KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

LEIDENSCHAFT IST WAS LEIDEN SCHAFFT!

Von FM Jürgen Brustkern

Sam Collins King's Indian Defence Cover

Sam Collins,
The King’s Indian Defence,
Move by move,
Everyman Chess 2017,
kartoniert, 239 S.,
20,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Nichts passt m.E. besser zu der scharfen Königsindischen Eröffnung als dieses Bonmont aus der Überschrift. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwierig diese komplexe ”Indische Eröffnung” als Nachziehender zu spielen ist. Von daher war ich sehr gespannt, was der ausgezeichnete Schachautor IM Sam Collins zu den kritischen Abspielen – Vierbauern, Sämisch und der g3-Fianchetto Variante – in seinem neusten Buch zu sagen hat.

Der irische Nationalspieler stellt im Vorspann die interessante Frage „Warum man eigentlich Königsindisch spielen sollte?” Hierfür zitiert er Ex-Weltmeister Rustam Kasimdschanow: ”Kein 1.d4 Spieler mag mattgesetzt werden. Sie lieben lange Endspiele, in denen sie ihren kleinen Vorteil umsetzen können. Desweiteren spielen die gerne gegen den”Isolani” und lieben ihr Läuferpaar in der Dc2 Nimzoindisch Variante!”

Aber der ”Königsindisch Ritter” muss für seine Eröffnung eine erhöhte ”Schmerzgrenze” in Kauf nehmen (Nakamura), Collins weist auf den besonderen Charakter dieser kompromißlosen Eröffnungskonzepts hin und zitiert die kluge Feststellung des Erfolgautors GM Jacob Aagaard: ”Die Schwarzen übernehmen mit dem Königsinder ein Höchstmaß an Verpflichtung, in dem sie dem Weißen von Anfang an großen Raumvorteil überlassen und die Schlacht am Damenflügel in der Regel verlieren. Wenn der Königsangriff nicht mit gut kalkulierten Aktionen vorangetrieben wird, ist die Partie meistens chancenlos verloren!” Ein anderer wichtiger Aspekt ist der, dass die verrammelten Stellungen von den besten Computern nicht leicht zu analysieren sind, da die ”Blechkisten” oft den lawinenartigen schwarzen Angriff unterschätzen.

Nach diesem wichtigen Hinweis über die ”Risiken und Nebenwirkungen” der Königsindischen Verteidigung (Ilja Smirin spricht in seinen Buch King´s Indian Warfare (2016) von Kriegsführung), stellt der irische Autor verschiedene Bauernstrukturen vor, die der Schwarze anstreben sollte. Collins behandelt dabei auch die wichtigen Eröffnungsüberleitungen und erklärt, wann und warum der Nachziehende ins Ben-Oni oder mit b5 wolga-artige Positionen anstreben soll.

a) Fianchetto Variante
Der 38 Jährige Collins überrascht mich schon im ersten Kapitel, in dem er zuerst den unangenehmen g3-Aufbau behandelt. Es sind gerade diese, von den Russen Jefim Geller und David Bronstein entwickelten solide Varianten die mich vom Königsindisch abgebracht haben.

Statt dem Gegner mit dem ”Gallagher-Aufbau” (a6/Tb8/ed4;/c5 und b5) sofort die Pistole auf die Brust zu setzen, empfiehlt er nach 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sf3 Lg7 4.g3 0–0 5.Lg2 d6 6.0–0 das klassische Vorgehen mit 6.-Sc6 und e5. In der Stammpartie Naumann – Naiditsch (2016) schloss der Weißspieler mit d5 das Zentrum, wonach Schwarz mit Sb8 (Nicht Se7?! wie in der wichtigen Partie Karpow – Polgar, Las Palmas 1994, die vom Ex-Weltmeister überzeugend gewonnen wurde.) das typische f5 mittels a5/Sa6/Sd7 durchsetzte.

Bei einer anderen wichtigen Partie in diesem Kapitel Almasi – Maze, Stockholm 2016, war ich live dabei: Der französische Nationalspieler zeigte vorbildhaft, wie man gegen ein frühzeitiges b4 vorgehen muss. ”A must see game!” (Collins)

b) Klassische Variante
Mit 110 Seiten stellt dieses Kapitel (1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.Sf3 0–0 6.Le2 e5 7.0–0) das Herzstück des Buches dar. Erneut überrascht mich der Autor mit der prinzipiellen Empfehlung 7.-Sc6!. Wegen des vor allen von Wladimir Kramnik so erfolgreich angewandten 8.b4! ”Bajonettangriff”, der Garri Kasparow in ihrem WM-Match in London 2000 zu Grünfeldindisch wechseln ließ, experimentierte ich zwar oft mit Sa6/De8, war aber im Grunde mit den entstandenen Position nicht ganz zufrieden.

In meiner ”zweiten Heimat” Schweden hatte ich ein einschneidenes Erlebniss: Bei meiner Visite des ”Rilton-Cup” in Stockholm anno 2009 traf ich meinen guten Bekannten GM Luke Mc Shane, den ich aus vielen Hastings-Turnieren näher kennengelernt habe (Sein Vater ist in meinem Alter und ein alter ”Rock n Roller”.). Nach seinem positionellen Sieg gegen den Ungarn GM David Berczes in der 7.-Sbd7 Variante war er guter Laune und weihte mich danach in die Geheimnisse dieser Variante ein (z.B. spielte er gegen den jungen Ungarn das wunderbare Manöver Kh8/Sg8/Df8, um den schlechten Schwarzfelder abzutauschen). Ich war nach dieser instruktiven Lektion schwer beeindruckt, und spielte fortan nur noch Sd7, um u.a. die remisträchtige Abtauschvariante nach 8.dxe5 zu vermeiden. Und siehe da, meine Ergebnisse mit Königsindisch wurden besser!

Collins argumentiert jedoch, dass ein ”echter Königsindisch Ritter” mit Sc6 sofort Druck auf das Zentrum ausüben soll und stellt in der Bajonett Variante seine absolute Lieblingspartie Gelfand – Nakamura, World Team 2010 vor, in der der Amerikaner mit dem direkten 15.-h5! seine vorher gespielte gegen Alexander Beljawski (Amsterdam 2009) verbesserte, und dann in großem Angriffsstil gewann.

Zu diesem Thema ist auch eine relativ neue Partie von Nakamura (gegen Wesley So, St. Louis 2015) wichtig, in der er die von Larry Kaufman empfohlenen ”Mar del Plata”-Variante mit Se1-d3 (”The Kaufman Repertoire for Black and White”, NIC 2012, S.196 ff!, alle Varianten computerunterstützt und Pflichtlektüre für jeden ambitionierten 1.d4-Spieler) mit Tf7 mit der Idee Lf8 verbesserte. Die entstehenden Stellungen scheinen mir alle gut spielbar zu sein, so dass ich nach dem Abgleichen der aktuellen Partien (hauptsächlich die von GM Gawain Jones) wieder vollstes Vertrauen in den”alten” Hauptzug Sc6 bekam.

c) Sämisch Variante
Auf das vom deutschen Großmeister Fritz Sämisch stammende System mit 5.f3 empfielt der Großmeisteraspirant Collins (zwei Normen!) nach 0-0 6.Le3 das chancenreiche Bauernopfer mit c5. Nach der Annahme bekommt Schwarz trotz Damentausch gute Kompensation. Aber mich stört an dieser Empfehlung, dass Weiß mit Sge2/Dd2 die Zentrumsspanne aufbaut und auf eine Maroczy-Struktur hofft. Collins empfiehlt hier ein frühes Da5 nebst a6/b5, was mir sehr riskant vorkommt und bisher nur 2 Mal (!) in der Mega 2018 vorkam.

d) Makogonow-Variante
Das von Wladimir Makogonow stammende h3-System (nach 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.Sf3 0–0) wurde in den letzten zehn Jahren von Großmeister Krassenkow auf höchster Ebene salonfähig gemacht. Dieser unschuldig aussehende Bauernzug ist sehr giftig, Weiß möchte später das für Königsindisch lebenswichtige f5 mit g4 verhindern.

Die Hauptempfehlung lautet 7.-Sh5 was vor allem die weiße Hauptidee g4 erschwehrt. Die Verbesserung von Ding Liren (gegen Ni Hua, chinesische Meisterschaft 2015) 13.-Sc5 um nach den trojanischen Springer auf a4 zu parken war eine wichtige Information für mich. Denn in zwei Partien (gegen GM Khenkin und IM Kantor) kam ich mit dem häufig gespielten Ld7 in eine schwierige Position.

e) Awerbach- System
Das von Yuri Awerbach entwickelte System mit Le2/Lg5 (1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.Le2 0–0 6.Lg5) war lange Zeit einer der Hauptabspiele im Königsinder. Der vermutlich erfolgreichste Verfechter dieses Systems war Ex-Weltmeister Tigran Petrosjan. In seinem leider vergriffenen Buch Die Schachuniversität (Edition Olms 1988) empfiehlt er auf S. 89 ff das giftige ”Weißkonzept” überzeugend (der Lg5 wird nach g3 abgedrängt und der Weiß spielt dann auf die geschwächten Felder f5 und h5).

Auch hier bietet Collins die Ben-Oni Option mit c5 an und zeigt überzeugend, dass ein Tausch auf c5 für Schwarz kein Problem darstellt. Schwarz muss mit nachfolgenden Lg4xf3 nebst Sd7-e5 und Sc6-d4 so schnell wie möglich auf die schwarzen Felder spielen, denn ansonsten kommt Weiß mit f4/e5 in Vorteil.

f) Andere Varianten
Auch im letzten Kapitel kommt der Autor mit einer für mich überraschenden Empfehlung. Ich erzähle meinen Schülern immer, dass sie bei Königsindisch am besten immer mit Sämisch oder dem Vierbauerangriff (GM Vaiser) anfangen sollen. Aber Collins behandelt diese m.E. gefährliche Variante erst ganz zum Schluss und mit nur einer einzigen Variante! Statt der Überleitung mit c5 ins Ben-Oni, wonach Weiß ”seine Theorie spielen kann”, empfiehlt er einen Aufbau, den der ”Macher” des Bundesligisten SF Berlin GM Rainer Polzin gegen mich im letzten Jahr auspackte (SFB-Blitz, Mai 2016). Nach 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.f4 0–0 6.Sf3 spielt Schwarz erst 7.-Sa6 nebst Lg4 und Sd7!, um erst später mit c5! die schwarzen Felder in Besitz zu nehmen. Gegen den Berliner erreichte ich eine schlechte Stellung und entkam später mit einem glücklichen Remis! Ich war von dem Aufbau so begeistert, dass ich ihn später selbst als Schwarzer in mein Repertoire aufnahm.

Die weißen Läuferzüge nach 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.Sf3 0-0 5.Lg5/e3 (Smylow-System) behandelt der Ire nur kurz, was aufgrund des geringen Umfangs der ”Move by move”-Serien verständlich ist.

FAZIT

Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um anspruchsvolle Kost, die aus der Sicht des Schwarzen geschrieben wurde (Collins spielt selbst KI). Der ”Königsindisch-Anfänger” sollte mit dieser ”ritterlichen” Eröffnung schon reichlich Erfahrung gesammelt haben und über eine Spielstärke von mindestens DWZ 1900 verfügen.

Die untersuchten Partien sieht erfreulicherweise alle aktuell und gut ausgewählt. Wie üblich bei der ”Move by move”, gibt es bei wichtigen strategischen Entscheidungen Fragen vom Autor. Die Antworten des Schachtrainers sind sehr instruktiv verfasst worden (es werden Bauernstrukturen und Potenziale von Leichtfiguren besprochen), so dass sich der Lerneffekt erhöht.

Insgesamt eine klare Kaufempfehlung!