KOLUMNE
Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.
EINE WUNDERBARE METAMORPHOSE:
PETER LEKO IN DORTMUND
Von Johannes Fischer
Peter Leko (r.) gegen Jewgeni Barejew in Dortmund 2002
Peter Leko musste im vergangenen Jahr viel Spott ertragen. Zu oft Remis. Zahm sei er. „Warmth on the board“, so wurde ihm unterstellt, würde der Titel eines Buches mit seinen besten Partien lauten. So hämisch diese Kommentare auch waren, die Zahlen gaben ihnen recht. 2001 spielte Leko bei den großen Turnieren in Wijk aan Zee, Linares und Dortmund insgesamt 33 Partien. Er gewann zwei, verlor zwei und machte 29 Remis. Zu wenig Siege für einen Weltklassemann und nicht das, was das Publikum sehen möchte.
Beim Kandidatenturnier in Dortmund war alles anders. Leko gewann das Turnier souverän und spielte eine großartige Partie nach der anderen. Nur zu Beginn war er unsicher. Nach einer Niederlage gegen Barejew und drei Remis drohte bereits in der Vorrunde das Aus. Doch dann drehte er mächtig auf und holte aus den nächsten sieben Partien 6,5 Punkte. Es begann mit einer Revanche gegen Barejew. Anschließend ließ er Michael Adams in einer kühl vorgetragenen Entscheidungspartie um den Einzug ins Halbfinale keine Chance.
Dort demontierte er Alexei Schirow. Leko gewann beide Schwarzpartien und erwies sich vor allem in dynamischen Stellungen als überlegen. Auch im Finale gegen Topalow hielt die Siegesserie an: Leko gewann die ersten beiden Partien und sah schon wie der sichere Sieger aus. Doch schließlich wurde der Kampfgeist des Bulgaren belohnt. In der dritten Partie stand Leko bereits besser, doch als sein größter Traum auf einmal in greifbare Nähe gerückt war, verlor er die Nerven und verdarb die Partie. Danach zeigte er jedoch Nehmerqualitäten und sicherte sich am nächsten Tag mit einem Remis den Sieg im Kandidatenturnier.
Bei der Siegesserie Lekos war vor allem der stilistische Wandel seines Spiels beeindruckend. Ging er Risiken früher oft aus dem Weg, glänzte er jetzt durch aggressives, taktisch betontes Spiel. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die zweite Schwarzpartie gegen Schirow:
SCHIROW – LEKO
Dortmund, 14.07.2002
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 g6 4.Lxc6 dxc6 5.d3 Lg7 6.h3 Sf6 7.Sc3 0-0 8.Le3 In der Vorrunde spielte Adams gegen Leko das ruhigere 8.0-0 und erreichte eine gute Stellung. Aber Schirow lag vor dieser Partie mit 0,5:1,5 im Rückstand und brauchte unbedingt einen Sieg, um nicht in der vierten Partie mit Schwarz auf Gewinn spielen zu müssen. Deshalb strebt er die lange Rochade mit einer Verschärfung des Spiels an. 8…b6 9.Dd2 e5 10.Lh6 Dd6 11.0-0-0
11…a5 Schirows Eröffnungskonzept ist aufgegangen: er hat eine scharfe Stellung mit beiderseitigen Chancen erreicht, und vor einem Jahr hätte man vielleicht sagen können, dass ein Mittelspieltyp entstanden ist, der dem positionell und vorsichtig agierenden Ungarn nicht liegt. Aber in dieser Partie zeigt der „neue Leko“ ein sehr viel besseres Gefühl für die dynamischen Möglichkeiten der Stellung als der gefürchtete Taktiker Schirow.
Übrigens hatten beide diese Stellung beim FIDE-Grand Prix in Dubai zu Beginn dieses Jahres bereits einmal mit schwarz auf dem Brett. Auch der Gegner war der gleiche: Alexander Grischuk. Schirow setzte mit 11…Le6 fort und gewann nach kompliziertem Verlauf. Leko spielte 11…b5 und ein paar Züge später einigte man sich auf Remis. 12.Lxg7 Kxg7 13.g4 a4 14.Se2 Wie soll Weiß die solide schwarze Stellung erschüttern? Schirow entschließt sich zu einem Springertausch besonderer Art: Den Sc3 bringt er zum Königsflügel, um Opfer auf f5 oder h5 vorzubereiten; die Verteidigung des Damenflügels soll der Sf3 übernehmen. Im Nachhinein wirkt dieser Plan jedoch wenig überzeugend, und die Springer hüpfen ziellos und verwirrt übers Brett. 14…b5 15.Sg3 b4 16.Dg5 In seinen Analysen auf Chessgate (www.chessgate.de) greift Stefan Kindermann die Anregung eines Zuschauers in Dortmund auf und empfiehlt 16.c4: „Schlägt Schwarz nicht en passant, ist sein Spiel am Damenflügel tot, schlägt er, wird er mit den Schwächen auf der c-Linie Probleme haben.“ Nach dem Partiezug diktiert nur noch Schwarz das Geschehen. 16…Te8 17.Sd2 a3
18.bxa3? Wie so oft legt Schirow in seinem eigenen Haus Feuer und verschärft das Spiel zu seinem Nachteil. Besser war es, die Königsstellung mit 18.b3 geschlossen zu halten. Nach 18…Dd4 19.Sc4 h6 20.De3 La6 21.Se2 Dxe3+ 22.fxe3 hat er zwar keine ernsthaften Gewinnaussichten, aber ist immer noch im Spiel und im Wettkampf. 18…h6 19.De3 Le6 Im Stile des Gegners gespielt: Leko opfert einen Bauern, um seine Figuren ins Spiel zu bringen. 20.Sb3 Txa3 21.Dxc5 Db8! Ein starker Rückzug. Auf einmal wird deutlich, wie geschwächt und hilflos der weiße König steht. 22.Kb2 Sd7 23.De3 Sb6 24.Ta1
24…c5! Einen Bauern zu opfern, um Angriff zu erhalten ist eine Sache. Den Angriff energisch fortzuführen eine andere. Mit diesem starken und dynamischen Zug bricht Schwarz die weiße Stellung geschickt auf. Weiß kann den Bauern wegen der Springergabeln nicht nehmen (24.Dxc5 Sa4+ bzw. 24.Sxc5 Sc4+) und muss zusehen, wie der Wall um seinen König weiter demontiert wird. 25.Kc1 c4 26.dxc4 Sxc4 27.De1 Da7 28.Dxb4 Dxf2 29.Sf5+ Endlich – und viel zu spät – opfert Schirow seinen Springer; aber mehr als Verzweiflung ist das nicht. 29…gxf5 30.gxf5 Tc8! 31.fxe6 Se3 und Weiß gab auf. Das Ende wollte er sich nicht mehr zeigen lassen. Nach 32.Kb2 gewinnt Schwarz in großem Stil: 32…Dxc2+ 33.Kxa3 Ta8+ 34.Da4 Dc3!
35.Dxa8 Sc2+ 36.Ka4 Db4 matt. Weiß ist hilflos.
Dieses Glanzstück wurde von den Kommentatoren und Berichterstattern in Dortmund zur besten Partie des Kandidatenturniers gewählt.
Partien wie diese illustrieren die beeindruckende Metamorphose eines Weltklassespielers und Ausnahmetalents. Lekos Erfolg beruht dabei nicht auf einer Vertiefung des Eröffnungsrepertoires oder auf einer besonders geglückten Turniervorbereitung, sondern auf einem umfassenden Training, das den einst jüngsten Großmeister der Welt zu einem universellen Spieler der absoluten Weltklasse gemacht hat. Leko hat das vergangene Jahr dazu genutzt, die Lehren aus seiner hohen Remisquote zu ziehen. Er wusste: wenn er wirklich ganz an die Spitze wollte, musste er sein Spiel grundlegend umstellen. Dazu braucht man gute Trainer und ein eingespieltes Team. Leko hat beides. Seine Mannschaft besteht aus seinen Trainern Amador Rodriguez, Arshak Petrosjan und Artur Jussupow und seinem Manager Carsten Hensel. Für den emotionalen Rückhalt sorgt Peter Lekos Frau Sofia Petrosjan.
Aber so ein Team kostet Geld. Auch da hatte Leko Glück. 1999 fand er in der Westfälischen Gas AG, die später in RWE-Gas überging, einen Sponsor, der ihn als Sympathie- und Werbeträger gewinnen wollte, um ein geeignetes Umfeld für Geschäfte in Ungarn zu schaffen. Gut auch, wenn der Sponsor nicht sofort und immer Erfolge sehen will. Denn ein adäquates Training braucht Zeit und bringt zu Beginn meist Rückschläge. Leko ging es nicht anders. Nach dem Entschluss, seinen Stil zu ändern, verlor er im Laufe des letzten Jahres fast 40 Elopunkte und fiel auf Platz 10 bis 11 der Weltrangliste zurück.
Natürlich braucht nicht nur der Sponsor Geduld. Auch der Spieler muss mit Rückschlägen leben können. Neben der Bereitschaft zu andauernder harter Arbeit – bei Leko bis zu acht Stunden Training pro Tag – braucht er die psychische Kraft, Enttäuschungen verkraften und überwinden zu können. Dazu kommt noch die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Selbstkritik. Nicht nur im Schach fällt es schwer, von dem abzulassen, was einmal gut für einen war, und stattdessen einen unsicheren Weg einzuschlagen, auf dem Enttäuschungen vorprogrammiert sind.
Der Sieg beim Kandidatenturnier macht jedoch alle Mühen wett und zeigt, dass Leko auf dem richtigen Weg ist. Zugleich demonstriert er, was ein Ausnahmetalent braucht, um im modernen Schach ganz an die Spitze zu kommen. Neben einem Team erfahrener Trainer und gezielter Förderung vor allem die Motivation zu harter Arbeit und den Willen, sich durchzusetzen. Leko scheint all das zu haben. Wie weit er damit kommt, wird der Wettkampf gegen Kramnik zeigen.