KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
NICHTS FÜR SCHWACHE NERVEN
Von FM Jan Peter Schmidt
James Vigus,
Chess Developments: The Pirc,
252 Seiten, kartoniert,
Englisch,
Everyman Chess 2012,
19,95 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Die Pirc-Verteidigung (1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.Sc3 g6) zählt seit jeher zu den Schmuddelkindern unter den Schwarzeröffnungen. Es gibt kaum einen Großmeister, der ihr regelmäßig vertraut. Umgekehrt reiben sich viele Weißspieler die Hände, wenn ihr Gegner zum Pirc greift. Raumvorteil und Angriffschancen scheinen nun garantiert. Oder wie Michael Adams, auf die Schwierigkeit angesprochen, gegen „seriöse“ Verteidigungen wie Sizilianisch oder Spanisch einen messbaren Vorteil zu erlangen, einmal achselzuckend sagte: „You cannot play against the Pirc everyday“ (überliefert von Jonathan Rowson).
Indessen hatte der Pirc stets auch prominente Anhänger, die ihn zumindest zeitweilig und besonders dann einsetzten, wenn sie mit Schwarz auf Gewinn spielen wollten. Hierzu zählten früher etwa Kortschnoi, Timman und Anand, heute u.a. Swidler, Iwantschuk, Mamedjarow und, man lese und staune, Kramnik. Und in der Tat ist der Pirc ein Garant für dynamische, oftmals extrem scharfe Stellungen, in denen für Schwarz zwar ein falscher Zug schon reichen kann, um überrannt zu werden, Weiß aber auch schnell die Initiative verliert, wenn er nicht energisch genug zu Werke geht. Klarzustellen ist ferner, dass der Pirc keinesfalls widerlegt ist; mehr als ein „+=“ ist für Weiß bei beiderseits korrektem Spiel nicht zu erreichen (Spötter könnten noch hinzufügen, dass Weiß zudem von den ca. zehn Möglichkeiten, Vorteil zu erlangen, immer nur eine wählen kann).
Somit ist nicht überraschend, dass die Popularität der Pirc-Verteidigung in den letzten Jahren stetig gewachsen ist. Hierbei konnten beide Seiten immer wieder neue und bisweilen faszinierende Ideen zutage fördern. Wer die Entwicklungen der letzten fünf Jahre nachverfolgen und sich auf den neuesten Stand bringen möchte, dem sei das hier besprochene Werk nachdrücklich ans Herz gelegt. Sein Autor James Vigus hat sich bereits 2007 mit dem vielgelobten The Pirc in Black and White als Experte dieser Eröffnung einen Namen gemacht. Das neue Buch legt den Schwerpunkt auf die aktuellen Trends, erfüllt aber durch kurze Zusammenfassungen der allgemeinen Theorie auch den Zweck eines in sich geschlossenes Repertoirebuchs (die Grundzüge werden allerdings weitgehend vorausgesetzt, so dass Neulinge besser zunächst zu einer Einführung greifen).
Vigus versteht es hervorragend, die jeweils kritischen Abspiele herauszuarbeiten und die wichtigsten Ideen verständlich zu machen. Sein großes Engagement für die Sache des Schwarzspielers trübt nie seine Objektivität in der Stellungsbeurteilung; auch Weißspieler finden zahlreiche Empfehlungen. Vigus scheut sich zudem nicht, mittlerweile überholte Einschätzungen aus seinem Vorgängerwerk zu revidieren. Positiv fällt schließlich der lockere, gut lesbare Stil auf.
Zu kritisieren ist allerdings ein formaler Aspekt: Der auch in anderen Büchern von Everyman Chess verwendete einspaltige Satz macht es dem Leser mitunter sehr schwer, den Überblick zu behalten, auch weil hierdurch die Diagramme nur selten mit dem Text harmonieren. Eine andere beliebte Technik des Verlages, nämlich Symbole wie Blitz oder Notizblock zur Hervorhebung wichtiger Anmerkungen zu verwenden, wurde erfreulicherweise sparsam eingesetzt.
In welchen Varianten Schwarz derzeit am stärksten unter Druck ist, soll hier natürlich nicht verraten werden. Für Pirc-Spieler besteht aber jedenfalls kein Grund zum Verzagen: Reichtum und Flexibilität der Eröffnung stellen immer genügend Ausweichmöglichkeiten sicher. Auch bei der Suche nach diesen lässt das Buch den Leser nicht allein.