TIEFSCHÜRFEND, UNTERHALTSAM, SELBSTIRONISCH
Von Harry Schaack
David Navara,
My Chess World,
Thinkers Publishing 2020,
Paperback, 614 S.,
35,95 Euro
(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise
von Schachversand Niggemann zur Verfügung gestellt.)
David Navara ist ein schachliches Ausnahmetalent, wurde schon mit 16 Jahren Großmeister und ist seit Jahren Vorkämpfer seines Landes. Bei Thinkers Publishing ist nun mit My Chess World ein wahrer Wälzer erschienen, der die Biographie und die denkwürdigsten Partien des Tschechen auf über 600 Seiten versammelt.
Navara gehörte zu seiner besten Zeit zu den Top 15, momentan ist der 35-Jährige 39. der Weltrangliste. Vielleicht hat er es nicht noch weiter gebracht, weil er zu nett und zu freundlich ist, immer zurückhaltend und bescheiden. Schon der erste Satz dieser Autobiographie ist bemerkenswert. Wo andere selbstbezüglich beginnen, liest man bei Navara: „Ich bin der Meinung, dass eine Karriere als Schachprofi nur dann Sinn macht, wenn sie in hohem Maße der Öffentlichkeit gewidmet ist. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.“
Wohl kaum ein anderer Weltklassespieler hat so viele joviale Worte für seinen Gegner gefunden. Es scheint fast so, als spiele das Resultat für Navara nur eine untergeordnete Rolle, Priorität hat der schachliche Gehalt seiner Partien.
Was man vielleicht nicht erwartet, wenn man diesen schüchternen Mann schon einmal erlebt hat, ist Navaras außerordentliche Sprachbegabung. Zum einen spricht er mehrere Sprachen, zum anderen blitzt überall in diesem Buch sein mit Selbstironie und Humor gewürzter Wortwitz auf. Navaras Interesse an Sprache schlägt sich auch in seiner Lust an der Lyrik nieder, wovon man sich an dem Schachgedicht überzeugen kann, das er am Ende des Buches präsentiert.
Navara hat mit sechs Jahren Schach erlernt und war schon früh erfolgreich. Er hat mehrere Medaillen im Jugendbereich gewonnen, 1997 wurde er bei der U12-WM Dritter, 1998 U14-Vizeweltmeister. Sein bestes Resultat holte er aber 2011, als er beim World Cup bis ins Viertelfinale vordrang, wo er unglücklich an Grischtschuk scheiterte. Im selben Jahr gewann er auch das extrem stark besetzte Schnellschachturnier der Chess Classic in Mainz. 2014 wurde er Blitz-Europameister, 2015 im klassischen Schach Vize-Europameister. Und doch räumt er ein: „Ich bin einer der am höchsten bewerteten Spieler, der niemals ein großes Turnier gewinnen konnte.“
Öffentlichkeitswirksam waren die Zweikämpfe, die sein Manager Pavel Matocha jährlich in Prag gegen starke Gegner für Navara organisierte. Navaras Fazit: „Manchmal denke ich, kein anderer Tscheche hat so viele Matches verloren wie ich.“
Nicht immer konnte Navara über einen längeren Zeitraum stabile Ergebnisse liefern. Das mag daran liegen, dass er zwar schachbesessen ist, ihm aber gelegentlich die Geduld fehlt und er zuweilen während eines Turniers die Spiellust verliert. Vielleicht aber auch an seinen anderen Interessen, denn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hat sich Navara nicht ausschließlich auf Schach konzentriert, sondern „nebenbei“ ein Master-Studium in Logik erfolgreich abgeschlossen.
Viele Anekdoten dieser Lektüre bleiben in Erinnerung. Einmal spricht Navara über Journalisten, die unbedingt ihre vorgefasste Meinung in ihren Artikeln und Interviews bestätigen wollen, etwa dass Schachspieler irgendwie verrückt sind. Augenzwinkernd meint Navara: „Ich gebe zu, dass ich in dieser Hinsicht ein ziemlich guter Kandidat bin, obwohl es eine ganze Reihe besserer Beispiele gibt …“
Ein anderes Mal erzählt er, wie er in Polen von Polizisten verfolgt wurde, die ihn für einen Verbrecher hielten und er um sein Leben bangte. Dann wieder berichtet er einfühlsam von dem viel zu früh verstorbenen Wugar Gaschimow. Häufig teilt er seine Eindrücke, die er in den Ländern, in denen er spielte, gesammelt hat.
Er beschreibt ausführlich Turnierbedingungen, spricht über Angstgegner, oder schildert, wie er während eines Turniers mit negativen Nachrichten auf Websites umgeht. Dann wieder entschuldigt er sich für seine Vergesslichkeit außerhalb des Schachbrettes, was schon einige Male zum Verlust des Gepäcks, der Tickets oder der Pässe geführt hat. Ursache dafür ist nicht selten, dass Navara bei seinem Schachgrübeln gelegentlich in einen Flow gerät, der ihn von der realen Welt absentiert, wie er offen eingesteht.
Navara analysiert ausführlich, auch wenn er noch im Vorwort beteuert, eine Balance zwischen sprachlichen Anmerkungen und Varianten finden zu wollen. Bei der Präsentation seiner Partien fühle er sich „wie ein Verkäufer, der alte Sachen aufpoliert, damit sie neu aussehen“, bemerkt er scherzhaft. Doch diese kommentierten Partien sind ungeheuer inhaltsreich. Darunter ist auch die Perle gegen Wojtaszek (Biel 2015) zu finden. In diesem ästhetischen Glanzstück wandert
der weiße König bei vollem Brett bis tief ins gegnerische Lager, wovon auch sein Gegner so bezaubert war, dass er diese Partie einmal, ungeachtet seiner Niederlage, als die schönste bezeichnete, die er je gespielt hat. Dabei kommen lange Königswanderungen im Mittelspiel bei Navara auch andernorts vor, so gegen Piorun (BL 2016) und gegen Gratschow (EM 2019), wenn auch nicht so vollendet. Aber auch seine Partie gegen Tscheparinow (Heraklion 2007) gehört zu den Highlights dieser Sammlung.
My Chess World ist eine gelungene Kombination aus unterhaltsamer Lektüre und inhaltsreicher Analyse. Das einzige Manko, und das ist bei der Dicke dieses Buches wirklich ärgerlich, ist das fehlende Partienverzeichnis.