KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
EINDRUCKSVOLLER RUNDUMSCHLAG
Von FM Jan Peter Schmidt
Larry Kaufman,
The Kaufman Repertoire
for Black and White,
New in Chess 2012,
495 Seiten, kartoniert,
1. Auflage 2012,
24,95 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Repertoirebücher haben derzeit Konjunktur. The Kaufman Repertoire for Black and White ist dennoch in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst deckt es, wie schon der Titel zu erkennen gibt, nicht nur eine Farbe, sondern Schwarz und Weiß ab. Diese „Beidfüßigkeit“ hat sodann auch in gestalterischer Hinsicht einen originellen Ausdruck gefunden, indem die zwei Teile nicht einfach hintereinander geheftet wurden, sondern in entgegengesetzter Form mit jeweils eigenem, farblich abgestimmtem Buchdeckel. Der Leser erhält damit praktisch zwei Bücher in einem (wer zwischen den Repertoires hin- und herblättern möchte, mag das notwendige Umdrehen des Buches allerdings als lästig empfinden). Schließlich ist das vorliegende Werk in ganz besonderer Weise ein Kind des modernen Computerzeitalters. Dazu sogleich mehr.
Das Kaufman Repertoire war ursprünglich als Aktualisierung von The Chess Advantage in Black and White aus dem Jahr 2003 gedacht, doch wie der Autor im Vorwort schreibt, merkte er schnell, dass zu viel Zeit vergangen war und das Buch grundlegend neu geschrieben werden musste. Als wesentlichen Grund hierfür nennt Kaufman die rasante Verbesserung der Schachprogramme: 2003 habe sich ihre Stärke noch beinah ausschließlich auf ihre gewaltigen taktischen Fähigkeiten gegründet. Inzwischen erreichten die Engines aber auch auf positionellem Gebiet Großmeisterstärke. Kaufman weiß, wovon er spricht: Nach einer Tätigkeit als Börsenhändler begann er schon Mitte der 1980er Jahre, sich mit Computerschach zu beschäftigen. Bei Rybka 3 war er verantwortlich für die Evaluierungsfunktion, später schuf er zusammen mit einem Kollegen das Programm Komodo, das gegenwärtig auf Platz 2 der Computerweltrangliste liegt. Wie Kaufman in einem eigenen kurzen Abschnitt beschreibt, hat er für sein Buch ausgiebig von Computerunterstützung Gebrauch gemacht, und es dürfte kaum ein anderes Werk erhältlich sein, in dem jede einzelne Stellung so gründlich geprüft wurde. Zu betonen ist gleichzeitig, dass Kaufman sich nicht zum Sklaven der Rechenprogramme macht. Stets führt er eine „menschliche“ Begründung für seine Stellungsbeurteilungen an oder legt offen, wann er dem Diktum des Computers misstraut.
Kaufman, Jahrgang 1947, ist übrigens überzeugt, dass er durch die intensive Arbeit mit Computern auch sein eigenes Schach noch einmal verbessern konnte. Als Beleg hierfür kann er nicht zuletzt seinen überraschenden Sieg bei der stark besetzten Seniorenweltmeisterschaft 2008 anführen, für den ihm der GM-Titel verliehen wurde (IM war Kaufman seit 1980).
Der Untertitel des Buches verspricht ein Repertoire, das „vollständig, gesund und benutzerfreundlich“ ist. Diesem Anspruch wird es vollauf gerecht. Kaufman stellt zu Beginn klar, dass er keinen enzyklopädischen Ansatz verfolgt hat. Nur soviel, wie ein Spieler sich noch realistischerweise merken kann, sollte behandelt werden. Gleichwohl achtet Kaufman sorgfältig darauf, auch alle Nebenvarianten und seltenen Gambits unter die Lupe zu nehmen. Einen guten Beitrag zur Verständlichkeit leisten die Übersichten, mit denen die Kapitel jeweils eingeleitet werden, und in denen die gewählte Herangehensweise begründet wird.
Für Weiß empfiehlt Kaufman 1.d4. Dies ist insofern bemerkenswert, als er selber lange 1.e4-Spieler war und diesen Zug auch in seinem o.g. Vorgängerwerk vorgeschlagen hatte. Kaufman gibt aufschlussreiche Gründe für seinen Wechsel an: Zum einen hält er 1.e4 für deutlich theorieintensiver, vor allem gegen Spanisch und Sizilianisch. Sodann sei 1.d4 auch weniger riskant, da sich die Stellung nach einem Fehler von Weiß meist noch innerhalb der Remisbreite befinde. Vor allem aber habe er festgestellt, dass die große Masse der Spieler zwischen Elo 2000 und 2400 auf 1.d4 viel schlechter vorbereitet sei als auf 1.e4. Kaufman berichtet, dass sich seine eigenen Ergebnisse seit seinem Wechsel zu 1.d4 „dramatisch“ verbessert hätten (er hat sein eigenes Repertoire überhaupt intensiv und mit sehr gutem Erfolg in der Praxis getestet).
Das Weiß-Repertoire setzt ganz im Sinne der „Gesundheit“ auf klassische Werte: Zentrumskontrolle, Raumvorteil und schnelle Entwicklung. Gambitbauern und andere Opfer werden gern angenommen. Kaufman lässt ferner kaum eine Gelegenheit verstreichen, sich das Läuferpaar zu sichern, das mit einer halben Bauerneinheit bewertet, wie er zu betonen niemals müde wird. Mitunter erscheint der Verweis auf das Läuferpaar als Grundlage der Stellungsbeurteilung allerdings etwas stereotyp; zudem wird es manche Spieler geben, die in einer praktischen Partie lieber die Springer haben.
Ausgiebige Theoriegefechte lassen sich nicht immer vermeiden: So sieht Kaufman gegen den Semi-Slawen keinen anderen Weg, als die notorisch komplexe Botwinnik-Variante anzusteuern. Auch gegen Königsindisch packt Kaufman den Stier bei den Hörnern und wirft sich in die klassische Hauptvariante, in der er das Abspiel mit 7. … Sc6 – Königsindisch-Freunde aufgehorcht – für nahezu widerlegt hält! Der generelle Ansatz des Buches wird hier besonders gut exemplifiziert, indem ein sehr gefährlicher schwarzer Königsflügelangriff mittels Computeranalyse kühl zurückgewiesen wird und sich der Materialvorteil am Ende durchsetzt. Gegen Holländisch und Benoni verlässt Kaufman dagegen die ausgetretenen Pfade und versucht, die Giftigkeit von Nebenvarianten unter Beweis zu stellen (gegen Holländisch 2. Lg5, gegen Benoni ein Aufbau mit Lf4 und e3).
Kaufman hat bei der Variantenwahl keine Scheuklappen. So empfiehlt er auf 1…d6 kurzerhand, mit 2.e4 in Pirc oder Philidor überzuleiten. Erstaunlich ist, dass er trotz der riesigen Stoffmenge bisweilen sogar noch Zeit findet, Alternativvorschläge zu machen, und beispielsweise sowohl Nimzo- als auch Damenindisch untersucht.
Kaufmans Schwarzrepertoire ist nach seinem eigenen Bekunden sehr stark von Magnus Carlsen inspiriert. Seine Hauptsäulen sind Grünfeldindisch gegen 1.d4 und 1.c4 und die Breyer-Variante im Spanier gegen 1.e4. Natürlich muss Kaufman in den offenen Partien noch zahlreiche „Nebenvarianten“ beackern, so Schottisch, Italienisch, Königsgambit etc. Auch dies gelingt ihm aber wie stets mit Klarheit und Übersicht. Im Grünfeldinder kommt es unvermeidlich zu einem „Zusammenstoß“ mit dem Weißrepertoire; Kaufman findet aus dieser Zwickmühle heraus, indem er Weiß Vorteil verspricht, Schwarz aber das Remis halten kann.
Das angebotene Material ist durchgehend auf dem neuesten Stand, und dank seiner Computerunterstützung konnte Kaufman eine Reihe vielversprechender Neuerungen zu Tage fördern oder bislang unterschätzte Abspiele aufwerten. Es dürfte daher kaum einen Spieler geben, für den sich ein Blick in Kaufmans Buch nicht lohnt, sei es, um sich mit neuen Varianten zu wappnen, sei es, um zu sehen, was Kaufman gegen die eigenen Abspiele „ausgekocht“ hat.
FAZIT
The Kaufman Repertoire ist eine glückliche Synthese der Ideen eines starken Schachspielers, erfahrenen Trainers und führenden Schachprogrammierers. Selten ist Geld in ein Eröffnungsbuch so gut investiert wie hier.