KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
OPTIMIERTE DENKSTRUKTUR
Kindermanns Königsplan
Von FM Harry Schaack
Stefan Kindermann,
Der Königsplan zum Turniererfolg,
DVD, ChessBase,
Videolaufzeit: 3 Std. 47 Min.,
27,90 Euro
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.)
Obwohl gebürtiger Österreicher war Stefan Kindermann in den frühen Achtzigern einer der Hoffnungsträger des deutschen Schachs. Weil er schon lange in der Bundesrepublik lebte, durfte er für die Nationalmannschaft spielen. Sein schachlicher Aufstieg war steil. Schnell wurde er IM, was zuvor mehrere Jahre keinem Deutschen mehr gelungen war. Bei seiner Elo-Zahl und Spielstärke erwartete man den baldigen Großmeistertitel.
Indes musste sich Kindermann lange gedulden, bis ihm die FIDE endlich den begehrten Titel verlieh. Kurz vor der Normerfüllung geschah stets etwas „Sonderbares“. Er machte unerklärliche Fehler, stellte etwas ein oder geriet in Zeitnot. Offenbar stand er sich selbst im Weg. Er realisierte, dass Spielstärke und Talent alleine nicht ausreichen. Für den Erfolg kommt der Psychologie eine entscheidende Rolle zu.
Seither ließ Kindermann das Thema nicht mehr los. Er machte eine psychologische Ausbildung und als Frucht seines fast zwanzigjährigen Studiums entstand das Konzept „Königsplan“. In der gleichnamigen Publikation formulierte er 2010 gemeinsam mit Robert von Weizsäcker seine im Schach gefundenen psychologischen Gesetzmäßigkeiten für das Wirtschaftsleben und den „Alltag“. Denn diese Denk- und Mentalstrategien lassen sich für jegliche Art der Planung und Organisation auch außerhalb des Schachbretts nutzen. Letztlich unterstützen sie den individuellen Erfolg. Deshalb macht die Münchner Schachakademie, dessen Geschäftsführer der Großmeister ist, mit dem „Königsplan“ auch Schulkinder intellektuell und mental fit fürs Leben.
Jetzt ist eine ChessBase-DVD erschienen, in der Kindermann die Anwendung seines „Königsplans“ auf das praktische Schach zeigt. ChessBase hat sich für diese Idee und die Schulförderung begeistern lassen, weshalb 40 Cent jeder verkauften DVD an die Münchner Schachstiftung gehen.
Das Material zerfällt in drei große Kapitel, die sich mit bislang weitgehend vernachlässigten Schachthemen beschäftigen. Der erste Teil widmet sich „Kritischen Situationen und schachpsychologischen Problemen“, der zweite „Optimalen Denkstrukturen und typischen Problemen beim Variantenrechnen“, und der dritte „Praktischen Denkwerkzeugen und konkreten Trainings-Methoden zur Verbesserung der Spielstärke“.
Kindermann bespricht in dreißig, meist zwischen fünf und fünfzehn Minuten langen Video-Clips die psychologischen Aspekte des Schachs. Dem Autor geht es bei den präsentierten Partien nicht um detaillierte Analysen, sondern um das „große Bild“. Er konzentriert sich auf die kritischen Momente und fokussiert vor allem die psychische Verfassung der Spieler. Dabei greift er oft auf eigene Beispiele seiner Karriere zurück, die ihn nachhaltig beeinflusst und zum Umdenken angeregt haben. Gerade diese Wendepunkte der eigenen Laufbahn sind höchst instruktiv.
Im ersten Teil richtet Kindermann den Blick auf die eigene „Verfasstheit“ und die Selbstanalyse. Er teilt die Schachspieler grob in zwei Gruppen ein, die ängstlichen und die gierigen. Die einen zaudern, wenn sie klar besser stehen, die anderen sind ungeduldig und wollen die Ernte zu schnell einfahren.
Kindermann illustriert dies augenfällig an einer eigenen Partie. Gegen Rafael Waganjan erlitt er in der Bundesliga in Gewinnstellung eine traumatische Niederlage. Kindermann spielte in der entscheidenden Partiephase zu passiv. Der ehemalige armenische Weltklassespieler spürte die Schwäche und das Nachlassen seines Gegners und begann, seinem angeschlagenen Kontrahenten Probleme zu stellen. Kindermann fand sich schließlich mit dem Remis ab, doch sein routinierter Gegner wollte nun mehr und nahm Risiken in Kauf. Verblendet von den zuvor vergebenen Chancen wollte Kindermann die Risikobereitschaft seines Gegenübers bestrafen. Ein Loch in einer langen Variante besiegelte sein Schicksal. Die Partie und damit der Mannschaftskampf gingen verloren. Die Gründe für diese Niederlage waren eine Melange aus Angst und Gier, die den objektiven Blick auf die Stellung eingetrübt hatte.
Im zweiten Kapitel widmet sich Kindermann den Methoden der Variantenberechnung. Er zeigt die Denkprozesse von Weltklassespielern, beschäftigt sich kritisch mit Kotows Modell der Kandidatenzüge und den berühmten Schachtests von Adriaan de Groot. Der holländische Psychologe legte Weltklassespielern wie Aljechin oder Keres ausgewählten Stellungen vor und bat sie, ihre Gedankengänge zu verbalisieren. Kindermann erläutert, wie die Großmeister rasch zum Kern der Stellung vorstoßen, indem sie flexibel ihre Arbeitshypothesen ändern.
Bei der Auswahl der Kandidatenzüge empfiehlt Kindermann, anfangs „breit“ zu bleiben, damit bei der ersten Betrachtung keine Schlüsselzüge durch die Maschen fallen, weil man sich vielleicht in eine Idee „verliebt“ hat. Erst später sollte man die Kalkulation vertiefen. Ferner stellt er die in der Schachliteratur bislang vernachlässigte Methode des rückwärtsgerichteten Denkens vor, die zum Werkzeug aller Großmeister gehört.
Im dritten Kapitel erzählt Kindermann, wie er einmal als Trainer an einem Schüler fast verzweifelt ist, weil der immer zu passiv spielte. Erst seine Idee, das Brett zu drehen, führte letztlich dazu, dass sein Eleve die Drohungen sah – bewusster Perspektivenwechsel als Quell der Kreativität.
Die DVD ist eine Fundgrube praktischer Ratschläge. Kindermann zeigt, wie man mit Überraschungen umgeht oder in schwierigen Situationen Zuversicht schöpft. Er erklärt den „inneren Dialog“, der in Stimmungstiefs eine Methode ist, mental ins Gleichgewicht zu gelangen. Oder er zeigt, wie man wichtige Schachmotive besser im Kopf behält, indem man sie „bunt etikettiert“ und ihnen blumige Namen gibt. So schafft man einen „Musterkoffer“, der für den „inneren Archivar“ leichter zugänglich ist.
Um die Erkenntnisse der DVD in die eigene Praxis zu überführen, empfiehlt Kindermann vor allem eine kritische Selbstanalyse. Als Instrument ist ein Turniertagebuch sehr nützlich. Man soll zunächst die Varianten festhalten, die man während der Partie selbst gesehen hat. Vor allem aber sollten auch äußere Einflüsse und die eigene Befindlichkeit in den einzelnen Partiephasen notiert werden. Nur so kann man seine eigenen Schwächen systematisch aufspüren und benennen.
Die DVD schließt mit einem Interview, das André Schulz von ChessBase mit Stefan Kindermann geführt hat. Der gebürtige Wiener erzählt, wie er zum Schach gekommen ist bis zu seiner Zeit in der Nationalmannschaft und der Bundesliga, berichtet über sein Königsplan-Buch, die Münchner Schachakademie und -stiftung sowie seine Arbeit mit Schulkindern.
Etwas irritierend ist, dass Kindermann bei seinen Lektionen nie direkt in die Kamera schaut, sondern offenbar auf seinen Laptop blickt, in dem die Partien gespeichert sind. Doch inhaltlich ist die DVD eine Fundgrube guter Ratschläge in der Tradition von Simon Webbs Bestseller Schach für Tiger, nur psychologisch fundierter.
FAZIT
Sehr instruktiv und empfehlenswert für alle, die erkannt haben, dass sich schachliche Zielstrebigkeit nicht in Eröffnungsvarianten erschöpft.