BRUCH UND KONTINUITÄT

Die Entwicklung vom Wesir zur Dame

Von Michael Ehn

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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Elfenbein-Dame, Kanton, um 1820
Elfenbein-Dame
auf einer Glücks- oder Contrefaitkugel,
Kanton, um 1820
(© Sammlung Dr. Thomas Thomsen)

1. EINLEITUNG

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verwandelte sich durch Änderungen in den Spielregeln (vor allem die Gangart der beiden Figuren Dame und Läufer) der Charakter des Schachspiels vollkommen; ein Zeitalter, in dem kulturelle, politische und religiöse Revolutionen ausgelöst wurden, durch die Europa ein modernes Gesicht bekam, und die bis heute fortwirken1. Im ersten gedruckten Buch über Schach stehen alte und neue Spielweise noch fast gleichberechtigt nebeneinander, die neue Spielweise scheint sich jedoch innerhalb weniger Jahrzehnte derart radikal vor allem in Italien, Spanien und Frankreich und hundert Jahre später auch in Deutschland und Österreich durchgesetzt zu haben, sodass die alte bald verdrängt wurde. Die Frage, wann und wo diese Regeländerungen entstanden sind und vor allem, wodurch sie bewirkt wurden, gehört zu den umstrittensten Themen der Schachgeschichtsforschung.
Will man die Veränderung von Spielregeln als kulturellen Wandel beschreiben, z.B. den Übergang vom kurzschrittigen arabischen Wesir zur langschrittigen europäischen Dame, liegt eine Trennung der Analyse­ebenen in einem strukturalistischen Modell nahe:
1) Syntaktischer Wandel: Veränderungen in den Axiomen und Zielen des Spiels (Gangart der Figuren oder ist Patt als Unentschieden oder Sieg zu werten).
2) Semantischer Wandel: Veränderungen in der Terminologie (die Benennung der Figuren).
3) Ikonographischer Wandel: Veränderungen im Design der Figuren (figurativ versus abstrakt).
4) Allegorischer Wandel: Veränderung im Symbolgehalt und in den Metaphern (Schachpredigt des Cessolis).
Diese Ebenen vereinen sich in einer Schachfigur, sind miteinander in Verbindung und interagieren, doch kann diese Verbindung eine indirekte und zeitlich völlig verschobene sein.
Beschreiben wir zunächst die Syntax des Schachs, das die Europäer von den Arabern fast unverändert übernahmen. Das Brett war ein farbloses Linienbrett, sodass die Aufstellung von König und Wesir von dem Spieler abhing, der den Anzug hatte bzw. der als der Stärkere erachtet wurde. Die Basis der Spielregeln war im riesigen islamischen Reich seit der Übernahme des Spiels von den Persern fast dieselbe: Der „Shāh“ (König) blieb im Gegensatz zu allen anderen Figuren ein persisches Lehnwort und wurde nicht etwa in „Kalif“ übersetzt. Er bewegte sich wie der moderne König ein Feld in jede Richtung, ausgenommen, ein solches Feld wurde von einem gegnerischen Stein beherrscht. Er war nicht nur die wichtigste Figur des Spiels, sondern auch das Spiel selbst wurde so bezeichnet („Königsspiel“). Der „Wesir“ (Minister, Persisch „farzīn“) zog im Gegensatz zur heutigen Dame nur ein Feld diagonal in jede Richtung. Der „Fil“ (Elefant, der heutige Läufer, Persisch „pīl“) sprang diagonal über eigene und gegnerische Steine hinweg in jedes dritte Feld. „Faras“ (Pferd, Persisch „asp“) und „Rukh“ (Wagen, Persisch „rokh“) zogen genauso wie im heutigen Schach Springer und Turm. Der „Baidaq“ (Fußsoldat, Persisch „piyāda“) zog vertikal einen Schritt und schlug diagonal. Erreichte er die achte Reihe, wurde er ausschließlich zum Wesir. Be­liebig viele Umwandlungen zum Wesir waren erlaubt. Es gab weder die Rochade, noch den En-passant-Schlag, noch den Doppelschritt des Bauern im ersten Zug – alles das sind spätere europäische Er­findungen. Ein Spiel war gewonnen, wenn der gegnerische König mattgesetzt wurde („shāh mat“), er aller seiner Figuren beraubt war („shāh munfarid“ – „der König ist isoliert“), aber nicht mattgesetzt werden konnte („Beraubungssieg“) und wenn er pattgesetzt wurde („za‘id“). War der Gegner also bewegungsunfähig, wurde das im Gegensatz zum modernen Schach als Sieg gewertet.
Eine Schachpartie entwickelte sich wegen der im Vergleich zum modernen Schach beschränkten Gangart der Figuren langsam. Es dauerte zwanzig Züge und mehr, bis die Eröffnung absolviert war und sich ein interessantes Spiel ergeben konnte. Daher entstand schon bei den Arabern die Idee, von bestimmten Eröffnungs­stellungen („tabiya“) aus weiterzuspielen, um Zeit zu sparen. Gespielt wurde seit jeher um Einsatz, der von Geld und Gütern bis hin zu Gliedmaßen, Konkubinen und Sklavinnen reichen konnte. Das Matt war aufgrund der geringen Kraft der Figuren ein seltenes Ereignis und wurde mit mehrfachem Einsatz belohnt. Die „Remis­breite“ war groß, der Beraubungssieg im schachlichen Alltag wohl die häufigste Form des Spielergebnisses. Daher blühte schon von Anfang an die Kunstform der Schachkomposition in Form der „Mansube“, in der versteckte, feine Gewinnwege zum seltenen Matt führten. Auch hier wurden Wetten auf die Lösung abgeschlossen. Schon früh existierte das Spiel in mehreren Varianten. So beschreibt der Historiker al-Mas‘udi (895-957) in seinem Werk „Die goldenen Wiesen und Edelsteingruben“ fünf Varianten des Spiels: das Langschach, das Dezimalschach, das Rundschach, das astronomische Schach und das Gliederschach.

Dänische Elfenbein-Dame
Elfenbein-Dame, Dänemark, Mitte 19. Jh. (© Sammlung Dr. Thomas Thomsen)

 

2. SEMANTISCHE BRÜCHE

Die ursprüngliche Terminologie des Schachfigurenensembles stammt also aus dem Persischen in arabisierter Form. Als das Schach den europäischen Parcours im 9. Jahrhundert betrat, hatte dies sofort nachhaltige und rasche Änderungen auf der semantischen Ebene der Figurenbezeichnungen zur Folge, da die arabischen Begriffe nicht verstanden wurden. Am Anfang dieser Epoche stand der Versuch, die Termini phonetisch zu assimilieren bzw. einfach zu übersetzen, am Ende steht die völlige Übernahme und semantische Transformation in den europäischen höfischen Kanon. Die erste wichtige Quelle dafür ist ein Gedicht mit dem Titel „Versus de scachis“ aus Einsiedeln (Kanton Schwyz), das nach 950 entstand. In diesem ersten schriftlichen abendländischen Zeugnis des Schachspiels werden in 98 Versen die Regeln des Schachspiels beschrieben. Der anonyme Autor betont, dass Schach ein Spiel sei, bei dem kein Einsatz und keine Würfel notwendig sind. Das Brett hat acht mal acht Felder („tabulae“), welche einige Spieler hell und dunkel färben. Die Unterscheidung dieser beiden Farben helfe beim Denken und erleichtere es, den Zügen zu folgen. Die Regeln sind dieselben wie die arabischen, mit einer Ausnahme: Der Bauer kann nur zur Regina (Dame) werden, wenn die originale Regina nicht mehr auf dem Brett ist. Das Werk ist bereits völlig frei von arabischer Terminologie, die Nomenklatur aller Figuren ist auf die höfische Struktur der mittel­alterlichen Gesellschaft übertragen: Rex (König), Regina (Dame), Comes (Läufer), Eques (Springer), Rochus (Turm) und Pedes (Bauer) heißen die Steine.
Der „Shāh“ wurde zum lateinischen „Rex“ und auch später in die europäischen Einzelsprachen einfach ohne Bedeutungsveränderung übersetzt oder hat sich als Exotismus – unveränderte Übernahme – bis heute erhalten. Ebenso gab es mit „Faras“ (Pferd) und „Baidaq“ (Fußsoldat) keine Probleme: Sie wurden einfach mit semantisch sehr ähnlicher Bedeutung in Ausgangs- und Zielsprache mit „Eques“ und „Pedes“ übersetzt. Die übrigen Figuren durchliefen semantisch eine komplexere Entwicklung, weil sie in Europa als Termini unbekannt waren: „Rukh“2, „Fil“3 und „Wesir“, den die stärkste Bedeutungsveränderung betraf. Seine phonetische Assimi­lation führte zum Neologismus „Fercia“, der im Französischen weiter zu „Fierge“ und zu „Virgo“ (etwa in der Dichtung „De vetula“ eines Pseudo–Ovid um 12504) und im Spanischen sogar zu „Alferez“ (mit der neuen Bedeutung „Fahnenträger“ etwa bei Alfonso 1283) führt und über „Alferezza“ schließlich zu „Regina“ und „Dama“ in ein und demselben Buch (Lucena 1496).5 Diese frühen Transformationen erfolgten ausschließlich auf der semantischen Ebene, während der ikonographische Wandel erst Anfang des 12. Jahrhunderts einsetzte – den abstrakten arabischen Figuren wurden figurine europäische zur Seite gestellt. Der Wandel auf der syntaktischen Ebene, die „Europäisierung“ der Spielregeln, setzte erst mehr als 300 Jahre später ein.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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