KURZE KARRIERE, EWIGER RUHM

Von Harry Schaack

Hertans Morphy
Edges Morphy

Charles Hertan,
The Real Paul Morphy,
His Life and Chess Games.
New In Chess 2024,
Paperback, 384 S.,
29,95 Euro

Frederick Milnes Edge,
The Exploits and Triumphs
in Europe of Paul Morphy,
The Chess Champion,
Alexander Game Books
Classic 2024, Paperback,
172 S., 10,99 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Schach Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Als ich vor einigen Jahren den amerikanischen Sammler David de Lucia besuchte, fielen mir die vielen Memorabilien zu Paul Morphy auf. De Lucia meinte, ich solle mich nicht wundern, er habe fast alles von Morphy.
Charles Hertan hat mit The Real Paul Morphy im letzten Jahr die bislang umfassendste Monografie zu dem amerikanischen Schachgenie vorgelegt. Und es überrascht nicht, dass ein großer Teil der Bebilderung aus der Sammlung de Lucias (und Dirk Jan ten Geuzendams) stammt. Vielleicht auch deshalb wurde Hertans Werk vom Englischen Schachverband zum Buch des Jahres gewählt.
Das Schicksal von Paul Morphy wird oft mit dem Bobby Fischers verglichen, der sich ebenfalls nach seinem größten Erfolg vom Schach zurückgezogen hat. Aber eigentlich erinnert der Amerikaner vielmehr an Arthur Rimbaud. Beide höchstbegabt, bringen es schon als Teenager in ihrem Metier zur Meisterschaft. Innerhalb kürzester Zeit ernten sie größten Ruhm – und verschwinden dann genau so rasch, wie sie auf der Weltbühne erschienen sind. Rimbaud hat mit Anfang Zwanzig kein einziges Gedicht mehr geschrieben und Morphy im selben Alter nach der Rückkehr seiner Europareise 1859 keine ernste Partie mehr gespielt.
Morphy erreichte den Gipfel seines Könnens mit 21 Jahren. Seine internationale Karriere dauerte nur zwei Jahre an. 1857 gewann er den ersten US-Schachkongress im Finale gegen Louis Paulsen, dann fuhr er nach Europa, erst nach London, dann nach Paris, wo er gegen die besten Spieler der Welt Wettkämpfe austrug, die er allesamt deutlich gewann. Der eigentliche Grund für Morphys Reise war jedoch, ein Match gegen den legendären Staunton zu spielen, das aber trotz langer Verhandlungen nicht zustande kam, weil sich der Brite, der seinen Zenit schon überschritten hatte, mit vielen Ausflüchten einer direkten Begegnung entzog.
Hertan weist in seiner Einführung darauf hin, dass Bobby Fischer Morphy als „wahrscheinlich größten Schachspieler von allen“ und den „akkuratesten Spieler, der jemals lebte“ bezeichnet hatte. Und auch Hertan meint, dass Morphy vielleicht der talentierteste Spieler war, den es jemals gegeben hat – wobei solche unbeweisbaren Behauptungen stets zweifelhaft bleiben.
Über Morphy ist schon zu seinen Lebzeiten viel geschrieben worden. Nach seinem großem Erfolg in Europa erschienen bereits 14 Partiesammlungen. Die Referenzbiografie wurde aber erst 1976 von David Lawson vorgelegt.
Die wichtigste zeitgenössische Quelle ist je­doch Frederick Milnes Edges The Exploits and Triumphs in Europe of Paul Morphy, the Chess Champion von 1859. Das Werk wurde 2024 bei Alexander Game Books, überarbeitet und erweitert von Carsten Hansen, neu aufgelegt. Es enthält keine Partien, sondern gibt detaillierten Einblick in Morphys Europatour. Autor Edge, der als Korrespondent für den New York Herald in London tätig war, kannte Morphy schon als Mitglied des Organisationskomitees vom 1. Amerikanischen Schachkongress. Er be­gleitete Morphy bei dessen Tour durch England und Frankreich, wurde zu dessen rechter Hand und zu dessen Promoter. Sein Buch liefert viele unbezahlbare Einblicke und Anekdoten aus nächster Nähe. Und ein ganzes Kapitel widmet Edge der „Staunton Affair“, in der er nicht ohne Polemik gegen dessen Machenschaften ankämpft. Staunton nutzte seine Kolumne, um Morphy herabzuwürdigen und Public Relation in eigener Sache zu betreiben, indem er in seinem Sinne erklärte, warum ein Match nicht zustande kam.
Erst später wurde bekannt, dass Edge auf beiden Seiten des Atlantiks Schulden gemacht hatte und keinen guten Ruf besaß, weil er sein Geld bei Pferdewetten verspielte.
Bleibt die Frage, was Hertan mit seinem Werk Neues zu bieten hat. The Real Paul Morphy kombiniert erstmals die Partien mit zeitgeschicht­lichen und biografischen Ereignissen rund um Morphys Leben. Außerdem ist es das erste Buch, in dem die Partien mit modernen Engines analysiert worden sind. Es bleibt allerdings unverständlich, warum der Autor auf Fritz 18 zurückgreift und nicht auf die momentan stärkste und kostenlose Engine Stockfish.
Hertan rekonstruiert fast etwas zu breit die Familiengeschichte Morphys, dessen Vorfahren aus Irland stammten und Murphy hießen. Morphy wuchs in einem wohlhabenden Haushalt in New Orleans auf, der damals drittgrößten Stadt der USA, die vor allem vom Sklavenhandel profitierte. Auch die Morphys hatten Sklaven. Pauls Vater war Jurist und seine Mutter eine talentierte Musikerin, die oft Hauspartys veranstaltete.
Morphy soll das Spiel durch Zuschauen erlernt haben. Dann wurde er von seinem Onkel gefördert, der als Sekundant von Rosseau bei der ersten US-amerikanischen Meisterschaft tätig war, die der achtjährige Paul mit seinem Onkel besuchte. Mit neun Jahren komponierte er sein erstes und einziges Schachproblem.
Mit zwölf schlug Morphy bereits die führenden Meister seiner Stadt. Dabei erlaubte der Vater seinem Kind, nur sonntags zu spielen. 1850 besuchte Löwenthal, der nur ein Jahr später am 1. Inter­nationalen Schach­turnier in London teilnahm, New Orleans und verlor ein Match gegen den Zwölfjährigen, ohne eine Partie zu gewinnen. Das machte Morphy schlagartig berühmt.
Morphy ging in Mobile aufs College und zählte zu den heraus­ragenden Schülern. Danach studierte er Jura in Louisiana, das er 1857 im Alter von 20 Jahren abschloss.
Beim Finale des 1. US-Schachkongresses, wo noch ohne Zeitmesser gespielt wurde, traf Morphy auf Louis Paulsen, seinen ersten ernstzunehmenden Gegner, der ihn allerdings durch langes Nach­denken entnervte. Dennoch gelang Morphy ein überzeugender Sieg. Sein Damenopfer in der 6. Matchpartie war die größte Kombination, die jemals auf amerikanischen Boden gespielt wurde, schrieben ebenso verblüffte wie begeistere Beobachter. In New York freundete sich Morphy mit dem bedeutenden Schachhistoriker Daniel Willard Fiske an, der das Turnier organisierte.
Als sich Morphy danach nach Europa einschiffte, geschah das gegen den Wunsch seiner Familie, die befürchtete, er vernachlässige seine juristische Karriere. Auch weil kurz zuvor, 1856, sein Vater gestorben war.
Bei seinen Matches fällt auf, dass Morphy oft ein langsamer Starter war. Vielleicht musste er sich erst einmal an den Spielstil seiner Kontrahenten gewöhnen. Doch „hinten raus“ entschied er alle Matches überlegen. Im Café de la Régence verlor Morphy gegen Harrwitz die ersten drei Partien, holte dann aber 5,5 Punkte aus den nächsten sechs Begegnungen.
Der Höhepunkt seiner Reise war das Match gegen Anderssen, das fast nicht zustande kam, weil der Breslauer zunächst beruflich nicht abkömmlich war. Anderssen galt nach seinem Triumph beim ersten Internationalen Turnier in London 1851 als bester Spieler der Welt. Nach seinem 8:3-Sieg galt Morphy als inoffizieller Weltmeister.
Morphys Europatour, bei der er auch neue Rekorde im Blind­simultan aufstellte, das er an acht Brettern spielte, dauerte ein Jahr. Nach seiner Rückkehr führte sein Erfolg zu einem Schachboom in den USA. Ein Jahr lang schrieb Morphy eine wöchentliche
Zeitungskolumne, bei der er sich aber keine Mühe gab. Schon 1861 begann der Sezessionskrieg, der auch die Südstaaten-Familie Morphy erheblich traf. Später war Morphy auch durch lukrative Einladungen nicht mehr zum Schach zu bewegen, das er nur noch gelegentlich zum Zeitvertreib mit einem Freund spielte.
Als Jurist war Morphy untalentiert und erfolglos. Er zog sich mehr und mehr zurück. Ab den 1870er Jahren hatte er sich völlig ver­ändert. Er wurde misstrauisch, depressiv und verhaltensauffällig. Bei seinen Spaziergängen sprach er mit imaginären Begleitern.
Seine psychische Erkrankung manifestierte sich immer deutlicher. Hertan, der selbst Psychotherapeut ist, diagnostiziert Morphys Zustand ausführlich, in dem er alle vorhandnenen Berichte analysiert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Morphy vermutlich an einem Hirntumor oder einer frühen Alzheimer-Form litt.
1883 kommt es noch einmal zu einer denkwürdigen Begegnung, als Steinitz Morphy in New Orleans besucht, und von dessen Höflichkeit angetan ist. Nur ein Jahr später stirbt Morphy mit nur 47 Jahren an einem Schlaganfall, nachdem er an einem heißen Tag ein kaltes Bad genommen hat.