EIN BEWAHREN DER MENSCHLICHKEIT

Von Harry Schaack

Stölzls Schachnovelle
Schachnovelle,
Regie: Philipp Stölzl,
112 Minuten,
Verleih Studiocanal 2021

 (© Studiocanal)

Im September kam nach monatelanger Verschiebung endlich Philipp Stölzls Neuverfilmung von Stefan Zweigs Schachnovelle in die Kinos. Diese Adaption erlaubt sich im Vergleich zur literarischen Vorlage viel mehr Freiheiten, als der berühmte Vorgänger von Gerd Oswald aus dem Jahr 1960.
Stölzl verschiebt die Akzente von Zweigs vorgegebener Zweiteilung der Handlung. Beim Autor wird auf der Schiffspassage Dr. Bs Vorgeschichte und die durch die Einzelhaft erlittene „Schachschizophrenie“ erzählt. Die durch die Ereignisse auf dem Schiff ausgelöste Erinnerung daran bringt Dr. Bs Trauma wieder zum Ausbruch. Das Remake inszeniert dagegen die Handlung selbst als Schizophrenie, bei der die Überfahrt zum Gegenentwurf der Realität wird.
Der Wiener Notar und Großbürger Dr. Josef Bartok, der sich vor allem der Musik und Literatur zugeneigt fühlt, verwaltet die Reichtümer der Adeligen und Klöster auf Auslandskonten, zu denen nur er die Zugangscodes weiß. Zunächst verkennt er im März 1938 gänzlich die politische Situation, noch den Abend vor dem Anschluss verbringt er auf einem Ball. Erst als ihm ein Freund auf die kurz bevorstehende „Übernahme“ Österreichs durch die Nazis aufmerksam macht und ihm ein Zugticket nach Amsterdam aushändigt, mit der Bitte, in zwei Stunden Wien zu verlassen, wird ihm die Brisanz bewusst. Bartok schickt seine Frau zum Bahnhof voraus und vernichtet in seiner Kanzlei wichtige Unterlagen, wird dabei aber von den Nazis überrascht und verhaftet. Man bringt ihn ins Hotel Metropol und verhört ihn. Weil er die Codes nicht preisgeben will, kommt er in Einzelhaft und wird später auch physisch gefoltert.
Stölzls Schachnovelle stellt den mit der Folter einhergehenden persönlichen Verfall bis hin zur Ich-Dissoziation in drastischen Bildern in den Vordergrund. Sukzessive flüchtet der isolierte Bartok in eine Parallelwelt. Nachdem er ein Buch stehlen kann, dass sich zu seiner Enttäuschung als Schachbuch herausstellt, widmet er sich mehr und mehr dem Spiel, das ihm zur einzigen Möglichkeit der Betätigung wird. Er spielt mit selbstgeformten Schachfiguren, bis man sie ihm wegnimmt, und spielt dann im Kopf gegen sich selbst weiter.
Eine Partie diese Buches, Weltmeister Czentovic gegen von Lammers, wird Bartok zum Ausgangspunkt seiner Phantasiewelt, die er mit realen Figuren des Hotels Metropol besiedelt. Dort begibt er sich mit neuer Identität – von Lammers – auf eine Schiffspassage durch dichten Nebel nach New York, dem Inbegriff der Freiheit. Zunächst ist noch seine Frau an seiner Seite, die sich jedoch schon bald als Illusion erweist, was zeigt, wie fragil Bartoks Traumgebilde ist.
Nachdem Bartok auf dem Schiff dem letzten Teilnehmer einer Simultanveranstaltung von Weltmeister Czentovic die entscheidende Zugfolge mitteilt, die das Remis sichert, wird er zu einer Einzelpartie mit dem Champion eingeladen. In Bartoks Geist wird sein Ermittler aus dem Hotel Metropol, Franz-Josef Böhm, zu Czentovic, der ein ungebildeter Analphabet ist, der kaum hundert Worte sprechen kann. Gespielt wird – wie beim WM-Match zwischen Lasker und Schlechter – um eine Uhr, die man Bartok bei der Gefangennahme abnahm, Sinnbild einer in der Haft stehengebliebenen Zeit. Das Schachbrett wird zum Stellvertreter des geistigen Ringens.
Bartoks aussichtslose Situation gipfelt in einem letzten Verhör, das filmisch mit der Partie gegen Czentovic parallel montiert wird. Bartok soll die Codes nun verraten, doch er schreibt die Seiten mit Schachzügen voll und bezwingt gleichzeitig Czentovic. Bartok hat nicht nur den Weltmeister besiegt, sondern auch den Ermittler.
Er ist uns entkommen, sagt Böhm am Ende – freilich ein Filmzitat, das an die Schlussszene von Terry Gilliams Brazil erinnert. Auch in Stölzls Schachnovelle flüchtet Böhm in seine Traumwelt, in die völlige innere Emigration, die kein Außen mehr zulässt. Nicht einmal mehr das Wissen um seine frühere Existenz bleibt. Er ist am Geiste erkrankt und verbringt den Rest seiner Tage in einer psychiatrischen Heilanstalt. Dort trifft er nach dem Krieg seine Frau wieder, der offenbar die Flucht in die USA gelungen war. Sie liest ihm aus Odysseus vor, ein Buch, aus dem Bartok früher ganze Passagen frei rezitieren konnte. Ein Buch, das für seine eigene Reise steht. Ein Buch, das er am Ende nicht mehr kennt.
Stölzl gelingt eine sehr überzeugende Dar­stellung der Zerstörung einer Persönlichkeit, die im Zuge der monatelangen Isolation völlig zerbricht. Herausragend ist dabei der Hauptdarsteller Oliver Masucci, der den Persönlichkeitszerfall grandios darzustellen weiß und den Film außerordentlich sehenswert macht.