LEBENSWERK

Herbert Bastians
Chapais. Das revolutionäre Schachmanuskript von Gaspard Monge.

Von Harry Schaack

Cover: Chapais

Ein Jahrzehnt beschäftigte sich der ehemalige DSB- und Fide-Vize-Präsident Herbert Bastian mit dem französischsprachigen Manuskript von Chapais. Es ist der bedeutendste Text über Schachendspiele des 18. Jahrhunderts, konnte aber keine größere Wirkung entfalten, weil er nicht gedruckt wurde. Der Verfasser war ein exzellenter Schachspieler mit großem Bildungshintergrund und didaktischen Kenntnissen. Seine außergewöhnlichen Analysefähigkeiten machen das Werk zu einem Meilenstein der Endspieltheorie.

Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde das Manuskript wiederentdeckt. In dem jetzt erschienen Prachtband, für den Ulrich Dirr das hervorragende Layout besorgte, das den Leser schlafwandlerisch durch den Text führt, versucht Bastian neben dem vollständig übersetzten Inhalt des Werks auch die Lebensumstände Chapais zu klären.

Basierend auf einem aufwändigen typogra­phischen Vergleich ist sich Bastian ziemlich sicher, dass Chapais das Pseudonym des berühmten Mathematikers Gaspard Monge ist – auch wenn er nicht alle Zweifel an seiner Ur­heberschaft beseitigen konnten. Monge war ein bedeutender Mathematiker, Physiker und Chemiker, Gründer der École Polytechnique, Marineminister und später an Napoleons Ägypten­feldzug beteiligt.

Bastian, Mathematik- und Physiklehrer im Ruhestand sowie IM mit einer Vorliebe für Endspiele, hat von Haus aus eine Affinität zu seinem Forschungsgegenstand. Als er 2015 den Von der Lasa-Nachlass im polnischen Schloss Kórnik sichtete, hielt er erstmals „den“ Chapais in Händen, was der Startschuss zu seinem Buchprojekt war. Seine Recherche wurde von vielen Entdeckungen begleitet, die ihm immer tiefere Einblicke in den Stoff gaben.

Zentral in Bastians Werk ist die Übersetzung des gesamten, 250 Jahre alten und 572 Seiten umfassenden (davon 536 beschriftet) Manuskripts. Die Notation hat er modernisiert, denn Chapais benutzte die umständliche, heute schwer lesbare paraphrasierende Zugbeschreibung. Die Seitenreihenfolge wurde an einigen Stellen bereinigt, und es gibt Hinweise, dass das Manuskript nach längeren Unter­brechungen (erkennbar an der veränderten Schrift) vom Autor weitergeführt wurde. Bastian unter­scheidet acht Arbeitsphasen.

Das Layout ist sehr schlüssig aufgebaut. Nach jedem Kapitel fasst Bastian seine Erkenntnisse zusammen oder weist auf Ungereimtheiten oder Klärungsbedarf hin. Zur Übersetzung des Manuskripts hat er ausführliche Anmerkungen angefügt. Bastian hat eine profunde Quellen- und Endspieltheoriekenntnis, mit der es ihm sehr gut gelingt, die Vorbilder für die von Chapais benutzten Stellungen zu zeigen.

Chapais‘ Manuskript ist der erste Schachtext, der sich ausschließlich dem Endspiel widmet. Während der Autor bei einfachen Beispielen mit einem Bauern noch auf arabische Mansuben zurückgreift, leistet er in mehreren Bauern- und Figuren-Endspielen größtenteils Pionierarbeit. Chapais hat den Oppositionsbegriff in die Schachtheorie eingeführt und die Grundlagen für Endspiele mit zwei Springern gegen einen Bauer gelegt, die später Troitzki ausführlich ausarbeitete. Einige seiner Grundsätze sind in Vergessenheit geraten und wurden erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt, was zeigt, wie weit Chapais seiner Zeit voraus war.

Ein Kapitel des Manuskripts beschäftigt sich mit dem Springerproblem – ein Springer durchläuft nacheinander jedes Feld des Schachbretts, ohne eines zweimal zu betreten – und stellte eine ausführliche Lösung vor. Lange Zeit war das Springerproblem mathematisch ungelöst, bis der berühmte Mathematiker Leonhard Euler 1759 eine erste überzeugende Lösung präsentierte. Bastian vermutet, dass Chapais der Erfinder der Liniendiagramme ohne Schach­felder war – also Linien, die nur den Zugverlauf des Springers nachzeichnen. Zuvor wurde die Lösung stets durch Zahlen dargestellt.

Die Handschrift enthält auch eine bekannte und kuriose Komposition, die in verschiedenen Formen überliefert ist: Die Lieblingsposition des Marschalls von Sachsen, eine Komposition, in der ein bestimmter Bauer mattsetzen muss.

Nach der Chapais-Übersetzung beschäftigt sich der zweite Teil von Bastians Buch mit Verschiedenem. Ein Exkurs widmet sich der Geschichte der Notation und zeigt, dass Chapais Art der Zugbeschreibung einzigartig blieb. Ein anderer geht der Provenienz und der Geschichte des Manuskriptes nach. Es gelangte im 19. Jahrhundert in den Besitz Von der Lasas, der es vermutlich in Paris oder London gekauft hat. Wo es davor war, bleibt im Dunkeln.

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der Biographie von Gaspard Monge, der als möglicher Urheber des Werks in Frage kommt. Ein längerer Teil vergleicht den Schreibstil von Monge und Chapais. Inhaltlich benutzen beide eine ähn­liche mathematische Fachterminologie, aber der Schriftvergleich liefert sowohl Überein­stimmungen als auch Abweichungen, was eine eindeutige Zuordnung nicht möglich, aber wahrscheinlich macht. Bastian führt 14 Aspekte an, die auf beide Autoren zutreffen.

Für einige Interessenten wird dieser Foliant aufgrund der aufwändigen Dokumentation der Schriftstilauslegung und Seitenzuordnung des Chapais-Manuskripts etwas zu detailliert sein. Doch Bastian gelingt es, kulturhistorische Verbindungen aufzudecken und die Aktualität bzw. die Bedeutung der vorgestellten Endspiele adäquat einzuordnen. Weil es auf Deutsch geschrieben ist, erreicht es wohl weniger Leser als es bei einem solchen Spezialthema mit einer englischen Ausgabe gelungen wäre.

Bastians Werk hat Chapais als einen etwa gleichwertigen Theoretiker neben Philidor im 18. Jahrhundert ins Bewusstsein gerufen und seine fast vergessene Handschrift allgemein zugänglich gemacht. Ganz nebenbei hat er auch einiges Neues über Monge herausgefunden und dessen Lösungen zum Springerproblem entschlüsselt. Ob aber Monge identisch mit Chapais ist, wird aufgrund der dünnen Faktenlage wohl nicht mehr endgültig geklärt werden können.

Das Buch ist zwar teuer, hätte aber ohne großzügige Spenden nicht in einer Auflage von 200 Stück realisiert werden können. Die Restkosten hat Bastian übernommen, weshalb das Werk bislang nur über ihn bestellt werden kann.


Info: herbertbastian@freenet.de