EDITORIAL
LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,
die Dame ist die bei weitem mächtigste Figur, dabei war sie ursprünglich in ihrer Reichweite arg beschränkt. Erst als das Spiel in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts reformiert und schneller wurde, erhielt sie ihre heutige Stärke. Michael Ehn hat in seinem Artikel die vielfältigen Ursachen dieser Veränderung und den Übergang vom kurzschrittigen arabischen Wesir zur langschrittigen europäischen Dame untersucht, die bis heute nicht eindeutig geklärt sind.
Eine der erhebendsten Momente im Leben eines Schachspielers ist wohl ein positionelles Damenopfer. Es führt unmittelbar zu einer ungleichen Materialverteilung, die oft schwer zu evaluieren ist und bei der auch Intuition eine große Rolle spielt. Erik Zude erklärt die Vorbedingungen eines erfolgreichen Damenopfers sowie dessen Funktionsweise.
Vollendete Ästhetik findet sich in den Studien wieder. Yochanan Afek stellt einige regelrechte Feuerwerke vor, deren Charme man sich schwerlich entziehen kann. Unser besonderer Dank gilt einmal mehr Jan Timman, der für diese Ausgabe zum wiederholten Male eine Studie für die Karl-Leser beigesteuert hat.
Mihail Marin widmet sich überraschenden Damenzügen und mysteriösen Damenmanövern im Mittelspiel, die gelegentlich nicht weniger verblüffend sind als Damenopfer und die ihn im Laufe seiner eigenen schachlichen Entwicklung tief beeindruckt haben. Dabei zeigt er auch, wie die Dame mit anderen Figuren wie dem Springer und dem Läufer besonders gut harmoniert.
Ich erinnere mich noch, wie einst in den achtziger Jahren das große Berliner Sommer Open einfach nicht enden wollte, weil es an einem Spitzenbrett noch um die Preise ging und keiner von beiden Spielern im Damenendspiel klein beigeben wollte. Diese Art der Endspiele hat wegen der verwirrenden Anzahl an Zugmöglichkeiten und den langwierigen Gewinnführungen wohl schon so manchen zur Verzweiflung gebracht. Doch Karsten Müller gibt einige Tipps und Faustregeln, wie man dieses unübersichtliche Endspiel, jedenfalls zum Teil, in den Griff bekommen kann.
Die Figurengestaltung der Dame zählte seit jeher zu den Paradedisziplinen der Kunsthandwerker, wie man sich auch auf unserem Cover überzeugen kann, wo Marie Antoinette, Königin von Frankreich und Navarra, zu sehen ist. In einer Bildreihe stellen wir eine Auswahl mannigfacher Motive aus vielfältigen Materialien und unterschiedlichen Zeiten und Kulturen aus Dr. Thomas Thomsens Sammlung vor.
Traian Suttles widmet sich dem vielleicht berühmtesten Damenopfer in der Filmgeschichte und der Frage, ob HAL 9000 in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum schon bei der Schachpartie einen Defekt hatte, oder ob die logischen Unstimmigkeiten auf eine „psychologisierte“ Disposition der KI zurückzuführen sind.
Bleibt noch, unseren Lesern trotz der mittlerweile wieder beunruhigenden Pandemieentwicklung eine interessante WM zwischen Carlsen und Nepomnjaschtschi sowie entspannte Feiertage und einen guten Neuanfang für das Jahr 2022 zu wünschen!
Harry Schaack