DURCH MARK UND BEIN
HARRY SCHAACK sprach mit dem Künstler Michael H. Dietrich
(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/23.)
Der Künstler Michael H. Dietrich hatte schon immer eine Affinität zum Schach. Als Kind war er talentiert und brachte es sogar einmal in die lokale Presse. Als Unzicker einst in Lübeck, wo Dietrich 1940 geboren wurde, eine Simultanveranstaltung gab, spielte auch der damals Zwölfjährige mit. Seine Mutter musste zuvor beim Ordnungsamt eine Sondergenehmigung besorgen, weil das Simultan in einer Gastwirtschaft stattfand und bis in den Abend dauerte. Als Unzicker seine Runden zog, lichteten sich die Reihen schnell, aber der Zwölfjährige spielte bis zum Schluss. Dann stellte sich Unzicker vor dessen Brett, verschränkte die Arme, blickte „großmeisterlich“ von oben herab auf den kleinen Jungen, und dann zwei Minuten aufs Brett. Es müssen die längsten zwei Minuten in Dietrichs Lebens gewesen sein. Schließlich bot Unzicker Remis an. „Das war, als wäre ich vom Papst geadelt worden“, erinnert sich Dietrich noch immer voller Freude. Aber er stand etwas besser und überlegte eine Weile, ob er das Angebot akzeptieren sollte. Daraufhin nahm sich Unzicker behutsam einen Stuhl, setzte sich vor den Jungen und überlegte ebenfalls. Mit letzter Kraft sprach der von seinen Gefühlen überwältigte Dietrich: „Ich nehme an!“ Unzicker lächelte süffisant und reichte ihm die Hand.
Die Anwesenden waren aus dem Häuschen, und selbst die Lübecker Nachrichten berichteten später darüber. Am nächsten Schultag kam der Direktor zu ihm und lobte ihn für sein Remis. Es war seine allerhöchste Schachweihe.
Trotz dieses verheißungsvollen Beginns blieb Dietrich dem Schach nicht treu. Seine Liebe zur Ästhetik erwies sich als größer. Er ging an die Kunstschule nach Hamburg und wurde dann im Atelier seines Vaters ausgebildet. Die Liebe zum Schach ist aber bis heute geblieben. „Schach ist ein Virus“, wie er sagt, weshalb das Spiel im Laufe seines Lebens immer wieder in seine Kunstwerke Einzug gehalten hat.
Der Maler, Bildhauer und Restaurator hat für seine Kunst einige neue Techniken entwickelt, bei denen Metall in gehämmerter, hauchdünner Form in die Bilder eingebracht wird. Aber schon früh waren Dietrich die Mechanismen des Kunstmarktes zuwider. Deshalb gründete er eine kleine Agentur und arbeitete in der Werbung. Die Kunst lief sein ganzes Leben lang nebenher, ohne dass er sich von einem Galeristen hätte vermarkten lassen. Trotzdem war sein Netzwerk so gut, dass er seine Arbeiten in die ganze Welt verkaufen konnte.
Dietrich kann zu jeder seiner Arbeiten eine Geschichte erzählen, so auch zu seinen „anthromorphen“ Schachfiguren, wie Dietrich seine Grafikserie nennt. Eigentlich ist der Titel eine ironische Brechung dieses Knochenreigens, denn das Adjektiv bedeutet „menschengestaltig“. Die Idee dazu hatte der Künstler, als er vor mehr als 40 Jahren während einer Bahnfahrt in einem Magazin von einem entdeckten Königsgrab las. Aber der Ursprung liegt vielleicht sogar früher. Denn in den späten Sechzigern lebte Dietrich im Frankfurter Westend, wo damals der Häuserkampf tobte. Eine wilde Zeit auch für ihn, der einige Jahre vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, weil er einmal mit Andreas Baader Schach gespielt hatte, „obwohl ich nie etwas mit der RAF zu tun hatte“, betont er vehement.
Aber zu jener Zeit hatte sich Dietrich auch am Frankfurter Senckenberg-Museum, wo im Foyer lebensgroße Dinosaurier-Skelette stehen, als Museumszeichner beworben. Er wurde zwar abgelehnt, trat aber der „Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung“ bei. Mag sein, dass die Idee, den gesamten schachlichen Figurenbestand aus Knochen darzustellen, schon damals in ihm reifte.
Die hier in Schwarzweiß abgebildeten sechs Federzeichnungen sind im Original mit Blattgold und -silber angefertigt. Der in Stuttgart lebende Künstler hatte sie bereits 1980 angefertigt, aber damals gab es keine bezahlbare Drucktechnik, die die Realisierung möglich gemacht hätte. Erst jetzt gelang eine angemessene Reproduktion.
Fast erinnern die Grafiken an einen Totentanz. Aber die Knochen, der Teil der Lebewesen, der am längsten überdauert, verleiht den Figuren auch Halt und Stabilität. Vor allem aber entwickelt sich eine eigentümliche ästhetische Wirkung. Dietrich versteht sich als Surrealist, und „spielt“ hier mit unterschiedlichen Existenzebenen. Denn jede Schachfigur wird irgendwann geschlagen werden. Die Darstellungsform erinnert auch daran, dass Schach ein Kriegsspiel ist.
Die hierarchische Differenzierung der Figuren gelingt dem Künstler mit unterschiedlichen Skelettteilen.
Der König (s.o.) als oberste Figur, die über Leben und Tod der anderen Figuren entscheidet, ist mit einem Totenkopf gekennzeichnet. Der Monarch ist der Kopf dieser Armee. Der Schädel befindet sich in einer gläsernen Hülle, einer mächtigen Aura, die sein Antipode nicht stören darf. Er ist aber auch schwach, weshalb sich das Schachbrett schützend um ihn wickelt.
Die Dame wird durch das weibliche Becken symbolisiert. Sie braucht keinen Schutz wie der König. „Man kann aber auch in den Beckenknochen zwei Embryonen sehen. Die Dame als Lebensspenderin“, sagt der Künstler. Eine Art Freiheitskämpferin, weil sie in ihrer Bewegung kaum eingegrenzt ist und andere beschützen kann. Auch ihre Felder sind golden, weil sie Teil des Herrscherduos ist.
Der Läufer macht seinem Namen alle Ehre. Während die anderen Figuren alle stabile Standbeine haben, ist er in Bewegung. Für den Schachbrett-Hintergrund ist Silber reserviert, wie auch für Turm und Springer.
Der Springer hat den Schädel eines Mulis, der zwischen dem Esel und dem Pferd steht. Sein Weg ist unberechenbar, weshalb er in anderen Sphären schwebt, die mit zwei Brettern dargestellt werden.
Der Turm ist die massivste Figur des Schachspiels. Eigentlich ist er unbeweglich. Seine Standfestigkeit wird mit massiven Oberschenkelknochen dargestellt. Das ihm zugeordnete Brett hat scheinbar nur vertikale und horizontale Linien.
Für den Künstler ist der Bauer „die interessanteste Figur im surrealen Prozess der anthromorphen Schachfiguren. Er ist der hässliche Engerling, der manchmal zu einem prächtigen Schmetterling avanciert.“ Nur ein einziges goldenes Feld zeigt seine bescheidenen Möglichkeiten an, etwas „Besseres“ zu werden und in der Hierarchie aufzusteigen.
Info unter: michaelhdietrich@t-online.de