KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

WOLF IM SCHAFSPELZ

Der isolierte Damenbauer – im Detail!

Von IM Erik Zude

Yevseev Fighting the French Cover

Denis Yevseev
Fighting the French –
A New Concept
kartoniert, 384 Seiten,
Englisch,
Chess Stars 2011,
27,95 €

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Vor weit mehr als Hundert Jahren hat der erste Schachweltmeister damit begonnen, Stellungen mit einem isolierten Damenbauern systematisch zu untersuchen. Man sollte also meinen, dass zu diesem Thema inzwischen alles gesagt und gespielt worden ist, was es dazu zu sagen und spielen gibt. Die eher allgemeinen Gesetzmäßigkeiten sind auch sehr gut bekannt und in vielen Büchern und Partiekommentaren finden sich gute und teilweise auch sehr tiefgehende Erläuterungen.

Trotzdem gelingt es immer wieder kreativen Köpfen, diesem auch aus allgemeiner schachtheoretischer Sicht wichtigen Thema („… der isolierte Damenbauer und seine Nachkommenschaft gehört zu den Kardinalproblemen des ganzen Positionsspiels überhaupt …“, Aaron Nimzowitsch in Mein System) neue Aspekte abzugewinnen.

Dass spezielle Standard-Stellungen mit isoliertem Damenbauer aus einer Vielzahl recht unterschiedlicher Eröffnungssysteme erreicht werden können, gehört heute zum schachlichen Allgemeinwissen, ebenso wie die beiderseitigen Pläne und Ideen bis hin zu den typischen Angriffsmechanismen des Isolani-Anhängers. Die Liste der Eröffnungen, die zum Isolani auf d4 gegen einen schwarzen Bauern auf e6 führen (s. Diagramm), umfasst neben Caro-Kann und der Nimzowitsch-Indischen Verteidigung auch noch einige andere mehr.

Denis Yevseev, ein Großmeister und Schachtrainer aus Leningrad, fügt dieser Liste nun auch die französische Eröffnung hinzu. Sein gesamtes Eröffnungsrepertoire, das mit der Tarrasch-Variante 3.Sd2 beginnt, dreht sich um die möglichen Übergänge zu Standard-Stellungen mit einem weißen isolierten Damenbauer. Auch wenn viele dieser Übergänge nicht ganz neu sind und Yevseev dem Leser dieses auch nicht suggerieren will, werden sie nicht nur viele Weiß-Spieler sondern auch manch einen Französisch-Spieler überraschen.

Das Buch von Yevseev ist in drei ungefähr gleich große Teile gegliedert, die Struktur folgt in den ersten beiden dem im Chess Stars Verlag üblichen Muster, für jede Variante zunächst die wichtigsten Ideen und Zugfolgen kurz zu erläutern (Abschnitt „Quick Repertoire“), danach den Variantenbaum zu zeigen („Step by Step“) und schließlich einige Modellpartien zu analysieren („Complete Games“). In Teil 3 (Isolani-Stellungen) wird dann jeweils der Abschnitt „Quick Repertoire“ überflüssig.

Teil 1 behandelt die Rubinstein-Variante 3…dxe4. Hier orientiert sich der Autor an den in den letzten Jahren modernen Hauptvarianten für Weiß. Ebenso wie im Rest des Buches sind seine Varianten sehr umfangreich, aber übersichtlich dargestellt. Der Leser kann leicht gewünschte Systeme oder Zugfolgen finden und genau so tief eintauchen, wie er es gerade möchte, ohne dabei den Überblick zu verlieren. Die Erläuterungen sind knapp und konzentrieren sich auf die wesentlichen Stellungsmerkmale.

In Teil 2 zeigt Yevseev, wie Weiß mit dem einfachen Aufbau 3. Sd2 nebst Sf3, Ld3 und, als Antwort auf c7-c5, c2-c3, fast alle schwarzen Nebenvarianten bekämpft. Hier ergeben sich zahlreiche Übergänge zu Isolani-Stellungen. Der Großmeister spielt den Vorstoß e4-e5 nur selten, man kann fast sagen, nur wenn es nicht (gut) anders geht bzw. besonders günstig ist für Weiß.

Der dritte und letzte Teil macht dann den besonderen Reiz des Bandes aus. Yevseev liefert hier die in Eröffnungsbüchern bisher detaillierteste Analyse der für sein Repertoire wichtigen Isolani-Systeme. Diese umfassen auch einige für das angenommene Damengambit, Nimzwitsch-Indisch und Caro-Kann wichtige Stellungen. Wer also Yevseev’s Französisch-Repertoire nicht in allen Varianten folgen möchte, aber gegen andere Eröffnungen gerne mit einem Isolani spielt, wird hier zahlreiche gute Anregungen finden. In den Analysen finden sich auch einige Querverbindungen zu anderen aktuellen Repertoire-Büchern, z.B. Boris Avrukh’s Grandmaster Repertoire, Band I, in dem er u.a. das angenommene Damengambit aus weißer Sicht analysiert. Die Tiefe der Analysen von Denis Yevseev ist hier bisher unerreicht, selbst Fernschachspieler werden viel Nützliches finden.

Der Schreib- und Analysestil des Großmeisters ist stets angenehm und sehr um Objektivität bemüht. Er ist überzeugt davon, dass die aktivere Figurenstellung des Anziehenden eine gute Kompensation für die zentrale Bauernschwäche darstellt, verschweigt aber auch nicht, dass gelegentlich schon unscheinbare Ungenauigkeiten zu Problemen führen, was er auch anhand eingestreuter Fehlversuche demonstriert. Die wichtigsten allgemeinen Grundsätze („kein unnötiger Abtausch von Leichtfiguren“ etc.) und Pläne wiederholt er dabei recht knapp.

Ein zentraler Knackpunkt des Repertoires ist eine Zugfolge, bei der Weiß eine spezielle Standard-Stellung der Eröffnungstheorie erreicht, allerdings mit Schwarz anstatt Weiß am Zug. Yevseev macht keinen Hehl daraus, dass es im Allgemeinen keine gute Idee ist, dem Gegner das Zugrecht zu überlassen, zeigt aber Ideen, wie der unverhoffte Extrazug auch gegen den Nachziehenden verwendet werden kann. Wem diese Variante nicht gefällt, der kann sich darauf beschränken, den anderen Zugfolgen zu Isolani-Stellungen zu folgen.

Die allgemeine Tendenz, dass Weiß in einigen der insgesamt sieben Isolani-Tabiyas auf einen kleinen Vorteil hoffen kann, in anderen mit ungefährem Ausgleich bei zweischneidigem Spiel zufrieden sein muss, sollte Turnierspieler nicht abschrecken. Immerhin hat man in der Praxis den Vorteil, dass die meisten Französisch-Spieler nicht besonders viel Erfahrung mit diesen Stellungstypen haben. Trotz all der Eröffnungstheorie gewinnt später doch derjenige, der die Stellung besser spielt.

FAZIT

Ein sehr gutes und interessantes Eröffnungsbuch, das neben dem teils recht überraschenden Repertoire auch eine Menge an Verständnis für einige zentrale Stellungstypen vermittelt.

————————————

INHALT

8 Preface

Part 1
The Rubinstein Variation: 1.e4 e6 2.d4 d5 3.Nd2 dxe4 4.Nxe4

14 1) Various; 4…Nf6

39 2) 4…Bd7

65 3) 4…Nd7

Part 2
All Other Black Replies: 1.e4 e6 2.d4 d5 3.Nd2

117 4) 3…g6; 3…b6; 3…Ne7

151 5) 3…Nc6

183 6) 3…Be7

202 7) 3…h6; 3…a6

221 8) 3…c5

233 9) 3…Nf6

Part 3
The Isolated Queen’s Pawn

256 i1) 3… Nf6 4.Bd3 c5 5.c3 Nc6 6.Ngf3 cxd4 7.cxd4 dxe4 8.Nxe4 Be7 9.0-0 0-0

285 i2) 3… Nf6 4.Bd3 c5 5.c3 Nc6 6.Ngf3 cxd4 7.cxd4 dxe4 8.Nxe4 Bb4+ 9.Nc3 0-0 10.0-0 b6 11.a3 Be7 12.Re1 Bb7 13.Bc2

310 i3) 3… c5 4.c3 cxd4 5.cxd4 dxe4 6.Nxe4 Bb4+ 7.Nc3 Nf6 8.Bd3 0-0 9.Nf3 b6 10.0-0 Bb7 11.Re1

336 i4) 3…a6 4.Ngf3 c5 5.c3 Nc6 6.Bd3 cxd4 7.cxd4 dxe4 8.Nxe4 Bb4+ 9.Nc3 Nf6 10.0-0 0-0 11.a3 Be7

358 i5) 3…a6 4.Ngf3 c5 5.c3 Nc6 6.Bd3 cxd4 7.cxd4 dxe4 8.Nxe4 Be7 9.0-0 Nf6

367 i6) 3…a6 4.Ngf3 c5 5.c3 cxd4 6.cxd4 dxe4 7.Nxe4 Nd7 8.Bd3 Ngf6 9.0-0 Be7

372 i7) 3…c5 4.c3 Nc6 5.Ngf3 cxd4 6.cxd4 dxe4 7.Nxe4 Bb4+ 9.Nc3 Nge7 10.Bd3 Nd5