TUGENDHAFT
Die Königsfigur in den historischen Schachbüchern des 13. bis 17. Jahrhunderts
VON BJÖRN REICH
(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/22.)
I. DAS SPIEL DER KÖNIGE
Betrachtet man die Geschichte des Schachspiels, so ist die Figur des Königs auf den ersten Blick die uninteressanteste aller Figuren, denn sie hat von Anfang an die wenigsten Veränderungen durchlaufen. Das Spiel wurde irgendwann ab dem 3. Jahrhundert nach Christus erfunden und ist ab dem 6. Jahrhundert in Persien belegt. Dort wurde die Figur als Schah bezeichnet, was so viel wie Herrscher oder eben König bedeutet. Nach ihr ist das Spiel benannt. Das Schach ist also von Anfang an im wahrsten Sinne des Wortes ein ‚Spiel der Könige‘. Noch vor der Mitte des 10. Jahrhunderts gelangte es – vermittelt über die Araber – nach Europa. Dort wurden bereits einige Figuren umgetauft, etwa der Wesir, für dessen Amt es keine Entsprechung gab, und der nun als Königin an die Seite des Königs gestellt wurde. War das Schachspiel vorher eher als Kriegsspiel wahrgenommen worden, dessen Parteien gegnerische Heere symbolisierten, so wurde es nun zum Weltdeutungsspiel: „Mundus iste totus quoddam scaccarium est“ (QM 560) – „die ganze Welt ist ein Schachspiel“ – heißt es etwa in der Quaedam moralitas de scaccario [kurz: Moralitas], einem frühen lateinischen Schachtraktat aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Auch andere Figuren änderten ihre Bezeichnung: Der heutige Läufer tritt mal als Bischof, mal als Richter, mal als Elefant und mal als Narr in Erscheinung, der Turm als Streitwagen, Burg oder sogar als sagenumwobener Vogel Rock. Nur der König blieb immer der König.
Natürlich ist das Schachspiel auch deshalb ein ‚Spiel der Könige‘, weil der Adel es frühzeitig zu seinem Spiel machte. Im 11. Jahrhundert nennt Petrus Alfonsi, der Leibarzt Alfons‘ VI. von Kastilien (1037–1109) in seiner disciplina clericalis einen Katalog an adligen Grundfertigkeiten. Neben Reiten, Nahkampf, Bogenschießen, Jagen und Fischen gehört auch das Verse dichten und Schachspielen zu diesen sieben probitates, die maßgeblich für die Erziehung junger Adliger wurden. Sowohl Männer als auch Frauen am Hof erlernten das edle Spiel.
Wenn Hochadlige Schach spielen, d. h. wenn ‚Könige‘ Königsfiguren über ein Brett rücken, so besteht zwischen Spielenden und Spielfiguren eine enge Verbindung. Die Betrachtung der Königsfigur wäre daher unvollständig ohne die Geschichten spielender Könige, die in den frühen Schachbüchern von Anfang an mit dem Spiel verbunden werden. Dabei eignet dem Schach seit seinen Ursprüngen ein sozialkritischer Duktus, der das königliche Handeln hinterfragt. Schon die frühesten Legenden berichten davon, dass es als Mittel der Herrschererziehung erfunden wurde. Die bekannteste ist die sogenannte Weizenkornlegende. Sie wird zuerst im arabischen Bereich fassbar: Der Rechtsgelehrte Ibn Challikān (1211–1282) erzählt, dass das Schach von dem Gelehrten Sissa ben Dahir erfunden wurde, der damit König Shihram belehren wollte. Als dieser ihn schließlich für die Erfindung des Spiels belohnen möchte, fordert Sissa Weizenkörner: Ein Korn für das erste Feld, zwei für das zweite, vier für das dritte, acht für das vierte usw. immer die vorige Anzahl verdoppelnd. Shihram hält Sissa zunächst für einen Dummkopf, muss aber einsehen, dass er das exponentielle Wachstum unterschätzt: 18.446.744.073.709.551.615 (18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend, 615) Körner wären nötig, um der Bitte zu genügen, was noch heute fast dem Tausendfachen der weltweiten Weizenernte entspricht. Die vielerzählte Geschichte zeigt nicht nur ganz allgemein die Belehrung eines Königs durch das Schachspiel, sie führt dem Herrscher durch die scheinbar bescheidene Bitte des Gelehrten die eigene Maßlosigkeit vor Augen. […]