KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
MESSLATTE HÖHER GELEGT
Von Erhard Rüger
Vassilios Kotronias:
Beating the Anti-Sicilians,
Quality Chess 2015,
Paperback, 504 S.,
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
In seinem bei Quality Chess in der Reihe Grandmaster Repertoire veröffentlichen Werk Beating the Anti-Sicilians, setzt sich der griechische Großmeister Kotronias mit den Versuchen der Weißspieler auseinander, das Variantendickicht des offenen Sizilianers zu umgehen. Er entwickelt dabei ein Repertoire, das für alle erdenklichen Systeme der Weißen eine schlagkräftige Antwort bereithält. Das Material gliedert sich in 25 Kapitel.
Sehr viel Raum nimmt die heutzutage in der Weltspitze etablierte Rossolimovariante ein. Diesen von Spielern wie Carlsen und Anand häufig gespielten Aufbau will Kotronias mit 3…d6 bekämpft wissen. Hier wird es dann nach 4.Lxc6 sehr schnell hoch taktisch. Da hängt das Leben des Schwarzen oftmals nur noch an einem seidenen Faden.
Die anderen Abspiele sind positioneller Natur und bewegen sich in eher ruhigem Fahrwasser. Etwas vollmundig erscheint mir aber die Einschätzung „Ruining the Rossolimo“, die man im Klappentext zu lesen bekommt.
Wer sich jedoch mit dem Zug 3….e6, der von Gelfand in dem WM Kampf 2012 gegen Anand gespielt wurde, auseinander setzen möchte, wird daran erinnert, das Kotronias doch „nur“ ein Repertoirebuch und keineswegs eine Enzyklopädie geschrieben hat.
Ausgiebig beschäftigt er sich auch mit dem nach 2.c3 entstehenden Sizilianer, der von GM Sweshnikow in die Praxis eingeführt wurde. Hierbei stützt er sich auf die Arbeit von Jacob Aagard in seinem Buch Experts on the Anti-Sicilians.
Eine entsprechende Würdigung erfährt der geschlossene Sizilianer sowie der sogenannte Grand Prix Attack, der noch um eine Variante erweitert wird, die als Tiwiakow Grand Prix bezeichnet wird.
Auch selten gespielte Varianten werden auf akribische Art und Weise unter die Lupe genommen. So zum Beispiel das Morragambit und das altehrwürdige Flügelgambit, die sich in Amateurkreisen immer noch großer Beliebtheit erfreuen. Wer allerdings mit einer Widerlegung des schon immer als etwas anrüchig geltenden Flügelgambits rechnet, wird enttäuscht. Bei bester Zugfolge erreicht Weiß immerhin noch Ausgleich. Jede Abweichung jedoch wird mit ultradynamischen Spiel attackiert.
Er geht auch keineswegs an solch seltenen Blüten wie 2.Lc4, 2.c4, 2.Se2,2.f4, 2.a3 vorüber. Das seit den Partien von GM Swjaginzew sich neuer Beliebtheit erfreuende 2.Sa3 sowie die Züge 2.g3 und 2.d3 werden gründlich untersucht.
Kotronias Werk besticht durch Akribie und Erfindungsreichtum. Es finden sich brillante taktische Ideen, was bei dem Ruf des griechischen GM als gefürchteter Taktiker nicht überrascht. In den ruhigeren Aufbauten präsentiert er aber auch tiefe positionelle Lösungen.
Sehr gut gefallen hat mir, dass Stellungen offenbar auch „mit der Hand“ und nicht,wie heutzutage üblich, ausschließlich mit dem Computer analysiert werden. Oft findet sich auch ein Verweis auf den Vorschlag des Rechenknechts, der jedoch zugunsten „menschlicher“ Lösungen verworfen wird. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen findet er oftmals wahre Perlen.
Ein hervorragend gemachtes Buch, das den hohen Maßstäben bei Quality Chess vollauf gerecht wird. Ob des Autors Wunsch, die Weißen mögen es bereuen, nicht 2.Sf3 und 3..d4 gespielt zu haben, in Erfüllung geht, lasse ich dahin gestellt sein. Klar ist zum mindesten, dass die Messlatte für weißen Vorteil deutlich höher gehängt wurde.