KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

BEDINGT ABWEHRBEREIT

Von Tareq Syed

Junior Tay,
The Old Indian:
move by move,
Everyman 2015,
kartoniert, 496 S.,
24,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Zur Altindischen Verteidigung 1.d4 Sf6 2.c4 d6 lagen bis vor kurzem keine größeren Monographien vor. Manchmal wurde sie als Zusatzkapitel in Königsindisch-Werke aufgenommen (so einst von Efim Geller – überhaupt scheint es im russischen Sprachraum eine Namensgleichheit von Königs- und Altindisch zu geben), manchmal waren es Altindisch-Nebenvarianten, etwa mit früher Entwicklung des Damenläufers nach f5 oder g4, denen sich die Theoretiker ausführlicher widmeten.

Für jeden, der sich für diese unzureichend erforschte Verteidigung interessiert, war die Ankündigung des Everyman-Verlags, eine Monographie zum klassischen Altinder (also Philidor-analoge schwarze Aufstellung mit Bauern auf d6 und e5 sowie Sf6, Sbd7 und Le7, daher auch „Philidor-Indisch“ in den alten Euwe-Bänden) herauszugeben, eine angenehme Überraschung. Nicht minder überraschend musste aber die Tatsache wirken, dass der Autor, CM Junior Tay aus Singapur, bis dato nicht als Anwender dieser Eröffnung aufgefallen ist. Wie er trotzdem dazu kam, ein fast 500 Seiten starkes Werk zum Thema vorzulegen, wird in der Autorenangabe des Buches erklärt: Demnach hat Tay 2014 bei den online ausgetragenen „SportsAccord World Mind Games“ den klassischen Altinder zur Anwendung gebracht und wurde am Ende Dritter unter mehr als 3000 Teilnehmern.

Sollte sich Tay wirklich erst seit 2014 mit der Altindischen Verteidigung beschäftigt haben, so ist es zunächst einmal beachtlich, dass er hierzu nur ein Jahr später ein recht sinnvoll aufgebautes Buch vorzulegen vermochte – noch dazu der „move by move“-Reihe des everyman chess -Verlages angepasst, also mit ausführlicher Kommentierung vollständiger Beispielpartien. Der Text ist in vier Hauptkapitel untergliedert, welche – mit gewissen Einschränkungen, insbesondere Kapitel drei betreffend – alle relevanten Variantenkomplexe zum Altinder abdecken. Kapitel eins behandelt die theoretische Hauptspielweise, in der Weiß das breite Bauernzentrum mit c4, d4, e4 errichtet und den Königsläufer nach e2 entwickelt. In der Regel wartet Weiß hier mit dem raumgreifenden d4-d5 und behält sich stattdessen andere Zentrumstransformationen vor, weshalb Tay vom „classical tension tussle“ spricht. Kapitel zwei behandelt frühes d4-d5, wobei auch weiße Sämisch-Aufbauten mit f2-f3 zur Sprache kommen. Kapitel drei widmet sich „various ideas in the fianchetto system“, also den weißen Aufstellungen mit g3 und Lg2, in denen Tay zwar weiße Aufstellungen mit Sge2 auslässt, aber auf S. 277 immerhin andeutet, dass ihm diese bekannt sind, so dass er nach schwarzem …exd4 und folgendem Sxd4 wohl nur Zugumstellungen zu den häufigeren Sf3-Sequenzen vermutete (eine genauere Begründung seiner Auslassung von Sge2 wäre trotzdem angebracht gewesen). In Kapitel vier geht es hauptsächlich um die frühe Entwicklung des weißen Damenläufers nach g5 nebst Aufstellung mit e2-e3, wobei Tay es nicht versäumt, auch das harmlos wirkende, in Wirklichkeit aber anspruchsvolle sofortige e2-e3 zu untersuchen.

Dass es bei der schieren Masse des kompilierten Materiales da und dort zu Einschätzungen kommt, mit denen man nicht unbedingt konform geht, ist bei einer strategisch komplizierten und generell als enigmatisch geltenden Variante wie Altindisch kaum verwunderlich. Entscheidend für eine Beurteilung des Buches ist wohl, ob man a) als Einsteiger in die Lage versetzt wird, die präsentierten Erläuterungen zu verstehen und praktisch umsetzen zu können, sowie b) als bereits mit Altindisch vertrauter Spieler neue Anregungen vorfindet, die einen davon überzeugen, dass man diese oft als zu passiv kritisierte Verteidigung gegen starke und theoretisch beschlagene Gegner wagen darf, statt sie nur sporadisch als Überraschungswaffe einzusetzen.

Bezüglich Punkt a) ist Tay wenig vorzuwerfen. Abgesehen von der schon erwähnten, in sinnvoller Weise vorgenommenen Untergliederung des Textes sind die Erläuterungen des Autors in jedem Fall ausführlich und treffend genug, um dem Einsteiger die strategischen Grundmotive und typischen Mittelspielstrukturen nahezubringen (mehr noch, auch der erfahrene Altindisch-Anwender lernt dazu). Die didaktisch konzipierten Zwischenfragen nach dem etablierten „move by move“-Konzept tun ihr übriges. Zu erwähnen ist hier außerdem das (im Inhaltsverzeichnis wohl durch ein Versehen nicht aufgeführte) Ergänzungskapitel, in dem der wissbegierige Leser sich in zwanzig Testpositionen mit strategischen und taktischen Feinheiten weiterbeschäftigen darf. Negativ zu vermerken ist höchstens, dass ein entsprechend motivierter Benutzer des Buches sich bei der Variantensuche mit ungünstig (nämlich innen, also nahe der Buchbindung) platzierten Seitenzahlen herumplagen darf.

Bezüglich Punkt b) muss man jedoch feststellen, dass Tay im wichtigen Variantenkomplex des ersten Kapitels nicht zu überzeugen vermag. In der Ausgangsstellung nach 1.d4 Sf6 2.c4 d6 3.Sc3 Sbd7 (Tay verzichtet auf die Behandlung des „Altindischen Endspieles“ nach 3…e5 4.dxe5 dxe5 5.Dxd8+ Kxd8, gibt hierzu aber eine gute Literaturempfehlung, nämlich The New Old Indian von Cherniaev/Prokuronov, ebenfalls bei everyman chess erschienen) 4.e4 e5 5.Sf3 Le7 6.Le2 0-0 7.0-0 c6 gilt spätestens mit Alexander Khalifmans Opening repertoire according to Kramnik die Fortsetzung 8.Le3 als recht schwierig für Schwarz, d.h. im Zweifelsfall anspruchsvoller als die ohnehin schon nicht geringen Probleme, die der Nachziehende nach den älteren Hauptzügen 8.Te1 und 8.Dc2 zu meistern hat.

Tay gibt nach 8.Le3 zwei neue Empfehlungen, einmal 8…Sg4 9.Ld2 De8!? sowie 8…Te8 (hinsichtlich des am häufigsten gespielten 8…a6 geht er auf S. 44 ff. mit Khalifman konform, dass Schwarz nach 9.d5! langfristig Probleme behält). Zum erstgenannten Manöver mit Dd8-e8!?, das auch an anderer Stelle im Buch eine prominente Rolle spielt (so als Spielmöglichkeit gegen 8.Te1, 8.Dc2 und 8.h3) ist festzuhalten, dass sich Tay hier in dubioser Weise auf die Broschüre The Old Indian renewed beruft, welche der englische Theoretiker Len Pickett 1984 herausgab. Die Idee …De8 nebst …Ld8 und eventuell …Lb6 wird zwar manchmal als „Pickett-Shuffle“ bezeichnet, aber Quelle hierfür ist eine Abhandlung Picketts zur Philidor Verteidung ( Philidor defense , 1974), nicht zum Altinder. In der erwähnten Arbeit The Old Indian renewed von 1984 spielt das Manöver …De8/…Ld8 überhaupt keine Rolle – von daher muss man sagen, dass es kein gutes Licht auf den Theoretiker Tay wirft, wenn er dem Leser auf S. 13 und auf S. 97 seines Buches vorgaukelt, Picketts Altindisch-Analyse rezipiert zu haben (und diese im Literaturverzeichnis aufführt). Irgendwie passt es zu diesem Kritikpunkt, dass die präsentierten Varianten zur …De8-Idee gegen 8.Le3 alles andere als attraktiv wirken: Bei einem der kritischen Abspiele (auf S. 117 in einer via 8.h3 De8!? 9.Le3 entstehenden Zugumstellung enthalten) landet Schwarz zum Beispiel in einem Endspiel mit Minusbauern, in dem er dank ungleichfarbiger Läufer immerhin Remischancen hat. Aber spätestens die zu 8.Le3 Sg4 9.Ld2 De8!? präsentierte Partie Gelfand – Morosewitsch 2003 (S. 117 ff.) hinterlässt in ihrem Anfangsverlauf keinen einladenden Eindruck, so dass man sich aus schwarzer Sicht mehr oder minder gezwungen sieht, auf angenehmere Positionen in der von Tay angegebenen Alternative 8.Le3 Te8 zu hoffen. Inwieweit sich diese Hoffnung erfüllt, sei dahingestellt: Nach 9.d5 Sf8 10.Se1 Sg6 11.Sd3 h6 („!“ Tay, bzw. Neuerung gegenüber den in Khalifmans Repertoirewerk aufgeführten Zügen) 12.b4 Ld7 Tugarin – Demtschenko, St. Petersburg 2013, gibt Tay 13.Tc1 cxd5 14.cxd5 b5 als genaueste Spielweise an, aber das „with an interesting struggle in place“ , mit dem er die Analyse beendet, wirkt so, als wolle er einer genaueren Stellungsbewertung ausweichen.

Analoge Fälle lassen sich für das erste Kapitel mehrfach aufzeigen. Am wichtigsten sind sicherlich die Positionen nach 8.Te1 und 8.Dc2, also den gegenüber 8.Le3 immer noch am häufigsten gespielten Zügen. Zu 8.Te1 gibt Tay auf S. 27 die Folge 8…a6 9.h3 Te8 10.Dc2 b5 11.a3 Lb7 an, und nun in seinen Anmerkungen 12.Lf1. Diese Stellung kann z.B. auch über das übliche 9.Lf1 b5 10.a3 entstehen, und als Schwarzspieler ist man hier dringend auf gute Ideen angewiesen. Tay liefert diese jedoch nicht, sondern führt nach 12…Tc8 13.Le3 Dc7 14.Tad1 Lf8 15.Db1 exd4 eine Partie Razuwajew– Malanjuk 1985 an, in der Schwarz nach 16.Lxd4! Se5 17.Sd2 nebst baldigem f2-f4 mit dauerhaftem Raumnachteil verblieb – im Altinder nichts ungewöhnliches, aber trotzdem wirft dies für den Leser die Frage nach Verbesserungen auf. Die einzige als besser spielbar ausgegebene Alternative gegen 8.Te1 ist 8…De8!?, von Tay auf S. 98 ff. anhand einer Partie Jakowenko – Jobava 2014 abgehandelt. Tays Empfehlungen gegen 8.Le3 und 8.Te1 passen also nicht recht zueinander, denn wenn gegen 8.Le3 der Zug 8…Te8 die vergleichsweise beste Wahl sein soll, so würde es sich für Weiß anbieten, hier einfach mit 9.h3 nebst Tfe1 zum 8.Te1-Komplex zurückzukehren, d.h. eine Stellung wie in Razuwajew – Malanjuk 1985 anzustreben, bei der Tay keine Verstärkung des schwarzen Spiels benennen konnte bzw. nichts klares darüber mitteilte, wie erträglich der weiße Raumvorteil für den Nachziehenden ist. Dass Tay in den theoretisch wichtigen Abspielen nach 8.Te1 ein wenig die Übersicht fehlt, geht übrigens schon aus dem Inhaltsverzeichnis hervor, wo er überraschenderweise das ältere 8.Te1 Te8 9.Lf1 Lf8 aufführt – eine Stellung, die so im Haupttext gar nicht vorkommt und bei der man wenn schon 10.d5 diskutieren müsste anstelle des von Tay angegebenen 10.Tb1 a5 (mit Übergang zu einer Partie Giri – Granda Zuniga 2013, die Altmeister Granda gewann).

Zum dritten wichtigen Hauptzug 8.Dc2 schließlich ist festzustellen, dass Tay nach 8…De8?! 9.b3! (Idee La3) die schwarzen Probleme unumwunden zugibt (Musterpartie Gelfand – Dunnington 1988, S. 109 ff.), aber auch in der üblichen Spielweise 8…a6 9.Td1 Dc7 nicht sagen kann, wie nach dem schon lange als unangenehm bekannten 10.Le3! eine einigermaßen spielbare Stellung erreicht werden soll – die von ihm auf S. 36 aufgeführte Partie So – Andreikin 2010 hinterlässt keinen günstigen Eindruck, da Weiß durchgehend besser steht und gleich an mehreren Stellen über potentielle Verbesserungen verfügt.

FAZIT

Theoretisch wertvolle Impulse zu einigen seit langem bekannten Altindisch-Schlüsselpositionen sucht man in diesem Buch leider vergebens, genauer gesagt in den klassischen Hauptvarianten mit weißem Le2. Tays Werk muss insgesamt als ambitionierter Versuch einer umfassenden Altindisch-Monographie bewertet werden, aber als einer, der trotz guter Ansätze keine zufriedenstellende Wirkung erzielt. Für einen informierten Gegner würde schon die Benutzung deutlich älterer Quellen wie der „Enzyklopädie“ ausreichen, um im praktischen Spiel dem Altindisch-Verfechter weiterhin prinzipielle – mit Rückgriff auf Tays Buch kaum beantwortbare – Fragen stellen zu können. Positiv ist dem aber die große Menge und die Aktualität des eingebrachten Materiales gegenüberzustellen, und besonders in den Kapiteln zwei bis vier findet sich vieles, was man aus Sicht des Schwarzspielers als willkommenes Rüstzeug mit ans Brett nehmen kann.