MIT AKADEMISCHEM BLICK

Von Harry Schaack

Friedels & Hesses Schachgeschichten
Frederic Friedel und Christian Hesse,
Schachgeschichten.
Geniale Spieler – Clevere Probleme.
Droemer Verlag 2022,
Hardcover, 285 S., 20,- Euro

 
(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Droemer Verlag zur Verfügung gestellt.)

Mit Schachgeschichten. Geniale Spieler – Clevere Probleme haben zwei Autoren einen Sammelband vorgelegt, die mit akademischem Blick ihren Gegenstand betrachten. Frederic Friedel hat in den siebziger Jahren Wissenschafts­sendungen fürs Fernsehen gemacht und war einer der Pioniere des Computerschachs. Und der Mathematiker Christian Hesse war einst jüngster Professor der Bundesrepublik – sowie langjähriger KARL-Kolumnist. Die beiden Autoren teilen sich die Arbeit. Während Friedel über seine Kontakte mit den weltbesten Spielern von Euwe und Fischer bis hin zu den beiden besten Frauen Judit Polgar und Hou Yifan berichtet, widmet sich Hesse dem Thema Schach und Mathematik.
Friedels Freundschaften zu zahlreichen Weltklassespielern waren ein Fundament für den ökonomischen Erfolg seiner Firma ChessBase, die er 1987 mit Matthias Wüllenweber gründete und die viele Jahre lang das bedeutendste Unter­nehmen im Schachbereich blieb. Dabei profitierte Friedel von seinen Kontakten zu Weltmeistern wie Kasparow, den er als den genialsten Spieler aller Zeiten ansieht und den er beim Deep Blue Match 1997 im Team unterstützte, oder mit Anand, den er als 16-Jährigen kennenlernte und der ihn später zu dessen Hochzeit eingeladen hat. Friedel hatte von jeher ein Händchen für die großen Talente des Schachs und kümmerte sich schon um sie, als sie noch sehr jung waren. Er war schon zu Gast bei den Polgars, als Judit noch nicht zehn Jahre alt war. Und Carlsen war ein Teenager, als er ihn zu Turnieren begleitete.
Eines der Geheimnisse dieser zahlreichen Freundschaften ist vermutlich, dass Friedel kein allzu guter Schachspieler ist, die Beziehungen also auf einer anderen Ebene verhandelt werden. Stattdessen konnte er mit Computerexpertise, mit Unterstützung durch sein Netzwerk und nicht zuletzt mit seinem Humor die Sympathien vieler gewinnen. Friedel mag kleine Rätsel, knifflige Aufgaben und logische Probleme, mit denen er immer wieder seine prominenten weltmeisterlichen Freunde verblüffte und neckte. Die Aufmerksamkeit des jungen Carlsen gewann er einst mit der Veranschaulichung von astronomischen Dimensionen unseres Sonnensystems. Und so viel sei verraten: Eines seiner Rätsel in den Schachgeschichten bleibt unaufgelöst!
Zuweilen führte seine vielfältige Vernetzung mit der Schachwelt zu Loyalitätsproblemen. Als Friedel Anand beim WM-Kampf 1995 be­gleitete, fragte ihn Kasparow, wo er stehe – und beantwortete die Frage selbst: Mit dem Herzen bei Anand, mit dem Verstand bei mir. Und auch Anand schaute seinen alten Freund einmal schräg an, als der zu den Mainzer Chess Classic mit Carlsen anreiste.
Alternierend zu den Stories von Friedel widmet sich Christan Hesse dem Thema Schach und Mathematik. Hesse hat sich in zahlreichen Publikationen um die Popularisierung der Mathematik und des Schachs Meriten verdient. In den Schachgeschichten widmet er sich seinem ur­eigensten Thema. Schwierige und komplexe mathematische Sachverhalte bricht er mithilfe des Schachs auf eine verständliche Ebene herunter und macht Unvorstellbares anschaulich. Seine Beispiele sind stets verblüffend. So veranschaulicht er die Anzahl möglicher verschiedener Schachpartien, eine unfassbar große Zahl, in dem er die Zeit angibt, die ein Computer, der eine Million Partien in der Sekunde abarbeiten kann, dazu braucht, alle nachzuspielen. Man kann den Mount Everest löffelweise nach Kanada transportieren und etliche Male hin und zurück, und dabei noch viele andere Auf­gaben nebenbei erledigen, bis der Rechner nach einer schier unermesslichen Zeit endlich seine Herkulesarbeit bewältigt hat.
Oft dient Hesse ein Zenmeister als Illustrator seiner Probleme. Ausgehend von einem schachlichen Problem stellt dieser seinen Schülern logische oder statistische Aufgaben, die mit einer geringen Anzahl von Informationen zu über­raschenden Lösungen führen. Mal dient die Weizenkornlegende als Ausgangspunkt weiterer kombinatorischer Überlegungen, mal zeigt Hesse, dass magische Quadrate und das Problem, wie viele Damen sich auf einen n-großen Brett aufstellen lassen, ohne sich gegenseitig anzu­greifen, eng verwandt sind! Spannend wird es auch, wenn mathematisch-logische Überlegungen mit einem extra dafür komponierten Schachproblem verbildlicht werden.
Das Besondere an diesem Buch ist der aka­demische Blick auf das Schach. Eine er­frischende Lektüre, die interaktiv durch QR-Codes ergänzt wird, und die zeigt, dass Schach auch über die 64 Felder hinaus äußerst spannend präsentiert werden kann.