KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

ZWILLINGSSYSTEME

Von FM Jürgen Brustkern

Cyrus Lakdawala und Keaton Kiewra,
”… c6 – Playing the Caro-Kann and Slav as Black”,
Opening repertoire
Everyman Chess 2017,
446 Seiten,  23,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

PROLOG

”Starte als Nachziehender möglichst mit Zwillingssysteme!” – diesen bemerkswerten Ratschlag las ich in Steve Giddings Buch Aufbau eines Eröffnungsrepertoires (Batsford 2005). Er verfolgt die Grundidee, mit Schwarz gegen die Hauptzüge e4 und d4 mit ähnlicher Bauernstruktur und den damit verbundenen Plänen eine solide Eröffnungsgrundlage schaffen kann. Das georgisch/ amerikanische IM-Duo Cyrus Lakdawala (CL) und Keaton Kiewra (KK) beschäftigen sich in ihrem Werk … c6 – Playing the Caro-Kann and Slav as Black mit dem”c6”-Zwilling. Gegen den Königsbauern wird Caro-Kann und gegen den Damenbauern die moderene Semi-Slawisch-Variante behandelt. Meines Wissens findet sich für dieses anspruchvolle Konzept in der Schachliteratur kein verwandtes Beispiel. Um es Vorweg zu sagen: den Autoren ist diese Herkulesaufgabe absolut gelungen!

Der größer Pluspunkt in diesem Mammutwerk ist das Frage- und Antwortspiel der Schachtrainer. Co-Autor Keaton Kiewra stellt in kritischen Situationen aus der Sicht eines ”Amateurs” positionelle wie auch taktische Frage, die von C.L. in instruktive Weise beantwortet werden. Dadurch erhält der Leser gleichzeitig wichtiges strategisches Hintergrundwissen (z.B. welche Figuren in welcher Struktur getauscht werden müssen) und die dazu notwendigen Pläne. Lakdawala der selbst als Schwarzer den c6-Zwilling spielt, und mit den Büchern in der Evreyman-Serie ”Move by move” über Slawisch und Caro-Kann über ausreichend literarische Erfahrung verfügt, orientiert sich in der Variantenauswahl grundsätzlich an den beiden Spezialisten GM Alex Dreew und Igor Khenkin.

CARO-KANN-KAPITEL

In der klassischen Variante mit Sxe4 sprechen sich die Autoren für das solide Lf5 aus und empfehlen, nach der langen weißen Rochade das prinzipelle Ungleichgewicht mittels kleiner Rochade. Da ich mich mit dieser Variante kaum auskannte und mir in diesem Abspiel ”en passant” nur solche Katastrophen wie z.B. Carlsen – Ernst (Wijk 2004) oder auch Kamsky – Seirawan (US-Meisterschaft 2012) einfielen, wunderte ich mich über diese mutige Empfehlung.

CL zeigt in dieser prinzipielle Variante, wie Schwarz mit c5/Dc7 Druck auf der c-Linie generiert und damit vollwertiges Gegenspiel erhält. Alternativ zeigen die Autoren in diesem Abspiel, wie Schwarz mit der Damentauschidee Dd5-e4 im Endspiel auf Vorteil hoffen kann (mit dem Vorstoß b5, starker Sd5 gegen den Le3, schwacher Bh5!). Das Kapitel zur klassischen Variante zählt zu den besten in diesem Buch!

In der heutzutage häufig anzutreffenden Vorstossvariante empfehlen die Autoren das französisch-typische 3…c5!? Dies hat den Vorteil, nicht nur der unangenehmen ”Short- Variante” mit Le2 aus dem Weg zu gehen, sondern auch den vielen aggressive Varianten, die nach dem üblichen Lf5 folgen können.

Schwarz muss jedoch bereit sein, den Bc5 für langfristige Kompensation zu opfern. Ich weiß jedoch aus eigene Erfahrung (IM Thinius- Brustkern, 1.BL 2006/07), dass die Weißen solche Stellung nicht gerne spielen.

Gegen das scharfe Botwinnik-Panow-System bleiben die Autoren konserativ und empfehlen den Aufbau mit Lb4/Lxc3 und das damit verbundene Spiel gegen den Isolani mittels b6/Lb7 (nicht aber a6/b5 was die unangenehme Anremplung a4 erlaubt). Ergänzt wird dieser solider Vorschlag von dem sogenannten Kapitel ”Pseudo-Panow”. Auf knapp 20 Seiten wird die wichtigste Zugfolge nach 2.c4 behandelt, und nach Sf6 nur Varianten mit 5.Sc3 nebst Lc4 oder Lb5 vorgestellt. Das giftige 5.Da4+ wird nur mit der alten Partie Larsen – Karpow, Montreal 1979 behandelt. Die m. E. gefährliche Idee des schwedischen GM Slavko Cicak, die Dame später nach a3 zu postieren, um den starken Bd5 zu stabilisieren, taucht leider nicht auf.

Die sogenannte ”Fischer-Variante” (exd5 nebst Ld3 und c3) wird m.E. mit dem Vorschlag Dc7 nebst e5 überzeugend behandelt. In der Partie IM Bela Lengyel – Brustkern, Budapest 2004 folgte ich z.B. erfolgreich dieser Isolanistrategie.

Im Königsindischaufbau mit frühem d3 wird ein frühes e5/Ld6 empfohlen, wobei sich die Schachlehrer nach weißen d4 für die Isolaniposition aussprechen (Stammpartie Glek – Dreew, Saint Vicent 2005).

Die Französisch-Präferenz der Autoren zieht sich wie ein roter Faden durch das Caro-Kann Kapitel. Auch in der von mir geliebte ”Fantasy- Variante” soll sich der Nachziehende mit e6 aufbauen, um nach Sc3 den Abtausch des ”Problemläufers” c8 mittels b6/La6 zu bewerkstelligen. Dies ist zwar m.E. eine logische Idee, aber ich kann mir vorstellen, dass nicht viele Caro-Kann-Spieler solch eine Flexibletät an den Tag legen.

Gegen das heutzutage sehr populäre Zweispringer-System wird nach dem obligatorischen Abtausch nach Lxf3 (leider wird das modische 3…Sf6 nicht behandelt) ein mir unbekannten Plan empfohlen. Nach dem aggressiven d3 nebst langer Rochade soll der Läufer von f8 nach d4 manövriert werden, damit er auf der Diagonale h8-a1 Verteidigungs- wie auch Angriffsaufgaben übernimmt.

SLAWISCH-KAPITEL 

Die Hauptempfehlung von CL und KK ist das von Ex-WM Vishy Anand bevorzugte Meraner Systems. Der nach den beiden Turnieren 1924 und 1926 in der Stadt Meran benannte Aufbau hat der Inder seit seinem Matchsieg gegen Kramnik 2008 in Bonn fest in sein Repertoire aufgenommen und damit z.B. solche Glanzpartien wie 2013 gegen Leveon Aronian in Wijk aan Zee gespielt.

Von daher finde ich es ein wenig schade, dass die Autoren mit Dreew und Khenkin an ”ihren” Spezialisten festhalten. Im Hinblick auf deren ausgezeichnete Caro-Kann Behandlung ist die Entscheidung aber nachvollziehbar.

Das Autorenduo macht zu der als langweilig geltenden Abtauschvariante einen hochinteressanten Vorschlag: Schwarz soll im Lf4-System (das aktuelle Lg5!? wird nicht behandelt) schnellstmöglich Se4 spielen um nach dem Abtausch auf c3 eine Art Grünfeldfeldposition mit weiterem g6/Lg7 einnehmen. Nach dem Tausch der Bauern c3 gegen d5 soll der Vorstoß e5 durchgesetzt werden! Diese Vorgehensweise hat mich absolut überzeugt und gehört m.E. zu den vielen instruktiven Vorschlägen im Slawisch-Kapitel.

Spielt Weiß verhalten mit Sf3 und e3 legen sich LC und KK mit dem natürlichen Zug Lf5 fest (nicht aber e6, da Weiß danach mit Sbd2 auf c4 mit dem Springer nehmen kann und e5 kontrolliert) und behaupten, dass ”Schwarz leicht ausgeglichen hat!” Obwohl Weiß oft das Läuferpaar mit Sh4 gewinnt, erhält Schwarz eine stocksolide Stellung, sodass ich dessen Urteil nur zustimmen kann. Frühes Db3/c2 soll mit dxc4 nebst Lg4 beantwortet werden, auch hier wird dann im Grünfeldsinne mittels g6/Lg7 auf den Bd4 Druck ausgeübt.

Der Semi-Slawisch Aufbau mit Dc2 wird mit Ld6 beantwortet, wonach der sogenannte ”Shirow-Angriff” (7.g4!?) auf 42 Seiten ausführlich behandelt wird. In dieser Variante soll Schwarz den Bg4 nicht schlagen, sondern mit dxc4/e5 und Sd5 selbst im Zentrum aktiv werden. Diese von GM Zoltan Ribli stammende Idee wird in der Stammpartie Shaiyazdanow – Dreew, Moskau 2006 vorgestellt und ist sehr überzeugend!

Im Herzstück des Slawischteils werden in der Meraner Variante anhand von vier Musterpartien die kritischen Abspiele des sogenannten ”Reynoldsangriff” (nach e4 und d5 spielt Schwarz das scharfe dxc7 nebst langer Rochade) behandelt. In dieser messerscharfen Stellung geben die Schachtrainer in der bewährten Konversationsform sehr hilfreiche Hinweise, wie sich Schwarz nach dem prinzipiellen f4 und a4 verhalten soll.

In der für Angriffsspieler attraktiven ”Einengungsvariante” mit dem typischen Vorstoß e4-e5, haben mich die Autoren vor allem mit dem Hinweis, wie und wann zu rochieren ist, überzeugt. D.h. häufig muss der König erst mittels h6/g6 künstlich zum sicheren Flügel evakuiert werden oder findet erstmal auf f8 ein sicheres Plätzchen.

In der sogenannte ”Anti-Moskau-Variante” (frühes Lg5 und Lxf6) wird anhand von zwei instruktiven Partien (Dautow – Dreew, Jerewan 1996 und Sokolow – Dreew, Hastings 2000, die ich live verfolgen konnte und mich gut an die Postmortem-Analyse erinnere) wird die schwarze Vorgehensweise jeweils mit g6 vorgestellt. In der Sokolow-Partie wird eine dem Damengambit-ähnliche Position ausführlich erklärt. Und in der Dautow Stammpartie zeigen die Autoren, wie Schwarz mit dem Plan dxc4/e5 leichten Ausgleich erreichen kann.

Anders gestalten sich die Dinge bei dem ”Moskauer Gambit”, wo Weiß mit Lg5-h4 einen Bauern opfert. Da diese Variante – neben dem ausgesparten ”Botwinnik-Systems” – mit Abstand die schärfste Vorgehensweise des Slawisch System darstellt, verwundert es, dass das Autorengespann hierfür gerade einmal 17 Seiten Analysearbeit aufwendet. In drei Musterpartien werden die drei Hauptwege nach g5/Lg3 besprochen. Nach dem direkten 10.Se5 und h4 empfiehlt CL den Tausch des g-Bauern für den Bd4 wie in der Parte Eljanow – Dreew, Russische Teammeisterschaft 2005, und schätzt die entstehende Mittelspielstellung als dynamischen Ausgleich ein. Im zweiten Abspiel e5 empfehlen beide statt des Hauptzugs Sd5 das anspruchsvolle Sh5, um später den Lg3 abzutauschen.

Gegen die”tricky idea” Le2 nebst h4, wird das Damenflügel-orientierte Lb7 nebst b4 empfohlen. Dabei entstehen rasiermesserscharfe Stellungen, in denen m.E. noch viel Platz für kreative Ideen stecken. Aber ich würde für dieses Kapitel keine Gewähr für die Anregungen der Autoren übernehmen.

Abgerundet wird das voluminöse Buch mit Empfehlungen gegen Eröffnungen, die in Amateurkreisen beliebt sind, wie Trompowski, Colle und London System. Im Schlusskapitel wird nicht nur ein sicherer Aufbau gegen das Reti–System gut erklärt (schnelles Lf5), sondern auch auf den ”Anti-Slawisch Aufbau” ohne d4 mit frühen Dc2/b3 und schließlich Tg1! besprochen. Diese topaktuelle Idee wurde z.B. von GM Matthias Wahls im Herbst 2016 in der Zeitschrift ”Schach” ausführlich behandelt. CL empfiehlt dagegen, erst den Damenflügel vollständig zu entwickeln und spät kurz zu rochieren (Iotow – Dreew, Plowdiw 2010). Absolut erfrischend!

FAZIT

Der Caro-Kann-Abschnitt ist abgesehen von den kleineren genannten Mängeln gut gelungen. Die Analysen des zweiten Kapitels fand ich als ”Slawisch- Anfänger” bisweilen ziemlich instruktiv. Aber bei der ”Reynolds- Variante” wie beim ”Moskauer Gambit” würde ich dem Leser dringend zu einem Blick auf aktuelle Turnierpartien raten.

Das Konzept der Idee der”Zwillingseröffnung” ist m.E. durch das geschilderte Frage- und Antwortspiel in vorbildlicher Weise umgesetzt worden.

Eine klare Kaufempfehlung!