KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

EIN SCHACHROMAN ALS VERWIRRSPIEL

INGOMAR VON KIESERITZKYS „DA KANN MAN NICHTS MACHEN“

Von FM Johannes Fischer

Kieseritzky Da kann man nichts machen Cover

Ingomar von Kieseritzkys,
Da kann man nichts machen,
München: C.H. Beck 2001,
Paperback, 269 Seiten,
19,50 Euro

Was tut man, wenn man im Zug eine Leiche auf der Toilette entdeckt? Vermutlich den Schaffner rufen. Nun ist Vicovic, einer der „Helden“ in Ingomar von Kieseritzkys Roman Da kann man nichts machen selbst der Schaffner und nicht das erste Mal in dieser Situation. Routiniert und geübt befreit er die Leiche von ihren wenigen Wertsachen und stößt dabei auf ein Manuskript eines nicht vollendeten Familienromans. Vicovic, Hobby-Literat mit ernsthaften Ambitionen, der schon seit langem an einem Lobgesang über seine geliebte Eisenbahn, die Buddicom, arbeitet, beschließt dem Toten eine letzte Ehre zu erweisen und seinen Roman zu Ende zu führen.

Damit betritt der Leser die Welt der Kieseritzkys, denn der Tote im Zug ist Randolf Kieseritzky, verkrachter Buchhändler aus Berlin, der sich im Auftrag seiner Tante daran versucht hat, eine Familiengeschichte zu schreiben. Keine leichte Aufgabe, denn diese Familie besteht aus lauter skurrilen Gestalten, die sich nicht immer zugetan sind und gerne schlecht über einander reden. Da gibt es u.a. Artur, den schwermütigen Psychiater, der von dem Hund seiner Geliebten kastriert wurde; Alexander, der durch die Erfindung eines Dosenöffners reich geworden ist, aber nach dem Genuss von Konservennahrung an Lebensmittelvergiftung stirbt; Molly, die von einer „Freundin“ der Familie als „handwerklich begabt, geistig inkontinent“ beschrieben wird; und natürlich Lionel Kieseritzky, den Schachmeister.

Randolf scheitert. An einer defekten Schreibmaschine, an der Unzuverlässigkeit der Erinnerung, an der Schwierigkeit der Erzählens, an seiner Unfähigkeit, die Familiengeschichte in eine Ordnung zu bringen und am Leben überhaupt.

Köstlich unterhalten wird der Leser, dem lauter witzige, bisweilen ins Groteske übersteigerte Geschichten erzählt werden. Stilsicher und souverän führt Kieseritzky seinen Leser dabei durch den Roman und mit Genuss in die Irre. Ein Verwirrspiel, das bereits mit der Identität des Autors beginnt, denn Ingomar von Kieseritzky trägt nicht nur den gleichen Namen wie sein Held, sondern war im „richtigen“ Leben ebenfalls Buchhändler.

Das ganze Buch beschäftigt sich mit dem Erzählen und Erinnern und kommentiert sich mit ironischer Brechung unaufhörlich selbst. So bei einem Besuch Randolfs bei Bruno, einem alten Schulfreund. Bruno hat vier geniale Kinder, eine attraktive Gattin und die Absicht, einen Schachroman zu schreiben, alles „aus der Sicht einer Schachfigur aus dem 17. Jahrhundert, einem König.“ (S.187) Vor allem soll es ein Bestseller werden. Mit zunehmenden Alkoholgenuss der beiden verhinderten Autoren gerät der Abend immer mehr aus den Fugen und irgendwann doziert Anton, der neunjährige Sohn des Hausherrn, über Lawrence Sternes Tristram Shandy: „Dieses Buch [ist] zusammengesetzt aus lauter Abschweifungen, aber systematisch.“ (S.193) Was auch das Motto Ingomar von Kieseritzkys sein könnte.

Eine solche Romankonstruktion darf eigentlich nicht zu einem Abschluss führen. Dementsprechend scheitert Vicovics Versuch, den Familienroman der Kieseritzkys zu beenden. Zum Schluss nimmt er großen Anlauf und bringt einen wirklich genialen ersten Satz zu Papier: „Es war einmal…“

Allerdings: Schachspieler, die hoffen, mehr über Lionel Kieseritzky zu erfahren, werden enttäuscht. Da der Roman stets falsche Fährten legt und keine seiner Informationen zuverlässig ist, steht man am Ende kaum klüger da als am Anfang. So wird über Lionel berichtet, dass er unter infernalischen Kopfschmerzen leidet, in einer verhängnisvollen, inzestuösen Dreiecksbeziehung mit seiner Schwester Lydia und Bruder Guido steckt und seine Tage und Nächte schachspielend im Cafe de la Régence verbringt, wo er andere große Geister der damaligen Epoche trifft. Was im Detail stimmen kann oder auch nicht.

Aber was weiß man denn nun von Lionel Kieseritzky, außer dass er die „Unsterbliche Partie“ gegen Adolf Anderssen verloren hat? Recht wenig. Das einzige umfangreichere Werk über ihn trägt den Titel Zagadka Kieseritzky’ego (etwa: Das Rätsel Kieseritzky), ist 1996 in polnischer Sprache erschienen und stammt von Tomasz Lissowski und Bartlomiej Macieja; die folgenden Angaben beruhen auf einer englischen Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen des Buches.

Geboren wurde Lionel Kieseritzky am 1.1.1806 in Dorpat, dem heutigen Tartu in Estland als Sohn einer deutschstämmigen Familie. Glaubt man der Legende, brachte ihm sein Vater Grundzüge des Schachspielens bereits mit drei Jahren bei. Den Feinschliff übernahm anschließend Bruder Felix.

Von 1825-29 studierte Kieseritzky an der Universität von Dorpat Sprachen und Jura, verließ die Universität allerdings ohne Abschluss und arbeitete danach als Privatlehrer für Mathematik. Viel Zeit muss er auch dem Schach gewidmet haben, denn er zählte damals bereits zu den besten Spielern der „Ostseeprovinzen.“

1839 führten private Querelen zu seinem Entschluss, nach Paris zu gehen und dort sein Glück als Berufsschachspieler zu versuchen. Er wurde zu einem Dauergast im Café de la Régence, verlieh sich den Titel eines „Schachprofessors“, gab Unterricht und spielte gegen Gäste. Dabei brillierte er vor allem im Blindspiel und schraubte 1851 Philidors Rekord ein wenig höher, indem er gegen 4 Gegner gleichzeitig blind antrat. Zudem schrieb er Artikel für die Berliner Schachzeitung und Le Palamede. 1846 veröffentlichte Kieseritzky ein Buch mit 50 seiner eigenen Partien und von 1849 bis 1851 gab er die monatlich erscheinende Zeitschrift La Régence heraus. In seinen Veröffentlichungen verwandte er stets eine von ihm entwickelte Form der Notation, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte.

1851 war ein wichtiges Jahr für Kieseritzky. Er nahm in London am anlässlich der Weltausstellung ausgetragenen ersten Turnier der Schachgeschichte teil, wo er gleich in der ersten Runde gegen Anderssen, den späteren Sieger, in einem Mini-Match antreten musste. Er verlor 0,5:2,5. Anschließend spielten die beiden noch eine Reihe von freien Partien, bei denen Kieseritzky mit 10:6 die Oberhand behielt. Aber Kieseritzky war einfach kein Glück beschieden: eine dieser freien Partien war die berühmte „Unsterbliche Partie“, die Kieseritzky zu dem vielleicht berühmtesten Verlierer der Schachgeschichte machen sollte.

Dabei wäre die Partie ohne ihn der Nachwelt vermutlich gar nicht erhalten geblieben. Denn er selbst veröffentlichte die spektakuläre Verlustpartie in seiner Zeitschrift La Régence; mittlerweile dürfte sie eine der meist reproduzierten Partien aller Zeiten sein. Den Beinamen „Die Unsterbliche Partie“ verlieh ihr Falkbeer im Jahre 1855 in der Wiener Schachzeitung.

Das allerdings hat Kieseritzky nicht mehr erlebt. Er starb am 19. Mai 1853 in der Pariser Charité an den Folgen eines hartnäckigen Nervenleidens.

Vom Spielstil her war Kieseritzky der klassische Kaffeehausspieler des romantischen Schachs: in seinen Partien dominieren wilde Opferattacken, die oft ohne positionelle Grundlage sind. Es ist ein wildes Hauen und Stechen, in dem der gegnerische König ohne Rücksicht auf Verluste angegriffen wird. Heute wirken diese Partien oft grobschlächtig und inkorrekt. Vom Standpunkt des Positionsspielers taten sie das ohnehin schon lange, aber mittlerweile leuchten moderne Computerprogramme auch noch die taktischen Schwächen unbarmherzig aus. Auf bizarre Art reizvoll sind sie trotzdem. Nachfolgend ein typisches Beispiel.

DESLOGES – KIESERITZKY
Paris 1841

1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Lc4 b5 Eine Spezialität Kieseritzkys. Schwarz gibt sofort einen Bauern zurück, um den Läufer von f7 abzulenken und den eigenen Weißfelder schneller ins Spiel bringen zu können. 4.Lxb5 Dh4+ 5.Kf1 g5

Hier lässt sich so etwas wie eine theoretische Debatte verfolgen. Später probierte Kieseritzky 5…Sf6 und gewann manch hübsche Partie, so z.B. gegen Schulten im Jahre 1844: 6.Sc3 Sg4 7.Sh3 Sc6 8.Sd5 Sd4 9.Sxc7+ Kd8 10.Sxa8 f3 11.d3 f6 12.Lc4 d5 13.Lxd5 Ld6 14.De1 fxg2+ 15.Kxg2

15…Dxh3+ 16.Kxh3 Se3+ 17.Kh4 Sf3+ 18.Kh5 Lg4#

Auch die „Unsterbliche“ wurde mit dieser Variante eingeleitet. Dort spielte Anderssen jedoch nicht wie Schulten 6.Sc3 sondern 6.Sf3; und nach 6…Dh6 7.d3 Sh5 8.Sh4 Dg5 9.Sf5 c6 10.g4 Sf6 11.Tg1 cxb5 12.h4 Dg6 13.h5 Dg5 14.Df3 Sg8 15.Lxf4 Df6 16.Sc3 Lc5 kam es nach 17.Sd5 zu dem berühmten Opferreigen.

17…Dxb2 18.Ld6 Dxa1+ 19.Ke2 Lxg1 20.e5 Sa6 21.Sxg7+ Kd8

22.Df6+ Sxf6 23.Le7#

Wie sehr die „Unsterbliche“ das Schachbewusstsein geprägt hat, illustriert die folgende kuriose Partie zwischen Short und Kasparow, in der Short statt Anderssens 7.d3 sofort 7.Sc3 spielte. Nun würde Kasparow vermutlich im Leben nicht daran denken, freiwillig einen Zug wie 3…b5 zu machen; aber ganz freiwillig geschah dies auch nicht. Zum Ende des einseitigen PCA Weltmeisterschaftskampf zwischen Short und Kasparow in London 1993 gab es noch ein wenig Show für die Zuschauer und die beiden spielten eine Reihe von Schnellpartien. Nachdem Kasparow sich problemlos mit 4:0 durchsetzen konnte, kam es zu Themapartien mit vorgegebenen Stellungen. Eine davon stammte natürlich aus der Partie Anderssen – Kieseritzky. Vermutlich war dies bereits mehr inkorrektes Schach als der Meister ertragen konnte, denn er erlitt fürchterlichen Schiffbruch und verlor in nur 15. Zügen: Nach 7…g5 8.d4 Lb7 9.h4 Tg8 10.Kg1 gxh4 11.Txh4 Dg6 12.De2 Sxe4 13.Txf4 f5 14.Sh4 Dg3 15.Sxe4

gab Kasparow auf! Nach 15…Lxe4 16.Txe4+ fxe4 17.Dxe4+ Kd8 (17…Le7 18.Sf5 Dxg2+ 19.Dxg2 Txg2+ 20.Kxg2+-; 17…Kf7 18.Lc4+ Kg7 19.Sf5+) 18.Lf4 Dxh4 19.Lxc7+ verliert Schwarz die Dame. (vgl. auch G. Burgess, J. Nunn, J.Emms, The World’s Greatest Chess Games, New York: Carroll & Graf, 1998, S. 15).

Nach diesem längeren Exkurs endlich zurück zur eigentlichen Partie. 6.Sf3 Dh5 7.Le2 g4 8.Sd4 d6 9.h3 Lg7 10.Sb3 f3 11.gxf3 gxh3

Jetzt ist eine bizarre Stellung entstanden, in der nicht klar ist, wer eigentlich besser steht: der Weiße mit seiner Zentrumsmehrheit und seinem gefährdeten König, oder der Schwarze mit seinen besser entwickelten Figuren und Chancen auf Königsangriff. In der Folge vernachlässigt Weiß jedoch seine Entwicklung, um kurzfristige Drohungen aufzustellen, bzw. zu parieren. 12.f4 Dh4 13.d3 h2 14.Lf3 Sc6 15.d4 15.De1!? 15…La6+ 16.Kg2 Sh6 17.Txh2 Auch 17.e5 macht einen guten Eindruck. 17…Sf5 18.Lxc6+ Kf8 19.Txh2 17…Df6 18.Le3 Tg8 19.Dh1 Sxd4 20.Sxd4

20…Dxd4 Objektiv betrachtet ist das Damenopfer nicht korrekt. Heute hätte man sich vermutlich für 20…Dg6+ 21.Kf2 (Aber nicht 21.Kh3 Lxd4 22.Tg2 Lc8+ 23.f5 Sxf5 24.Txg6 Sxe3+mit Gewinn für Schwarz) 21…Lxd4 22.Tg2 Df6 23.Txg8+ Sxg8 mit ungefährem Ausgleich entschieden. 21.Lxd4 Lxd4+ 22.Kh3 Lc8+ 23.Kh4 Lf6+ 24.Kh5 Tg6

Das hatte Kieseritzky wohl im Sinn, als er seine Dame opferte. Es droht Sg8 nebst Th6#. Diese Stellung liefert ein gutes Beispiel für die mangelnde Verteidigungskunst der damaligen Zeit, von der die Romantiker immer wieder profitierten. In der Partie wählte Weiß den Verlustzug 25.Tg2? Aber warum spielte er nicht das naheliegende 25.f5? Wahrscheinlich, weil er die hübsche Variante 25…Lxf5 26.exf5 Sxf5 mit undeckbarem Matt gesehen hatte. Aber genau hier liegt der Hase im Pfeffer: Denn wenn Weiß den Läufer f5 nicht reflexartig nimmt, sondern 26.Dc1! spielt und das wichtige Feld h6 deckt, kommt der schwarze Angriff nicht weiter. Weiß steht auf Gewinn. 25…Sg8! Jetzt behält Kieseritzky recht. Weiß wird Matt oder verliert Material. 26.f5 Th6+ 27.Kg4 Txh1 0-1