WOCHENSCHACH TÄGLICH

Um The Week in Chess zu bekommen, hat sich schon mancher Großmeister Modem und Internetanschluss besorgt. Ein Gespräch mit Mark Crowther, dem Mann hinter der Mutter aller Schach-Websites.

Text: Stefan Löffler
Bild: John Henderson

Mark Crowther

Freitagnachmittag. Mark Crowther sitzt in Bradford an seinem Schreibtisch. Für The Week in Chess (TWIC) gibt es nicht viel zu tun. Zeit für seine Kolumne im Barbados Courier. Moment mal, Barbados liegt doch in der Karibik? Crowther lacht. Nein, er sei noch nie in der Karibik gewesen. Vor knapp einem Jahr habe der Courier jemand gesucht, der zweimal die Woche aus der Welt des Schachs berichtet. Dabei sei die Tageszeitung auf TWIC gestoßen. Ein paar E-Mails gingen hin und her, und der neue Kolumnist hieß Mark Crowther.

Wer im Internet nach Schachnachrichten sucht, stößt über kurz oder lang auf seine Homepage. In den ersten Jahren war er konkurrenzlos, gewissermaßen ist er das noch immer. Seit 1994 bringt er Partien, Resultate, Nachrichten. Crowther aktualisiert die Seite praktisch täglich. Vor allem der Umfang und die Qualität der wöchentlich gelieferten, aktuellen Partien zeichnet TWIC vor anderen Anbietern von Schachnachrichten aus.

KARL: Mark, was gefällt Ihnen am Internet?
CROWTHER: Es geht um Kommunikation, und es geht schnell. Ich höre Musik, die ich ohne das Internet nie gefunden hätte. Ich kriege
E-Mails von Schirow. Und ich kann während der Arbeit Spitzenschach sehen.

KARL: Würden Sie sagen, das Internet hat Ihr Leben verändert?
CROWTHER: Oh ja, total. Sonst würden Sie mich jetzt nicht interviewen. Es war goldrichtig, meinen stupiden, schlecht bezahlten Job in der Bibliothek zu kündigen. Keine miesen Vorgesetzten mehr.

KARL: Können Sie sich noch einen anderen Job vorstellen?
CROWTHER: Schwer zu sagen, was in fünf Jahren ist. Es gibt einige Bereiche, in denen ich mir etwas zutraue. Ich hoffe, es wird mit dem Internet zu tun haben, denn ich mag diese Arbeit. Finanziell gesehen war es nicht das geschickteste, mit Schach anzufangen. Reich werde ich damit nicht, aber es ist okay. Ich habe lange gebraucht, bis ich den Wert meiner Arbeit überhaupt begriffen habe.

KARL: Was würden Sie im Rückblick anders machen?
CROWTHER: Als der Internet-Hype war, hätte ich einen Businessplan schreiben und mich an die Börse verkaufen sollen. Damals konnte man anscheinend jede nicht völlig abwegige Idee zu Geld machen. Aber ich habe immer die Kosten knapp gehalten und meine Existenz durch ehrliche Arbeit gerechtfertigt.

Vor zehn Jahren begann Mark Crowther, Spitzenschach intensiv zu verfolgen. Eigentlich habe er TWIC begonnen, weil er die Partien der Weltklasse sehen wollte. Und wenn er die Partien schon mal auftrieb, konnte er sie auch anderen zur Verfügung stellen. Ein Schlüssel-erlebnis war der Besuch bei einem Freund während des Matches Fischer – Spasski 1992. Dort sah Crowther das Internet zum ersten Mal. In irgendeiner Newsgroup fanden sie die Züge aus Jugoslawien.

Damals erkannte Crowther: wenn einer die Züge hat, haben sie fünf Minuten später alle. Ein Jahr darauf war er während des Wettkampfes Kasparow – Short in London und half, die Züge einzugeben.

Im März 1993 besorgte er sich einen eigenen Internet-Anschluss. Aber selbst wichtige Turniere waren kaum präsent. Dann fuhr er die halbe Stunde nach Leeds rüber, um niederländische oder jugoslawische Zeitungen zu kaufen, in denen die Partien abgedruckt waren. The Week in Chess begann er im Sommer 1994. Heute ist er so bekannt, dass er fast alle Daten ungefragt zugemailt bekommt. Damals wussten einige Veranstalter nicht recht, was diesen britischen Sonderling antrieb. Einige faxten Bulletins, und Crowther gab die Züge in den Computer ein.

Nach zwei Jahren TWIC war sein Name in aller Insider Munde. Doch neben seinem Brotjob als Bibliothekar wuchs ihm die Arbeit über den Kopf. Yasser Seirawan reagierte zuerst. Der amerikanische Großmeister betrieb in Seattle eine Schachzeitschrift samt Verlag und Versand. Mit kanadischen Partnern, die ebenfalls an einer gut frequentierten Website interessiert waren, bot er Crowther an, ihn zu sponsern. Unter der Bedingung, dass er TWIC auf ihre Seite stellt. TWIC wurde zum Beruf.

Der Vertrag hielt nur etwas über ein Jahr. Drei Monate lang machte Crowther unbezahlt weiter. Dann wurde er mit Malcolm Pein einig, der in London ein noch größeres Schachimperium zusammenhält als Seirawan in Seattle. Seitdem ist TWIC bei Chesscenter.com zu Hause.

Bevor sich Crowther an die Kolumnen für den Barbados Courier setzt, hat er wie immer seine E-Mail gecheckt. Einige seiner Gedanken sind immer schon am kommenden Montag. Denn Montag ist TWIC-Tag, der längste Arbeitstag der Woche. Er steht früher auf als sonst und geht nicht schlafen, bevor das Magazin mit allen Partien der Woche zum Download fertig ist. Er hat gehofft, etwas vorbereiten zu können. Doch die Partien vom Rubinstein-Memorial und einem gerade beendeten Open lassen auf sich warten.

Nebenbei hat Crowther ein Buch über Internetschach geschrieben, es ist im Mai erschienen. Gelegentlich übernimmt er etwas „hackwork“ wie Webseiten in HTML eingeben. Doch im Großen und Ganzen ist TWIC ein Vollzeitjob.

KARL: Warum verlangen Sie kein Geld von den Nutzern?
CROWTHER: Ich könnte schon etwas verlangen, aber dann würde ich viele verlieren.

KARL: Weil die Leute nicht bereit sind, für Schachinformationen zu zahlen?
CROWTHER: Die meisten, denen ich hier bei den Ligakämpfen begegne, interessiert ein Dreck, was Kasparow tut oder Karpow sagt. Die Mehrheit der Schachspieler wollen nichts anderes als spielen. TWIC wird ja besonders von Profis genutzt, die haben es schwer genug.

KARL: Bekommen Sie denn Anerkennung für Ihre Arbeit?
CROWTHER: Irgendeine Website hat TWIC den Titel “Beste Schach-Site” des Jahres verliehen, aber ich fürchte, das war eher, weil sie für sich selbst werben wollte. Ich weiß noch, wie in der Anfangszeit die Leute zu mir kamen: Hey Mark, Dich wollte ich unbedingt mal treffen. Dabei konnte ich manchmal wetten, dass sie kein Internet hatten und TWIC nur vom Hörensagen kannten. Wirklich gelesen zu werden, tut gut. Einige Journalisten und Spieler haben sich bedankt. Das ist Anerkennung genug.

Die Schachwelt hat Crowther vor allem virtuell bereist. Zweimal ist er nach Amsterdam eingeladen worden, ein paar Mal war er in Frankfurt zum Chess Classic und natürlich in London, wenn etwas Großes stattfand. Das war’s auch schon. Reisen ist nicht sein Ding. Hitze könne er nicht ausstehen. Er lebt gern in England.

Sein Vertrag erlaubt ihm zwei Wochen Urlaub, aber den nimmt er nicht in Anspruch – schlicht, weil es nichts ausmacht. Seine Zeit frei einzuteilen, sei ihm wichtiger. Für das Privileg, spät aufstehen zu können, arbeitet er nahezu jeden Tag, aber oft nur den Nachmittag, etwas zu aktualisieren oder vorzubereiten ist immer, und wenn er will, kann er freimachen, sagt Crowther. Unterm Strich kommt eine normale Arbeitswoche raus.

Im Winter schafft er das wöchentliche Magazin zum Download an einem Tag, weil es mehr große Turniere und wenige Open gibt. Im Sommer braucht er länger. Die großen Turniere wie Wijk aan Zee oder Dortmund machen die wenigsten Probleme, denn die Übertragungen sind sehr professionell. Fide-Turniere sind schon schwieriger. Am schlimmsten, stöhnt Crowther, seien Open.

Nach manchem Open ist er vier, fünf Stunden beschäftigt, bis die Daten stimmig sind. Für ein und den selben Spieler kursieren die unterschiedlichsten Schreibweisen, manchmal müsse er raten, wer am ehesten gemeint ist. Hin und wieder denkt er, ein Veranstalter verdiene es eigentlich nicht, dass er sich so mit ihren Daten abmüht. Diese Arbeit habe relativ wenig mit Schach zu tun: Namen korrigieren, Tabellen in Ordnung bringen, Notationsfehler beseitigen. Man müsse gut organisiert sein und ein wenig abgebrüht. Zum Nachspielen kommt er oft erst hinterher.

Mit der Zeit hat sich TWIC nicht mehr auf nackte Fakten beschränkt. Auf Bitten von Lesern begann Crowther, wichtige Nachrichten zu kommentieren. Kolumnisten boten sich an. Als Kasparow und Kramnik ihr Match in London spielten, wurden die Züge übertragen. Wenn es Probleme mit dem Server gibt, dann während solcher Übertragungen, berichtet Crowther. Der technische Aufwand von Live-Coverage werde fast immer unterschätzt, alles andere sei ein Kinderspiel dagegen. Malcolm Peins Chesscenter übernahm die Kosten, um einen Reporter zu den wichtigsten Turnieren zu schicken.

Crowthers Wahl fiel auf den Schotten John Henderson. Dazu kamen die Rezensionen von John Watson. Ein anderer Amerikaner, der durch TWIC bekannt wurde, ist Michael Greengard, besser bekannt als Mig, heute inhaltlicher Leiter von Kasparovchess.com.

KARL: Sind Sie sauer, dass Kasparovchess Greengard abgeworben hat?
CROWTHER: Wir haben für seine Kolumnen ja nichts bezahlt. Mig wollte einfach schreiben, und ich mochte seine Sachen. Durch TWIC hat er einen gutbezahlten Job angeboten bekommen, da kann ich nichts dagegen haben.

KARL: Welche Schach-Sites mögen Sie am liebsten?
CROWTHER: Chesscafe.com und die Homepage von Tim Krabbé. Sites mit Schachnachrichten anzusehen, vermeide ich eher. Das sind ja meine Rivalen. Ich wäre enttäuscht, wenn ich sehe, dass sie es besser machen. Natürlich schaue ich gelegentlich auf Kasparovchess.com, aber nicht täglich. Die Site ist nicht so gut, wie sie sein müsste. Kasparovchess war anfangs viel zu aufgeblasen. Im ersten Jahr haben sie ein Vermögen durchgebracht. Es war schier unmöglich, dieses Geld zurückzuverdienen. Wie viele Abonnenten müssten sie kriegen? Aberwitzig viele. Kasparow sah die Millionen, die seinem Match mit Deep Blue folgten oder seinem Match gegen die Welt. Aber Kasparow ist nicht stark genug, diese Millionen alleine anzulocken. Das haben IBM und Microsoft besorgt. Wenn es um Internet geht, verlieren die Leute den Kopf. Es wird einfach keine vernünftige Finanzplanung gemacht. Das mag ich an Chesscafe: die Site ist nicht nur sorgfältig gemacht, sondern expandiert langsam Schritt für Schritt. Ich glaube nicht, dass Chesscafe über seine Verhältnisse lebt.

Auch TWIC ist nicht frei von kommerziellen Zwängen. Sein Sponsor Malcolm Pein will Bücher verkaufen, Spielmaterial, Software. Die Leser von TWIC sind für den Miteigentümer des Everyman Verlags und Herausgeber von Chess Monthly potenzielle Kunden. In der Anfangszeit haben sie öfter wegen des Inhalts telefoniert, wirklich in Gefahr gekommen sei die redaktionelle Linie von TWIC aber nicht, erzählt Crowther. Pein wollte, dass er den Seitentitel öfter aktualisiert, als er es von sich aus tut. Mittlerweile rufe der Londoner Schachhändler meist an, um Schreibfehler zu korrigieren.

Um die Zugriffsstatistik hat er sich in letzter Zeit nicht gekümmert. Die letzte Zahl, die Crowther kennt, lautet 90 000 verschiedene Besucher innerhalb eines Monats. Pro Tag gerechnet etwa um die 10 000.

Ihm entgeht praktisch kein Turnier, das wirklich wichtig ist, glaubt Crowther. Die Datenbankverwaltung von ChessBase enthält seit einiger Zeit eine Funktion, um neue Partien aus dem Internet zu laden. Die Partien von TWIC und dies ist Teil seines Vertrags mit Pein, der wiederum mit ChessBase im Geschäft ist.

Andere haben seine Arbeit ausgebeutet, ohne dafür zu bezahlen. Gesammelte TWIC-Partien wurden auf CDs gebrannt und verkauft, ohne dass Crowther einen Penny sah. Vor zwei, drei Jahren sei er richtig wütend deshalb gewesen. Heute, sagt er, wurme es ihn, aber ändern könne er es nicht.

KARL: Einige sehen Sie da eher auf der Seite der Täter. Diese Profis verlangen als Urheber Abgaben für die Partien, die Sie verbreiten.
CROWTHER: Sweschnikow hat das aufgebracht. Dabei hat er selbst nichts an die Erben von Aljechin oder an Spasski bezahlt, um deren Partien studieren zu dürfen. Wenn man für die Partien Geld nimmt, würden im Endeffekt die Profis einander gegenseitig bezahlen. Amateure wären nur Partien der absoluten Weltklasse etwas wert oder Sammlungen zu ihren Lieblingseröffnungen. Eigentlich geht es ja darum: die osteuropäischen Großmeister sind in einer unglücklichen Lage. Viele, die im Westen nicht zur ersten Garnitur gehörten, haben das Profischach vor zehn Jahren aufgesteckt. Sie haben sich einen Job gesucht, als die starke Konkurrenz aus dem Osten kam. Die Profis müssten sich mal zusammenraufen und Einigkeit schaffen. Von der Fide ist das nicht zu erwarten.

KARL: Was würden Sie verändern?
CROWTHER: Dem Spiel mangelt es an Ernsthaftigkeit. Ein jährlicher Grandprix wird kommen, das ist unvermeidlich. Aber jedes Jahr eine Weltmeisterschaft ist Unsinn. Darunter leidet auch die Aufmerksamkeit. Lieber nur alle drei Jahre und die Spieler nehmen sie richtig ernst. Ich mag die neuen Kontinentalmeisterschaften, sie sind ein Schritt in die richtige Richtung, wenn man sich anschließend weiter für ein Kandidatenturnier qualifizieren kann. Früher haben sich die Spieler manchmal fünf Monate auf einen Wettbewerb vorbereitet. Das gibt es fast nicht mehr. Kramnik – Kasparow war eine Ausnahme. Das Match war psychologisch sehr interessant. Ich verstehe, warum das Match auf 16 Partien begrenzt war, aber diese beiden hätten 24 Partien spielen sollen. Ich wüsste gern, ob Kramnik seinen Vorsprung hätte halten können.

KARL: Dann hätten wir noch mehr Remis gesehen.
CROWTHER: Die kurzen Remis waren auf ihre Art auch interessant. Wenn es nach mir ginge, würde die Weltmeisterschaft mit vier Spielern ausgetragen, jeder gegen jeden acht Partien, macht 24 Runden. Kasparow, Kramnik und Anand sind eindeutig besser als die anderen, aber wer ist der beste von den dreien? Als Vierten würde ich Schirow einladen, er hätte es einfach verdient.

Dieses Jahr ist Bradford durch Straßenschlachten zwischen pakistanischen Jugendlichen und der Polizei in die Schlagzeilen geraten. Asiaten und Einheimische gehen sich zunehmend aus dem Weg. Das von den Lokalpolitikern gehegte Image vom friedlichen Zusammenleben ist dahin. Die Stadt, in der er vor 35 Jahren zur Welt kam und immer noch lebt, sei nicht so übel, wie die Zeitungen behaupten, sagt Crowther. Zugegeben, er würde nicht überall in Bradford wohnen wollen. Lidget Green, wo es Randale gab, sei ganz in der Nähe. In Clayton, seinem Stadtteil, kann er vier Pubs binnen fünf Minuten Fußweg erreichen. Das ist Lebensqualität für ihn: Nach einem harten Tag gegen zehn, bevor die frühe englische Sperrstunde kommt, noch auf ein, zwei Pints losgehen.

An diesem Freitag freut er sich besonders auf den Abend. Viele Freunde werden im Pub sein. Sie werden Pool spielen, über Fußball diskutieren. Wenn Crowther in seiner Freizeit im Internet ist, geht er gerne auf amazon.com, um sich über Musik oder Bücher zu informieren. Romane liest er nicht, lieber Biografien oder etwas über Psychologie.

KARL: Mark, wie stark sind Sie eigentlich als Spieler?
CROWTHER: Meine britische Rating ist 188. Das entspricht etwas mehr als 2100 Elo, aber eine internationale Zahl habe ich nicht.

KARL: Wann wann Ihr letztes Turnier?
CROWTHER: Mein letztes richtiges Turnier muss etwa zehn Jahre her sein. Ich spiele aber regelmäßig in der Bradford Evening League, Drei-Stunden-Partien an Dienstagen, und in der Saturday League von Yorkshire, da haben wir Vier-Stunden-Partien.

KARL: Können Sie Ihr Schach beschreiben?
CROWTHER: Mein Schach ist ekelhaft. Ich eröffne d4, Springer f3, Läufer g5, weil ich keine Ahnung von Theorie habe. Trotzdem kommen ganz komplizierte Stellungen raus. Ich bin ein intuitiver Spieler, im Mittelspiel und Endspiel bin ich ganz ordentlich. Jetzt habe ich mir vorgenommen, endlich Eröffnungen zu lernen. Dabei vermeiden meine Gegner die Theorievarianten. Sie denken, wenn ich jeden Tag all diese Großmeisterpartien sehe, muss ich ein Eröffnungs-Riese sein.