KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

IM BANNE DER SAVANNE

Von Tareq Syed

Williams Black Lion 2022

Simon Williams,
Opening Repertoire: The Black Lion,
Everyman 2022,
336 S., Paperback, 23,50 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma  Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Die seit gut 25 Jahren als Black Lion bezeichnete Nebenvariante der Philidor-Verteidigung ist nicht nur ein eröffnungstheoretisches, sondern auch ein schachsoziologisches Phänomen. Jedenfalls darf man sich fragen, wie eine qualitativ minderwertige Veröffentlichung einen neuen Schach-Zoologismus begründen konnte, und dies unter Umgehung ehrwürdiger Namen wie Philidor, Marco, Aljechin und Tartakower. Solches geschah anno 1997 mit dem Buch De leeuw, het zwarte wapen von L. Jansen und J. van Rekom, das in Holland ein großer Verkaufserfolg wurde und von dort aus zunächst einmal Deutschland invadierte (der Rezensent erstand sein Exemplar am Rande der Frankfurter Chess Classic „Giants“-Veranstaltung mit Kasparow, Karpow, Anand und Kramnik 1999). Die erste englische Version lag 2001 vor, und als 2008 im – eigentlich qualitätsbewussten – New in Chess Verlag eine second, fully revised and updated edition angekündigt wurde, durfte man als Käufer gespannt sein, ob das eröffnungstheoretische Prototypenstadium nun endlich überwunden ist. Um die Einleitung abzukürzen: Der leider schon 1988 verstorbene holländische GM Jan Hein Donner, bekannt für seine legendären Verrisse, hätte aus all diesen „Lions“ lustige Bettvorleger fabriziert.

Demzufolge war es ein offenes Geheimnis, dass es für eine ernsthafte Untersuchung besagten Philidor-Abspiels noch jede Menge Luft nach oben gibt. GM Simon Williams, der bereits 2016 eine ChessBase-DVD zum Thema produziert hat, legt nun also die erste „großmeisterliche“ Monographie dieser etwas dubiosen, aber gar nicht selten gespielten Nebenvariante vor.

Was das Original-Philidor betrifft, so ist schon lange bekannt, dass die alte Zugfolge 1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.d4 aus Schwarzsicht Probleme birgt, die Grundstellung daher besser via 1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.Sc3 e5 (oder 3…Sbd7!?) 4.Sf3 Sbd7 anzustreben ist.

Speziell in der klassischen Hauptvariante 5.Lc4 Le7 6.0-0 kann der Nachziehende dann überlegen, ob er anstelle der üblichen kurzen Rochade etwas Riskanteres auspackt, und zwar die Vorbereitung des Bajonettangriffes g7-g5 mittels 6…h6. Diese reichlich wilde „Dschungelvariante“ – oder besser: Savannenvariante – steht im Zentrum jenes 1…d6-Komplexes, für den sich irgendwann nach 1997 der Name Lion durchgesetzt hat. Zum Zwecke des g7-g5-Ausfalles kann man schon einen Zug früher 5…h6 spielen, oder auch später als im sechsten Zug. Ausreichende Deckung des Punktes e5 vorausgesetzt, bringt Schwarz, nachdem er g7-g5 abgefeuert hat, meist das Folgemanöver Sd7-f8-g6 aufs Brett und hofft auf einen vernichtenden Königsangriff.

Auf den ersten Blick zu urteilen, geht Williams recht zielorientiert vor. Einer kurzen Einleitung mit historischem Rückblick von gerade einmal zwei Partien lässt er die „correct move order“ 5.Lc4 Le7 6.0-0 c6 7.a4 Dc7 folgen.

Erst aus dieser Aufstellung heraus will er …h6 nebst …g5 sehen (S.17). Es folgen thematische Zugfolgen, Mittelspielsituationen und Partien. Letztgenannte führen naturgemäß das Angriffspotenzial des Schwarzen vor, machen in dieser Eigenschaft Lust auf praktische Erprobung und stellen angesichts Williams’ instruktiver Erläuterungsarbeit sicherlich den besten Teil des Buches dar. Kritisch vermerken muss man aber, dass er seinen Lesern nicht wirklich erklärt, warum anstelle des von ihm empfohlenen, späten h7-h6 Alternativen wie 5…h6, 6…h6 oder 7…h6 weniger „correct“ sein sollen. Erst weiter hinten im Text – und dann auch nur beiläufig – wird angemerkt, dass eigentlich kein großer Unterschied bestehe (S.117, S.122, S.129).

Dieser eher defizitäre Umgang mit Historie und Vorgängern fällt bei genauerem Hinsehen am meisten auf; beispielsweise existiert kein Verzeichnis benutzter Literatur. Und das kann nicht nur daran liegen, dass die ersten „Lion“-Bücher ziemlich wirre Kompilationen waren, denn Williams hat auch etablierte Theorieinhalte zu berücksichtigen, wie sie schon x-fach in Vorgängerwerken zur klassischen Philidor-Verteidigung aufbereitet worden sind. Bei der von ihm empfohlenen Zugfolge muss Schwarz z.B. die verschiedenen Abspiele mit frühem Einschlag auf f7 kennen, eine rustikale Behandlungsweise, die Williams als „White’s Caveman Approach“ verulkt (S.188ff.). Nun ist zwar hinlänglich bekannt, dass nach 5.Lc4 Le7 das sofortige 6.Lf7:+? auf weißen Verlust hinausläuft, aber ebenso wie schon auf seiner DVD scheint Williams nicht klar zu sein, dass die Vorbereitung des Einschlages mittels 6.dxe5 dxe5 und dann erst 7.Lf7:+ keine ganz so triviale Angelegenheit darstellt (7.Sg5 nebst 8.Lxf7+ ist eine weitere Möglichkeit). Dieses für eine gute Schwarzvorbereitung durchaus studierenswerte Abspiel auszulassen ist nur eines von mehreren Indizien, dass der britische GM die Philidorverteidigung nicht besonders gut kennt. Zudem hinterlässt er auch außerhalb der Hauptvarianten gewisse Leerstellen: So empfiehlt er auf 1.e4 d6 2.f4 die „skandinavische“ Spielweise 2…d5!?, behandelt jedoch 2.Sc3 nebst f2-f4 nicht, was weniger sattelfesten Buchbenutzern unerfreuliche Erfahrungen bescheren könnte.

Doch bleiben wir beim Lion im engeren Sinne, also 1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.Sc3 e5 4.Sf3 Sbd7 5.Lc4 Le7 6.0-0 c6: Williams widmet trotz der empfohlenen 6…c6/7…Dc7-Zugreihenfolge auch der verzögerten Rückkehr in den klassischen Schwarzaufbau mittels 8…0-0 ein eigenes Kapitel (S.105ff.). Dies hat nicht nur damit zu tun, dass Weiß die kurze Rochade praktisch erzwingen kann, indem er Sg5 einstreut (eine Möglichkeit, die der Anziehende über mehrere Züge hinweg besitzt, da Williams ja erst relativ spät die …h6/…g5-Karte aufdecken will). Schwarz sollte laut Williams auch sonst nicht zu krampfhaft an der g7-g5-Idee festhalten, denn nach etwa 6… c6 7.a4 Dc7 8.b3 h6 9.Lb2

…sei es für ihn gesünder, einfach 9… 0-0 fortzusetzen (S.12; vgl. auch S.36, S.125 u. S.152). Jedenfalls darf man es schon im Sinne der Flexibilität als sinnvoll begrüßen, dass Williams wiederholt auf die Option …0-0 hinweist (er nennt sie „Tame Lion“, in Abgrenzung zum „Risky Lion“ …h6/…g5).

Gemäß Williams’ variantenübergreifender Terminologie hat Schwarz im Hauptabspiel schon im dritten Zug die Wahl zwischen „tame“ und „risky“: nach 1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.Sc3 kann er mit 3…e5 das Zentrum absichern, muss aber Damentausch zulassen (=„tame“), oder aber, er weicht dem Damentausch mit 3… Sbd7!? aus, was nach 4.f4! oder 4.g4!? viel schwieriger zu behandeln ist (=„risky“). Dass die von Jansen/van Rekom 1997 eingeführte Lion-Benennung sich durchsetzen konnte hängt sicher auch damit zusammen, dass all diese Abspiele vorher keinen gängigen Namen hatten.

In Sachen Spielbarkeit gesteht Williams zu, dass speziell beim …h6/…g5-Bajonettangriff sowie in der gerade genannten 3… Sbd7!? 4.f4!-Variante die Enginebewertungen oft bedenklich schlecht für Schwarz ausfallen. Er rät dem Leser, sich davon nicht schrecken zu lassen, und gibt auf S.141f. ein exemplarisches Beispiel, bei dem das neuronale Netz Leela den schwarzen …h6/…g5-Vormarsch viel günstiger bewertet als Stockfish. Auch auf S.117ff. stellt Williams bei seiner Analyse einer Simultanpartie Karpow-Jansen 1976 die für Schwarz ungünstige Bewertung von Stockfish in Frage, hier leider weniger überzeugend (weil „weniger Leela“). Trotzdem darf man festhalten, dass Simultanpartien wie die gerade genannte wohl einiges zur Verbreitung der …h6/…g5-Angriffsidee beitrugen: Im holländischen Erstlingswerk findet man außer Karpow-Jansen 1976 auch noch Hübner-Jansen 1971, beide endeten Remis – ebenso wie in der Damentauschvariante Kortschnoi-Jansen 1968. Für Amateurspieler ist es natürlich reizvoll, eine neue Schwarzverteidigung auszuprobieren, die von drei Weltklasseleuten der damaligen Zeit nicht „widerlegt“ werden konnte.

Wie sieht es nun fünfzig Jahre später aus? Betrachtet man speziell die repräsentative …h6/…g5-Idee, so bleiben doch einige Zweifel. Beispielsweise betont Williams das ganze Buch hindurch, dass man, sobald man …h7-h6 gespielt hat, besser sofort mit …g7-g5 als mit …Sf8 fortfahren sollte, da Weiß auf …Sf8 über die störende Option Sh4 verfüge: Der weiße Königsspringer steuert das attraktive Feld f5 an. Da diese William’sche Warnung quasi omnipräsent ist, muss es umso mehr auffallen, dass er die Option Sh4 ziemlich konsequent übersieht, wenn Schwarz soeben …h6 gezogen hat. Denn wieso sollte Sh4 in diesem Moment noch unwichtig sein, und erst ein beachtenswerter Kandidat, sobald Schwarz …Sf8 folgen lässt? Erklärungen dafür finden sich im Buch nicht, und es drängt sich der Verdacht auf, dass genau hierin eine gewichtige theoretische Schwachstelle bestehen könnte.

Dies verwundert umso mehr, als es zu einem guten Repertoirebuch ja dazu gehören sollte, sich angemessen in die Gegenseite hineinzuversetzen: Wenn Schwarz mit seinem …c6/…Dc7-Aufbau zunächst die Rochade hinauszögert und anschließendes h7-h6 überdeutlich signalisiert, dass er mit g7-g5 liebäugelt – könnte Weiß seinem Gegner dieses Ansinnen verderben, und zwar so, dass er Aussichten auf Eröffnungsvorteil behält? Könnte er hierbei auf die Idee Sh4 verfallen?

Als konkretes Beispiel sei 5.Lc4 Le7 6.0-0 c6 7.a4 Dc7 8.Le3!?

…angeführt, eine Möglichkeit, die Williams auf seiner DVD noch völlig unterschätzte, d.h. wegen 8… Sg4? verwarf. Im Buch (S.151) hat er mittlerweile bemerkt, dass 8…Sg4? 9.Sg5! ziemlich mies für Schwarz ist, also wird die „Lion“-Spielweise 8…h6 angegeben. Genau dies ist bei der von ihm empfohlenen Zugfolge (fast) immer ein kritischer Moment, da Weiß eben schon hier – und nicht erst bei …Sf8 – 9.Sh4!? antworten kann, womit sich die von Schwarz ersehnte, schnelle „Vorwärtsverteidigung“ g7-g5 zunächst einmal erledigt hat. Stattdessen darf der Nachziehende herausfinden, wie er mit dem unangenehm wirkenden Sh4-f5 umgehen soll, und potenziell sind auch f2-f4-Ideen zu beachten. Unverständlicherweise erwähnt Williams diese plausible weiße Reaktion auf …h6 nur ein einziges Mal, und zwar bei 8.b3 h6, wo 9.Sh4!? wegen 9…exd4 10.Dxd4 Se5 nicht besonders effektiv sein soll (S.148). Bei anderen achten Zügen wie 8.h3, 8.La2 oder eben 8.Le3!? könnte dies aber anders aussehen: Die Engine-Bewertungen für 9.Sh4!? als Reaktion auf 8…h6 sind hier allesamt sehr gut für Weiß, und vor allem spricht die Weißbilanz in der Datenbank eine deutliche Sprache.

Man darf die Voraussage wagen, dass sich in den nächsten Jahren weitere Sh4-Weißerfolge in den Datenbanken ansammeln werden – nicht nur, weil es objektiv ein gesundes Gegenrezept gegen den schwarzen g7-g5-Plan darstellt, sondern vor allem, weil es auf Schwarzspieler frustrierend wirken muss, von g7-g5-Glanzpartien à la Aronian-Kramnik 2018 zu träumen und dann, quasi einen Zug vor dem Losschlagen, mit ganz anderen, unerwarteten Stellungsproblemen konfrontiert zu werden. Unter den zukünftigen Opfern dieses weißen Anti-Lion-Konzeptes werden ziemlich sicher auch Benutzer von Williams’ Werk sein – doch glücklicherweise unterbreitet der GM ja das Angebot, statt …h6/…g5 auf die normale …0-0-Spielweise umzuschwenken. Sollte der Black Lion demnächst also aussterben wie vor 12.000 Jahren der Höhlenlöwe, so bleiben ernüchterten Buchkäufern wenigstens noch Rückzugsgefechte auf traditionellem Philidor-Boden – weitab von Steppe und Savanne.

Eine allgemeine Bemerkung zum Schluss: In Kaissiber 21 aus dem Jahr 2005 wurde eine dreiseitige Lion-Untersuchung von Martin Bergmann abgedruckt. Anhand einer Partie Bergmanns aus der Kreisklasse (!) Stuttgart-Ost 2001 wurde dort bereits die gerade angesprochene Sh4!?-Idee als kritisch für Schwarz erkannt (unter Einschaltung des Zugpaares 8.dxe5 dxe5, was ungenau sein mag, aber ebenso wie sofortiges Sh4 den g7-g5-Plan ausbremst). Außerdem fasste Bergmann die Historie der Variante genauer zusammen als Williams, indem er zunächst aus Aljechins Meine besten Partien von 1929 zitierte (wo der damalige Weltmeister die …h6/…g5-Angriffsidee empfahl) und den schon von Aljechin angegebenen Schwarzsieg Yates – Marco, Den Haag 1921, wiedergab. Verglichen mit diesem Vorgänger scheint Williams den Hinweis Aljechins nicht zu kennen; jedenfalls gibt er fälschlicherweise an, dass Canal – Brinckmann, Rogaska Slatina 1929, die früheste Philidor-Partie zum …h6/…g5-Thema sei.

Kurz: Eine wirklich hochwertige Darstellung dieser mittlerweile „altehrwürdig“ zu nennenden Philidor-Spielweise hat der Buchmarkt bis heute nicht zu bieten.