DER SCHWÄBISCHE JAN HEIN DONNER

Als sich FRANK ZELLER für diesen Karl-Artikel auf Spurensuche nach Rainer Schlenker und dessen Randspringer begab, konnte er nicht ahnen, dass er dem „Verschollenen“ am Ende selbst begegnen würde. Die Zeitreise ließ auch noch einmal seine eigene Vergangenheit und die goldenen Zeiten des Tübinger Undergrounds auferstehen.

Rainer Schlenker
Rainer Schlenker (© Jordi Altimira)

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/23.)

Der Randspringer gilt als legendäres Periodikum für subversive Spielarten jenseits des Mainstreams. Ein Er­öffnungsmagazin, das in einer Zeit entstand, in der Übungsmaterialien und Bücher für den gemeinen Schachfreund rar waren. Es glänzte durch „Originalität, Kreativität, auch Provokation“ (Mario Ziegler im Glarean Magazin) und vergraulte sogleich potenzielle Kundschaft durch den Untertitel: „Das Magazin nicht für jeden Schachfreund“. Es traf mit seiner frechen Ausdrucksweise, die mit den Konventionen brach, den Nerv der Zeit. Trotz seiner geringen Auflage bekam das revolutionäre Heftchen schnell eine wachsende Fan­gemeinde. Die Blütezeit waren die Achtziger, in den Neunzigern machten sich Auf­lösungserscheinungen breit. Ein Versuch, die Marke wiederzubeleben, unternahm vor ein paar Jahren „Schachtherapeut“ und Verleger Manfred Herbold. Schlenker war in der schwäbischen Provinz in den Untergrund abgetaucht. Ein Phantom. Aber eines, das die Landschaft der Schachpublikationen auf eigenartige Weise belebt und mitgeprägt hat.

Als mir Harry Schaack anbot, einen Artikel über den Randspringer zu schreiben, war ich ambivalent. Was befähigt mich dazu? Sicher, ich lebe in Tübingen, der Uni-Stadt, in deren schachlichen Zirkeln der Nährboden geschaffen wurde, aus dem Schlenker mit urwüchsiger Fantasie seine zoologischen Gebilde wie die Flugechse oder den Grottenolm ersann. Allerdings kam ich just in dem Zeitfenster hier an,
als Schlenker seine Zelte abbrach und nach Schwenningen zurückwich. Ich konnte mich nur an eine flüchtige Begegnung Mitte der Neunziger erinnern, hatte nicht einmal mehr ein Gesicht vor Augen. Ein langmähniger Bartträger … mehr erinnerte ich nicht. Praktiziert habe ich die Randspringer-Ideen auch nicht. Es stehen aber eine Menge Ausgaben in meiner Schachbibliothek. Die Lektüre fand ich immer anregend, über die Zoten Schlenkers kann ich großartig lachen!
Ich begab mich auf Spurensuche. Spuren Schlenkers in meiner, in unserer Stadt, die ihr Gesicht in den über 30 Jahren, die ich hier lebe, verändert hat. Ich (wieder-)entdeckte Vieles aus der Geschichte der da­maligen Schachcommunity Tübingens. Die Recherche war nicht zuletzt eine Reise in meine eigene Vergangenheit und Parallelen mit Schlenker taten sich auf. Ich interviewte Zeitgenossen, deren man noch habhaft werden konnte. Und es passierte, was ich für unmöglich hielt: Ich traf den Entschwundenen persönlich, unterhielt mich zwei Stunden mit ihm – eine be­wegende Begegnung.

Am Anfang war die Schreibmaschine. Als ich zu Beginn der Neunziger nach Tübingen kam, um hier ein Magisterstudium aufzunehmen, hatte ich eine schwere mecha­nische Schreibmaschine im Gepäck. Die galt schon damals als antiquiert, doch eine romantische Vorstellung leitete mich: Allein in der Fremde brauchte ich etwas Alt­vertrautes, ein gutes Objekt – neben der Schreibmaschine diente mir dazu auch ein Schachbrett! Als junger Mann, der sich ein eigenes Leben aufbauen muss, hatte ich diffuse Vorstellungen von der Zukunft. Schach war mir wichtig und irgendwas mit Schreiben! Auf der alten Schreib­maschine unternahm ich erste literarische Versuche. Am liebsten analysierte ich aller­dings Schachpartien und schrieb schon damals gern über den Verlauf einer Partie, den Kampf zweier Individuen und den kreativen Prozess.

Ähnlich muss es Rainer Schlenker ergangen sein, nur dass er bald zwei Jahrzehnte früher den Schauplatz betrat. Schlenkers selbstgestaltete Heftchen sind ein Zeugnis dieser längst vergangenen, mittelalterlich anmutenden Epoche, in der die Texte mit der Maschine geschrieben wurden, wo man sich keinen Fehler erlauben durfte, weil das Korrigieren von Fehlern kom­pliziert war („Tipp-Ex“ bot Abhilfe) und das Schriftbild schnell verschandelt war. Die Diagramme wurden aufwändig mit Stempeln eingefügt. So war‘s und das blieb so, da war Schlenker ganz Traditionalist, allem Neuen mit einem kultivierten Phlegma misstrauend, ganz im Gegensatz zum progressiven Gestus. Doch zu Beginn war er ein Pionier, neue Wege beschreitend, eigene Ausdrucksweisen und Varianten findend.
Schlenker zog 1973 nach Tübingen. Mit ihm, ungefähr zur gleichen Zeit, begann auch Christoph Frick sein Studium. Ich verabredete mich mit Frick an dem Ort, der früher Alleencafé hieß und an dem die von Vidmar besungenen „goldenen Zeiten“ existierten.
Fide-Meister Frick, Jahrgang 1951 und somit ein Jahr älter als Schlenker, spielt immer noch begeistert Schach in der Oberliga, zwar nicht für den Traditionsverein, aber für die „Abspaltung“ Bebenhausen. Mit Frick gehe ich auf Zeitreise: Im Alleencafé konnte sich damals das Schachmilieu ideal entfalten. Der Besitzer, Konditor Schwend, stand der Szene wohlwollend gegenüber und bot ihr rund 20 Jahre eine Heimat. Die Spieler gehörten quasi zur Familie, „Gevatter“ Schwend war eine väterliche Figur. Die Schachspieler hatten ihren Stammtisch, nachmittags dröppelten sie langsam ein, es war jeden Tag was los. Vor allem starke Vereinsspieler dominierten das Café.
Zum Ausgleich wurde im Keller Tischtennis gespielt, wozu der Hausherr einlud. Frick erinnert sich auch daran, dass „sich die Szene einmal die Woche zum Fußball­spielen auf einem Bolzplatz zusammenfand“.
Im Alleencafé wurde ein neuer Verein gegründet, der das Hinterzimmer zudem als Spiellokal nutzte: die „Lange Peitsche“. Es war die Zeit der Post-68er-Studenten­unruhen. Auch in Tübingen gab es Rathausbesetzungen, Demonstrationen, etc. Die „lange Peitsche“ war auch aus diesem neuen Geist entstanden, eine Abspaltung der jungen, studentisch geprägten Szene vom bürgerlichen Milieu des Haupt­vereins.
Aufschwung bekam die Szene womöglich auch durch das Jahrhundertduell 1972 in Reykjavik zwischen Fischer und Spasski. Als ich später Schlenker danach fragen konnte, bekam ich eine unerwartete Antwort: „Ich hatte 1971 das Abitur gemacht. Danach gab es anderes, ich spielte ein Jahr überhaupt kein Schach mehr. Sicher, ich bekam die Partien mit, aber nur am Rande. Schach war mir in dieser Zeit überhaupt nicht wichtig. Erst in Tübingen entdeckte ich es wieder!“

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/23.)