwar war Timman kein Augenzeuge dieser – im Buch recht drastisch geschilderten – Szene, er gibt aber an, Spasski nach dem Match auf dessen Vorwürfe angesprochen zu haben, wobei dieser bei seiner Sichtweise blieb. In seinen Partiekommentaren demonstriert Timman nun einerseits eine fünfzügige Variante, die Kasparows damalige Gewinnstellung belegt, andererseits ist er aber weit davon entfernt, Spasskis Schlussfolgerungen zu teilen: Timman hält temporäre Erschöpfung Kasparows für die angemessene Erklärung des „unverständlichen“ Angebotes.
Hier lohnt sich definitiv der Blick in zeitgenössische Publikationen zu diesem letzten K&K-WM-Kampf. Nikitin zum Beispiel erwähnt bei seiner Besprechung der 19. Partie nichts von einer schwarzen Gewinnstellung, sondern nur, dass Schwarz „aktiver“ und „aussichtsreicher“ gestanden hätte, und äußert insgesamt Verständnis für die Remisofferte – die harsche Kritik Spasskis lässt er ganz unerwähnt. Eine zeitgenössische Quelle, die diese vermerkt, ist das Buch von Borik & Pfleger, doch dort wird sie viel abgeschwächter wiedergegeben als bei Timman. Nirgendwo ist bei Borik & Pfleger von irgendwelchen Verschwörungstheorien die Rede; stattdessen wird zur Schlussstellung nur angemerkt, dass Spasski diese als „günstiger“ (!) für Schwarz einschätzte. Der eigentliche Witz aber ist die angebliche Variante, die Spasski als Begründung für seine Einschätzung vorgelegt haben soll: Diese weicht nicht nur früh von Timmans Analyse ab, sondern lässt an einer Stelle auch eine – von Borik/Pfleger ohne Abschätzung eingefügte – Alternativfortsetzung Karpows unerwähnt. Wenn man sich diese ansieht, muss man sich sehr wundern, denn von einem glatten Gewinn für Schwarz ist weit und breit nichts zu sehen! Das also soll der Grund für die damaligen massiven Unterstellungen gewesen sein, wie sie bei Timman wiedergegeben sind? Es ist kaum zu glauben. – Was sagen andere zeitgenössische Quellen? Gab es damals irgendwelche Analysen, welche auf einen klaren Sieg Kasparows hinausliefen? Die Antwort ist Ja: Im damals vor Ort veröffentlichten Bulletin wies Speelman zusammen mit Tisdall und Kristensen einen Gewinn für Schwarz nach. Die Analyse dieses Teams erstreckt sich allerdings bis zum 66. Zug, umfasst also 27 (!) Züge, wie sie nach Kasparows 39.Zug noch denkbar gewesen wären. Bereits im 43.Zug kommt es dabei zur Abweichung von Timmans kurzer, fünfzügiger Gewinnvariante. Umgekehrt erwähnt Timman diese damalige Analyse von Speelman & Co. nicht, und die angebliche von Spasski, wie Borik & Pfleger sie wiedergeben, schon gar nicht. Angesichts der inhaltlichen Diskrepanzen allein zwischen diesen drei Partiekommentaren (wahrscheinlich lassen sich noch mehr Meinungen zur besagten Endstellung ausgraben) sollten sich sämtliche Verdächtigungen gegen Kasparow und Karpow sofort erledigen: Die Schlussstellung der 19. Partie war, wie heute nach einer Reihe von Analysen klar ist, für Schwarz gewonnen – aber sicher nicht in einer Weise, dass ein erschöpfter und/oder nervlich stark mitgenommener Spieler dies alles mühelos hätte erkennen können. Bei anderer Gelegenheit – nämlich angesichts der Tatsache, dass Kasparow gezwungen wurde, seinen 1985 errungenen Titel innerhalb von zwei Jahren zwei Mal verteidigen zu müssen – schreibt Timman, dass nie zuvor ein Schachweltmeister mit weniger Respekt behandelt worden sei. Für die befremdlichen Vorhaltungen, wie sie Kasparow angesichts der 19. Partie von 1990 bis heute gemacht werden, darf man wohl ähnliches feststellen.
Wie erwähnt, sieht sich Timman in seinem Buch mehrfach gezwungen, haltlosen Gerüchten über die K&K-Wettkämpfe entgegenzutreten, zumal er sich als Insider über die mit ihnen einhergehenden schachpolitischen Verwicklungen kompetent zu äußern weiß. Er erledigt diese Aufgabe, sofern man von einer genauen Wiedergabe der gegnerischen Argumente ausgeht, ebenso gewissenhaft wie seine Analysearbeit zu den untersuchten Partien. Damit fügt er den mit hoher Anerkennung aufgenommenen Schachbüchern, die er bereits verfasst hat, ein weiteres rundum gelungenes Werk hinzu.