EDITORIAL
LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,
haben Sie sich schon einmal gefragt, was der schlechteste Eröffnungszug ist? Laut Engine bringen Züge wie 1.a3, 1.h3 oder gar 1.a4 die Stellung noch nicht aus dem Gleichgewicht, sind also gar nicht so schlecht, wie sie aussehen. 1.h4 und 1.f3 sind dagegen schon kritischer und die Engine wittert bereits einen kleinen schwarzen Vorteil. Aber am schlechtesten wird 1.g4 bewertet, wonach Schwarz laut Stockfish bereits deutlich besser steht.
Dieses Heft will der Frage nachgehen, inwiefern „bizarre“ Züge wirklich schlecht sind. Überraschenderweise haben uns die leistungsstarken Engines und die KI gezeigt, dass manch verrückter Gedanke durchaus konform mit einer soliden Spielauffassung sein kann.
Willy Hendriks zeigt, wie in der Frühzeit des Schachs Autoritäten wie Philidor oder Steinitz mit ihren zuweilen exzentrischen Ideen viele Jahre das theoretische Verständnis bestimmten. Erst mit dem Aufkommen der Wettkampf- und Turnierpraxis sowie mit der Zunahme der Schachliteratur und der Veröffentlichung von Partien konnte die Empirie immer schneller Fragwürdiges auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls auf den Müllhaufen der Schachgeschichte werfen.
Als Aaron Nimzowitsch sein System und die hypermodernen Ideen vorstellte, waren seine Zeitgenossen skeptisch. Es dauerte eine Weile, so unser Autor Mihail Marin, bis sie zum schachlichen Allgemeingut wurden.
Dass bizarre Ideen mit originellen Spielstilen einhergehen können, zeigen unsere Porträts. Duncan Suttles gehörte in den sechziger und siebziger Jahren nicht zur Elite, auch wenn er 1973 den Großmeistertitel errang. Doch sein „ungeheuerliches“ Schach war so attraktiv, dass er viele Einladungen zu stark besetzten Turnieren erhielt, wie sein Biograph Bruce Harper in seinem Beitrag zu berichten weiß.
Denkt man an bizarre Eröffnungen, fällt einem wohl zuerst der kürzlich verstorbene Michael Basman ein. Gerard Welling zeichnet die schachliche Entwicklung des Briten nach, die schließlich in einer ausgefeilten Einkreisungsstrategie des Zentrums ihren Kulminationspunkt fand.
Rainer Schlenker hat mit seinem Randspringer in den achtziger Jahren dem Abwegigen eine Heimstätte gegeben. Frank Zeller hat sich auf Spurensuche nach dem Phantom Schlenker gemacht. Dabei ist er immer tiefer in die damalige Tübinger Schachszene abgetaucht und mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert worden. Entstanden ist ein bewegendes Porträt.
Zum Thema bizarres Schach haben auch einst die Schachfreunde Schöneck beigetragen, aus deren Vereinszeitschrift das jetzige Schachmagazin Karl hervorgegangen ist. Dort wurde in den achtziger Jahren eine neue Eröffnung aus der Taufe gehoben, die Ampel, die bald weithin bekannt war. Vielleicht kam die revolutionäre Idee etwas zu früh, denn erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre bauten einige Großmeister das Konzept erfolgreich in die Englische Eröffnung ein.
Zuletzt sei Tareq Syed gedankt, der die Idee für diesen faszinierenden Schwerpunkt hatte.
Harry Schaack