DIE INNOVATIVSTE FIGUR

MARC LOOST über den Ursprung der Springer der Staunton-Schachfiguren

Übersetzung aus dem Englischen von Harry Schaack

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/20.)

Staunton-Chess-Men 1849
Die ersten Staunton-Schachfiguren aus Elfenbein, rot gebeizt, von 1849. (Foto: © Marc Loost)

Die neuartigen Schachfiguren, die man als „Staunton Chess-men“ bezeichnet, wurden am 29. September 1849 in London erstmals zum Verkauf angeboten. Die Schachfiguren wurden nach dem englischen Schachspieler und Autor Howard Staunton (1810-1874) benannt. Staunton betreute in der Illustrated London News eine Schachkolumne und war Herausgeber und Miteigentümer des Chess Player‘s Chronicle, der zu dieser Zeit die einzige Schachzeitschrift in englischer Sprache war. Die innovativste Figur der Staunton Schachfiguren war der Springer, die Figur, die gewöhnlich durch den Torso eines Pferdes dargestellt wurde. Die neuen Gestaltungs­merkmale sollten sowohl den Schachspielern als auch den Zuschauern zugutekommen, wenn das Spiel in Klubs und öffentlichen Orten wie Kaffeehäusern und Tavernen gespielt wurde. (1) Der Zweck der neuen Designmerkmale bestand darin, den Figuren Individualität zu verleihen, ihre Differenzierung und Sichtbarkeit zu verbessern und ihnen eine größere Stabilität auf dem Brett zu verleihen.
Der Staunton-Springer war der Inbegriff dieser Verbesserungen. Es wurde behauptet, dass die Form des Staunton-Springers von den Marmorpferden inspiriert wurde, die Pheidias für den Fries des antiken Parthenon in Athen modelliert hatte. Diese wurden als Teil der sogenannten Elgin-Marmore [Marmorskulpturen und -reliefs von Tempeln der Akropolis, die die Britische Regierung 1816 von Lord Elgin erwarb; der Übers.], die im Britischen Museum ausgestellt sind, sehr bewundert. Es waren vor allem die berittenen Pferde, die die Aufmerksamkeit des Schöpfers dieser Schach­figuren auf sich zogen. Die Pferde der Staunton-Springer erhielten ähnliche, anliegende Ohren, wulstige Augen, hervorstehende Kiefer, offene schnaubende Mäuler, klaffende Zähne und aufgeblähte Nüstern. Ihre dramatische Wirkung unterschied sich deutlich von den sanftmütig domestizierten Pferden früherer Schachfiguren. Es war das erste Mal, dass die Parthenon-Pferde auf diese Weise wegen ihres Glamours und ihrer Werbewirksamkeit verwendet wurden. Aber es war weder das erste noch das letzte Mal, dass sie das Design eines Springers inspirierten.
Die wichtigste Neuerung des Staunton-Springers war die Abschaffung der verzierten Säule, die normalerweise dem Torso des Pferdes Halt und Höhe gab. Obwohl die Staunton-Schachfiguren die Säule in den anderen Figuren beibehielten, opferte das neue Design diese Symmetrie, um dem Springer mehr Individualität, Sichtbarkeit und Stabilität auf dem Brett zu verleihen. Hals und Kopf des Pferdes wurden verdickt und direkt auf eine breitere Basis ohne zwischengeschaltete Säule gesetzt. Außerdem war der Pferdekopf, anders als bei vielen anderen Entwürfen, nicht natürlich nach unten gebogen. Wie nur bei einigen der berittenen Pferde des Parthenonfrieses war der Kopf des Pferdes stattdessen in eine horizontale Ebene gehoben, die nahelegte, dass das Pferd (wenn man es in seiner Gesamtheit hätte betrachten können) sich tatsächlich nach hinten aufbäumte und auf seinen Hinterbeinen in einer herausfordernden Haltung stand. Diese Haltung verlieh dem Ganzen noch mehr Dramatik, hatte aber auch einen praktischen Zweck. Sie ermöglichte eine bessere Sicht auf die Oberseite des Kopfes, der abgeflacht wurde, um Platz für eine neue Markierung (eine Krone) zu schaffen, die auf den Kopf des Königsspringers gestempelt wurde. Diese Markierung ermöglichte den Spielern während der Partie und den späteren Analysen, diese Figur vom Springer des Damenflügels zu unterscheiden. Zum selben Zweck wurde das gleiche Zeichen auch auf dem Königsturm angebracht. Dies war ein Merkmal, das Howard Staunton oft lobte, weil es sich um eine praktische Neuerung handelte, die von einem Schachspieler für Schachspieler konzipiert wurde. Es war ein herausragender Teil der ursprünglichen Designzeichnung.

Staunton-Chess-Men mit Stempel
Die ersten Staunton-Schachfiguren von 1849 mit den Kronen auf Springer und Turm sowie die originalen Registrationssticker aus grünem Papier an der Unterseite der Figuren. (Foto: © Marc Loost)

Kein Schachdrechsler konnte die robusten Merkmale und feinen Details des Staunton-Springers umsetzen, denn sie erforderten geschicktere Schnitzereien als bei anderen Formen. Nur solche Drechsler, die spezialisierte Schnitzer beschäftigten, konnten die Arbeit erledigen. Dies verringerte die direkte Kontrolle des Drechslers über die Produktionsqualität und erhöhte seine Kosten.
Es war nicht nur das Profil des Springers, das geändert wurde. Das Profil aller Figuren wurde mit schlanken, sich nach oben ver­jüngenden Säulen gestaltet. Diese wurden nun von neu ent­worfenen Oberteilen überragt. Von den Säulen verschwanden die vielen ringförmigen Auswölbungen der Old English-Schach­figuren und der St.-George-Schachfiguren, die zu jener Zeit die wichtigsten in London verwendeten Spielfiguren waren. Diese Verzierungen demonstrierten das Geschick des Drechslers, fügten aber nur unnötige dekorative Masse hinzu, die das Brett überfüllte und die Sicht sowohl für die Spieler als auch für die Zuschauer verdunkelte.
Die Edinburgh-Schachfiguren, die bereits 1835 eingeführt worden waren, hatten den Weg für solche Verbesserungen geebnet. (2) Einige nützliche, aber weniger radikale Änderungen wurden an anderen Teilen der Staunton Schachfiguren vorgenommen. Das Haupt der Dame erhielt eine Krone, um nicht nur für mehr Eleganz, sondern auch für eine bessere Identifizierung auf dem Brett zu sorgen. Der Zweck dieser Verzierung bestand auch darin, die Dame den Symbolen anzupassen, die in den gedruckten Schachdiagrammen verwendet wurden. Andererseits waren einige dieser Verfeinerungen, wie die feinen Zacken der Krone der Dame, das Kreuz der Königskrone und die Bischofsmitra des Läufers (mit ihrer tiefen Spalte und schlanken Spitze) für das Auge des Spielers angenehmer als für seine Hand. Für den Drechsler von Schachfiguren erhöhten diese Verfeinerungen unnötig die Herstellungskosten und die Wahrscheinlichkeit von Miss­ge­schicken und Materialverschwendung. Diese Merkmale des Entwurfs ließen sich jedoch nicht vermeiden, da sie durch die maßstabgetreue Zeichnung der Staunton-Schachfiguren vorgeschrieben waren, die am 1. März 1849 in das Registry of Design in London eingetragen worden war. Diese Originalzeichnung zeigte eine Profilansicht des Königs, der Dame, des Läufers, des Turms und des Bauern in absteigender Reihenfolge der Höhe. Eine zusätzliche Ansicht nur des Königsspringers und des Königsturms, von oben gesehen, unterstrich ihr charakteristisches Kronenzeichen, das auf der Oberseite eingeprägt war. (3)

ANMERKUNGEN

1.) Eines der Londoner Caféhäuser war der Grand Cigar Divan, gelegen am Strand 101-102, das erst ab 1836 berühmt wurde, als Samuel Ries (1808-1890) Eigentümer wurde. Ries wurde als Untertan des Königreichs Hannover geboren und erhielt am 15. Mai 1868 die britische Staatsbürgerschaft. Die bislang kolportierte Geschichte dieser Einrichtung bedarf einer Überarbeitung.
2.) Siehe die Zeitung „Bell Life in London, and Sporting Chronicle“ (14 Juni 1835, S. 2, Spalte 3). Laut Staunton, der die Entwürfe der Hersteller verunglimpfte, sei ihr Design von Lord John Hay vorgeschlagen worden.
3.) Das Duplikat der Zeichnung, das das „Registry of Design“ aufbewahrt, kann im „National Archives of the United Kingdom“ (Kew, Surrey) als Stück Nr. 58.607 in BT 43-67 auf S. 116 oder in dem in Anm. 4 zitierten Artikel eingesehen werden.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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