KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

MIT SCHWARZ AUF GEWINN SPIELEN GEGEN 1.d4

Kompromisslose Eröffnungen weitab jeder Komfortzone / Erfahrener Großmeister und Eröffnungsspezialist veröffentlicht seine äußerst ausführlichen Analysen

Von IM Erik Zude

Ruslan Scherbakov The Triangle System

Ruslan Scherbakov
The Triangle System
Noteboom, Marshall Gambit
and other Semi-Slav Triangle lines
448 Seiten, Paperback,
Everyman Chess 2012,
24,95 EUR

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Wie spielt man mit Schwarz gegen 1.d4 auf Gewinn? So manchem passt es z.B. nicht, dass im abgelehnten Damengambit gelegentlich „die Bälle recht flach gespielt werden“, auch wenn dies Kapazitäten wie Kasparow, Short, Waganjan und viele andere nicht davon abhielt, damit als Nachziehender fleissig ganze Punkte zu sammeln. In „Must-Win“-Situationen möchten viele Turnierspieler oft schon sehr früh in der Partie markante Stellungsungleichgewichte herbeiführen.

Für solche Spieler ist die slawische Dreiecksvariante wie geschaffen. Nach 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c6 ist Schwarz bereit, den Bauern c4 zu schlagen und, wenn möglich, zu behaupten. Die Stellungen, die sich in den beiden Hauptvarianten 4.e4 dxe4 5.Sxe4 Lb4+ 6.Ld2 (Marshall-Gambit) sowie 4.Sf3 dxc4 5.e3 b5 6.a4 Lb4 7.Ld2 a5 8.axb5 Lxc3 9.Lxc3 axb5 10.b3 Lb7 11.bxc4 b4 (Noteboom-Variante) ergeben, gehören dann auch zu den am meisten forcierten Eröffnungsabspielen. Da auch der Übergang zu Katalanisch nach 3.Sf3 c6 4.g3 dxc4 zu einem zweischneidigen Gambit führen kann, sehen sich viele Weiß-Spieler dazu genötigt, den Fehde-Handschuh aufzunehmen, oder in relativ ruhigen Nebenvarianten recht kleine Brötchen zu backen.

Der russische Großmeister Ruslan Scherbakow hat sich seit vielen Jahren einen Namen als Eröffnungsexperte gemacht, einer seiner Schwerpunkte ist Slawisch. Im Vorwort erklärt er, dass er schon in den späten 90ern ein Buch über die Dreiecksvariante schreiben wollte, dieses wegen anderer Aktivitäten aber nie beendet hat. Er stellt hier sein eigenes Eröffnungsrepertoire vor. Die Noteboom-Variante (185 Seiten) und das Marshall-Gambit (133 Seiten) bilden den Kern des Buches und werden in der Praxis der Leser sicherlich am häufigsten vorkommen. Im dritten Teil, „Anti-Triangle Systems“, widmet sich Scherbakow auf 114 Seiten den weißen Nebenvarianten, 4.e3 f5 („Triangle Stonewall“), 3.Sf3 c6 4.Sbd2, 4.Dc2, 4.Db3 und 4.g3. Er bleibt hier dem Gedanken treu, möglichst komplizierte und zweischneidige Stellungsbilder herbeizuführen, auch wenn er darauf hinweist, dass es natürlich schwer ist, mit Schwarz gegen einen soliden und gut vorbereiteten 1.d4-Spieler immer schon früh aktives Spiel zu bekommen.

Höchst beeindruckend ist die Materialfülle, die Scherbakow dem Leser anbietet. Diese kann ich mir nur so erklären, dass Scherbakow anscheinend viele Jahre lang Partien gesammelt und eigene Analysen angestellt hat, die er dann gründlich zu einem Repertoire zusammengestellt hat. Die Tiefe und der Ideenreichtum der Analysen Scherbakows stellen auch alle sehr umfangreichen Repertoire-Bücher der letzten Jahre in den Schatten. Hier ein Schnappschuss, die längste Analyse im Buch:

The Triangle System –
Noteboom-Variante 15.Sd2 [D31]

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c6 4.Sf3 dxc4 5.a4 Lb4 6.e3 b5 7.Ld2 a5 8.axb5 Lxc3 9.Lxc3 cxb5 10.b3 Lb7 11.bxc4 b4 12.Lb2 Sf6 13.Ld3 Sbd7 14.0-0 0-0 15.Sd2

Dieser wichtigen Stellung widmet Scherbakov auf 23 Seiten sein 9. Kapitel. 15…Te8!? Die Hauptvariante zeigt der Autor auf mehr als vier Seiten. Seine Analyse geht dabei bis zum 42. Zug! Hier lediglich die Haupvariante, von Scherbakov analysierte Untervarianten werden mit dem ersten abweichenden Zug angedeutet: 15…Dc7 analysiert er auf über vier Seiten, 15…e5 auf über 13 Seiten! 16.Lc2!? e5 (16…Dc7) 17.La4 (17.f4; 17.d5) 17…Dc7 18.d5!? (18.dxe5) 18…Te7 Eine Neuerung Scherbakovs. (18…Tec8? 19.f4! „gives White an annoying initiative.“ (Scherbakov) 19…e4 20.Lxd7 Sxd7 21.Sxe4 Sc5 22.Dg4 f5 23.Sf6+ Kf7 24.Dh5+ Ke7 25.Dxh7 1:0 Aseev (2591) – Sudakova (2354), St. Petersburg 2002) 19.f4 exf4 (19…Sc5) 20.exf4 Se4!? (20…Db6+?!) 21.Sxe4 Txe4 22.Dg4 Sf6! 23.Lxf6 Db6+ 24.Kh1 Dxf6 25.Tae1 Txe1 (25…De7?; 25…h5!?) 26.Txe1 g6 (26…Dd6?!) 27.Dg5! (27.Dd7 analysiert Scherbakov zu einem Dauerschach im 40. Zug.) 27…Dc3! (27…Dd6?) 28.De7

28…b3!! (28…Lc8?!) 29.f5! (29.d6) 29…b2 30.f6 (30.Le8) 30…Db4! 31.Lc2!

31…h5!! (31…h6?!) 32.h3 (32.h4) 32…Tc8 33.Lb1 (33.Ld3) 33…Lxd5!? (33…h4!?) 34.cxd5 Tc1 35.Tg1 Dc5! 36.De8+ Df8 37.De7 Dc8!

38.Le4!? (38.Lxg6; 38.La2) 38…h4! (38…Txg1+?) 39.De5!? (39.d6) 39…Dc5 40.De8+ Df8 41.Db5 Dh6! 42.Db8+ Kh7!

„Black holds on.“ (Scherbakov)

In den ersten beiden Teilen des Bandes geht es meist taktisch ähnlich komplex zu, auch wenn dieser Auszug das längste Abspiel skizziert. Natürlich taucht angesichts dieser erschreckend langen und komplizierten Varianten sofort die Frage auf, ob deren Studium wirklich gutes Training für Normal-Sterbliche darstellt. Meine Antwort: „Ja!“, genauer gesagt: „Ja, aber!“ Wer an diesen Band mit dem Anspruch herangeht, ein gutes und zweischneidiges Eröffnungsrepertoire „sicher“ zu beherrschen, wird über einige Jahre hinweg sehr viel zu tun haben. Wer jedoch die Latte etwas tiefer legt und sich mit Scherbakows Hilfe daran macht, taktisch sehr zugespitzte Stellungen zu analysieren und „lediglich“ gezielt seine Analysefähigkeiten, Variantenberechnung und sein Gefühl für Dynamik schulen möchte, kann hier seine praktische Spielstärke sowie sein Schachverständnis steigern. Nach einer gewissen Lernkurve wird sicherlich zusätzlich der eine oder andere Sieg in einer Turnierpartie herausspringen, auch wenn er nicht ganz so „sicher“ herausgespielt wurde.

Die Präsentation solch langer forcierter Varianten kann natürlich niemals zum Ziel haben, dass sich der Leser alles merkt. Sie sind äußerst wertvoll zum Aufzeigen der beiderseitigen Möglichkeiten und viel aussagekräftiger als die – in frühereren Zeiten – häufig anzutreffenden Floskeln „mit beiderseitigen Chancen“, „mit unklarem Spiel“, „mit dynamischem Ausgleich“ o.ä. Scherbakow zeigt, was er in mühsamer Analyse aus den Stellungen herausgeholt hat!

Die typischen Stellungsbilder sind, zugegebenermaßen, sehr speziell, insbesondere die Thematik der verbundenen schwarzen a- und b-Freibauern in der Noteboom-Variante. Wer gezielt das Spiel in komplizierten taktischen Stellungen trainieren möchte, dabei aber auf Standard-Stellungen Wert legt, sei hier auf das Buch von Lev Psakhis, Advanced Chess Tactics, Quality Chess 2011, verwiesen. Der Band ist systematisch nach Bauernstrukturen geordnet: Benoni, Hängende Bauern, Isolani, Sizilianische Strukturen, Caro-Kann, Flankeneröffnungen.

Ruslan Scherbakow pflegt einen sehr angenehmen Schreibstil. Auch wenn in weiten Teilen des Buches die Taktik den Ton angibt, legt er großen Wert darauf, die wichtigsten Ideen zu erklären, Verallgemeinerungen zu nennen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Er strebt größtmögliche Objektivität an und läuft kaum Gefahr, dem Leser bessere Chancen zu versprechen als er in Wirklichkeit hat. Auch macht er wiederholt auf die Gefahren der schwarzen Spielweise aufmerksam. Zwar hat Scherbakow seit Anfang der 90er Jahre einen hohen Plus-Score in der Noteboom-Variante, ohne Niederlage (!), im Marshall-Angriff, der seiner Meinung nach für beide Seiten riskant ist, kommt er jedoch „nur“ auf 2 Siege, 2 Remisen und 2 Niederlagen.

Naturgemäß enden einige Varianten in einem forcierten Remis. Scherbakow stellt aber oft mehrere Varianten für Schwarz vor und macht auch auf mögliche Abweichungen aufmerksam, für den Fall, dass die Turniersituation ein Remis verbietet.

FAZIT

Wer einen leicht zu lesenden Ratgeber zu einer leicht zu spielenden Eröffnung sucht, muss sich anderswo umschauen.

Schachfreunde, die Freude an sehr dynamischem und taktisch herausfordendem Spiel haben und gewillt sind, Zeit und Energie in komplizierte Analysen zu investieren, kommen hier voll auf ihre Kosten und preisgünstig zu einer wahren Fülle an hochwertigem Material!

Ein Muss für alle Anwender (mit Weiß oder Schwarz) der Dreiecksvariante und sicherlich auf Jahre hinaus das Referenzwerk!

Inhalt
——

5 Bibliography

6 Introduction

9 Part One: The Noteboom Variation

12 1) 5 e4

25 2) 5 Bg5

37 3) White Plays an Early g2-g3

54 4) 5 a4 Bb4: Various Deviations

71 5) On the Road to the Main Line

80 6) 8 axb5: Introduction and 11 d5

101 7) Approaching the Main Line

107 8) The Main Line with Qc2

138 9) The Main Line with 15 Nd2

161 10) The Main Line with 15 Re1

194 Part Two: The Marshall Gambit

196 11) 4…Bb4 and Other Deviations

211 12) 4…dxe4 5 Nxe4 Bb4+ 6 Bd2 Qxd4 7 Bxb4 Qxe4+ 8 Ne2

226 13) 8 Be2: Various 8th Moves

237 14) 8 Be2 c5

248 15) 8 Be2 Na6 9 Bd6

268 16) 8 Be2 Na6 9 Bc3

282 17) 8 Be2 Na6 9 Ba5!?

328 Part Three: Anti-Triangle Systems

329 18) The Triangle Stonewall

355 19) 3 Nf3 c6 4 Nbd2

363 20) 3 Nf3 c6 4 Qc2

391 21) 3 Nf3 c6 4 Qb3

426 22) White doesn’t Protect c4

442 Index of Variations