UNTERHALTSAM UND LEHRREICH
JOHN NUNNS UNDERSTANDING CHESS: MOVE BY MOVE
Von Johannes Fischer
John Nunn,
Understanding Chess:
Move by Move,
London, Gambit: 2001,
240 S.,
ca. 46,- DM
(Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Wie auch auf anderen Gebieten schreitet die Wissensexplosion im Schach mit gewaltigem Tempo voran. Neben Datenbanken, die mittlerweile Partien enthalten, die früher nicht einmal aufgezeichnet worden wären, liefert das Internet täglich neue Partien – gelegentlich mit Kommentaren versehen, die so gründlich und ausführlich sind wie manche Kommentare der Klassiker der Schachliteratur. Schachprogramme spielen nicht nur gewisse Endspielstellungen perfekt, sondern sie treiben auch die Entwicklung der Eröffnungstheorie schneller denn je voran. Ebenso verändern Schachcomputer mit ihren oft paradox anmutenden, allein auf taktischen Berechnungen ruhenden Zügen, das schachliche Denken: immer mehr bewegt man sich von allgemeinen Regeln zur konkreten Einschätzung der jeweiligen Position.
Eine Entwicklung, die, wie John Nunn in seinem neuen Buch Understanding Chess meint, von den traditionellen Lehrbüchern nur unzureichend berücksichtigt wird. Laut Nunn bewegen sich die meisten dieser Bücher auf dem Stand der Mittelspieltheorie von 1950 und täuschen mit den von ihnen gelieferten Beispielen eine trügerische Einfachheit vor. Understanding Chess möchte nun nicht mehr und nicht weniger als ein Lehrbuch des zeitgenössischen Schachs in seiner ganzen Komplexität sein: „Ich hoffe, diese moderne Einstellung zum Schach auf eine Art darstellen zu können, die für eine breite Leserschaft verständlich ist.“
Dazu hat Nunn eine Auswahl von 30 modernen Großmeisterpartien getroffen, die ausführlich analysiert und erläutert werden. 27 von 30 dieser Partien wurden in den neunziger Jahren gespielt, die älteste Ende der siebziger Jahre. Jede einzelne Partie illustriert ein bestimmtes Thema, wie Raumvorteil oder das Spiel bei entgegengesetzten Rochaden, offene Linien, das Läuferpaar usw.. Dabei stehen bekannte Partien wie Kasparov – Shirov, Horgen 1994 oder Short – Timman, Tilburg 1991 neben (noch) nicht so bekannten. Allen Partien gemeinsam ist, dass sie von etwa gleichrangigen Großmeistern gespielt wurde – einseitige Demonstrationen der Vor- und Nachteile strategischer Motive, die sich sonst in manchem Buch finden, hat Nunn bewußt vermieden. Jeder Partie vorangestellt ist eine kurze Einleitung, die in das jeweilige Motiv und die damit einher gehenden grundsätzlichen Strategien einführt. Die Partien selbst sind ausführlich kommentiert – im Sinne einer umfassenden Verständlichkeit wird beinahe jeder Zug erläutert und zudem finden sich, wie man es von Nunn gewohnt ist, detaillierte, variantenreiche Analysen.
Dies bezeugt den Anspruch die Komplexität modernen Schachs für „eine breite Leserschaft verständlich“ zu machen und bedeutet zugleich einen gewagten Spagat, der gelegentlich zu einer auf den ersten Blick befremdlich anmutenden Mischung aus Trivialem und Anspruchsvollem führt: auf der einen Seite komplexe Analysen, auf der anderen Seite die Mitteilung, dass 1.d4 neben 1. e4 einer der meist gespielten Anfangszüge ist. Bei solch unterschiedlichen Kommentaren taucht die Frage, an wen sich dieses Buch eigentlich wendet und welchen Sinn diese ausführlichen Erläuterungen haben, ganz von alleine auf.
Dazu geben wir am Besten Nunn selbst das Wort. Die folgende Stellung entstand nach dem 11. Zug von Schwarz in der Partie Shirov – Reinderman, Wijk aan Zee, 1999. Wer den Namen Shirov liest, wird vielleicht versucht sein, nach einem spektakulären Opfer Ausschau zu halten. Aber vorerst geht es „nur“ um das Formulieren eines Plans in der Phase zwischen Eröffnung und Mittelspiel:
Shirov spielte 12.a4, einen Zug, den Nunn wie folgt kommentiert:
„Natürlich hätte sich Shirov mit Tad1 weiter entwickeln können, aber Weiß sollte überlegen, welchen Plan er verfolgen will, nachdem alle Figuren ins Spiel gebracht sind. Ein direkter Königsangriff hat wenig Aussicht auf Erfolg, da die weissen Figuren nicht gegen den schwarzen Königsflügel gerichtet sind. Die Hauptidee des Weißen muss sein, die Voraussetzungen für einen Königsangriff zu verbessern. Ein Plan besteht in 12.e5, mit der Absicht Züge wie Se4, Tad1, Ld3 usw. folgen zu lassen. Allerdings bringt dies wohl recht wenig, wenn Schwarz 12…d6 oder 12….d5 antwortet.
Shirov entscheidet sich stattdessen für ein langsameres Vorgehen. Der Textzug erzwingt praktisch …b4, wonach Weiß seinen Springer mittels Sb1-d2 umgruppieren kann. Jetzt ist Weiß in der Lage seinen Läufer mit Ld3 gegen den schwarzen König in Stellung bringen, da Sb4 nicht mehr geht. Den Umständen entsprechend kann der Springer entweder nach f3 gehen, um den Angriff zu unterstützen, oder auf c4 Druck auf den schwarzen Damenflügel, insbesondere auf das Feld b6, ausüben. Wenn sich Weiß für diesen Plan entscheidet, dann sollte er das tun, solange der Turm noch auf a1 steht, da Schwarz sonst nicht zu …b4 gezwungen ist.“
Ein Kommentar, der so manchem Eröffnungsbuch gut zu Gesicht stünde und einer, der bei mir den einen oder anderen Aha-Effekt ausgelöst hat: erklärt wird tatsächlich die Strategie beider Seiten und die schachlichen Zusammenhänge, die diesen Strategien zugrunde liegen. Dies ist charakteristisch für das gesamte Buch: stets macht Nunn deutlich, was geschieht und welche Ziele die beiden Parteien verfolgen. In einer geschickten Verbindung allgemeiner strategischer Erwägungen und konkreter taktischer Erfordernisse, verweist Nunn dabei auf Alternativen, kritische Stellen und Wendepunkte der jeweiligen Partie – oft sehr ausführlich. Natürlich ist solche Ausführlichkeit mitunter schwer verdaulich und gelegentlich kann der Eindruck entstehen, man verliere den Wald vor lauter Bäumen aus den Augen. Aber dies illustriert das von Nunn konstatierte grundsätzliche Problem: da positionelle Regeln im modernen Schach immer seltener in Reinkultur anzutreffen sind, wird man dem Geschehen ohne konkrete Analysen kaum gerecht. Deshalb noch einmal Shirov – Reinderman:
In dieser Stellung spielte Schwarz 21.-Dd7, wonach Shirov ohne zu zögern auf h7 opferte und nach 22.Lxh7+ Kxh7 23.Dh4+ Kg8 24.Sg5 Te8 25.Tf3 Se7 26.Dh7+ Kf8 27.Dh8+ Sg8 28.f5 exf5 29.e6 fxe6 30.Tg3 g6 31.Sh7+ Kf7 32.Lh6 Ke7 33.Lg5+ Kf7 34.Lf6 Tf8 35.Tc7 Sxf6 36.Dxf6+ Ke8 37.Dxg6+ Kd8 38.Txd7+ Lxd7 39.Sxf8 Lxf8 40.Df6+ Le7 41.Tg8+ Kc7 42.Dc3+ Kb7 43.Txb8+ Kxb8 44.h4 1-0 eine phantastische Angriffspartie gewann.
Nunn gibt hier 21…Txb3 22.Lxh7+ Kxh7 23.Sd4 als Alternative an, wonach er drei mögliche Züge für Schwarz analysiert. Sehr aufschlussreich ist dabei die Variante 23…Tb4 24.Txc6 Db7 25.Tc3 Lb2 26.Dc2+ Kg8 27.Tc7 Lxd4 28.Lxd4 Da8 29.Dc3, zu der Nunn schreibt: „Schwarz steht unbequem. Das Materialverhältnis ist ausgeglichen, aber die weißen Figuren stehen aktiv und der schwarze Königsflügel bleibt wegen des fehlenden h-Bauern weiter schwach.“ Bemerkenswert finde ich, wie der Partiezug 21.-Dd7 zu einem spektakulären Königsangriff führt, während ein anderer Zug nach etlichen Verwicklungen eine Stellung ergibt, in der Weiß lediglich positionelles Übergewicht hat. Ein typischer Themenwechsel, der ohne entsprechende Varianten verborgen bleibt.
Natürlich könnte man hier je nach Spielstärke und Einstellung einwenden, diese Kommentare seien entweder zu kompliziert oder aber zu trivial. Dennoch glaube ich, dass Understanding Chess seinem selbstgesteckten Ziel gerecht wird und Spieler unterschiedlichster Stärke anspricht. Denn viele Lehrbücher, die mit fortgeschrittener Spielstärke vereinfachend und recht anspruchslos wirken, waren vielleicht einmal wahre Offenbarungen. Dann wieder gibt es Bücher, die gerade weil sie so komplex und schwierig erschienen, einen ganz eigenen Zauber und Reiz ausübten und den Wunsch geweckt haben, diese geheimnisvollen Rätsel zu lösen. Bei Nunn findet sich beides – das Triviale und das Geheimnisvolle. Und wie bei anderen Büchern auch kommt hier viel auf das Zusammenspiel von Autor und Leser an. Der Autor macht bestimmte Angebote und der Leser muß bereit sein, sich darauf einzulassen.
Das hier Gebotene ist zweifellos attraktiv. Denn ob Kommentar oder Analyse: Nunns Schachverständnis und sein Wunsch, dieses Wissen weiter zu geben, ist das gesamte Buch hindurch spürbar. Dadurch wird Understanding Chess dem im Titel gemachten Versprechen immer gerechter, je mehr man sich damit beschäftigt. Und nimmt sich dafür trotz der immer weiter und schneller wachsenden Datenflut die Zeit, kann man an diesen 30 Partien lange Spaß haben – und nebenbei eine Menge lernen.