BILDER EINES AUFSTIEGS
Von Harry Schaack
Alexander Nikitin,
Coaching Kasparow.
Year by Year and Move by Move.
Volume 1: The Whizz-Kid (1973-1981),
Elk and Ruby 2019,
Paperback, 199 S.,
19,95 Euro
(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Schachversand Niggemann zur
Verfügung gestellt.)
Heutzutage scheint es eine ganze Schar an Wunderkindern zu geben. Grund dafür ist die einfache Informationsbeschaffung mittels Schachcomputern, Datenbanken und dem Internet. Es lohnt ein Blick in die Vergangenheit, um zu sehen, wie langsam im Vergleich dazu die Entwicklung eines der besten Schachspieler der Geschichte verlief.
Alexander Nikitin war von 1973-1990 Trainer und Sekundant von Kasparow. Er hat dessen Aufstieg von Beginn an aus nächster Nähe miterlebt. Nun ist sein Buch Coaching Kasparov, das bereits zwischen 1991-1996 in verschiedenen Sprachen und Versionen erschienen war, neu aufgelegt worden. Der erste Teil beschäftigt sich mit Kasparows Karriere bis zu seinem geteilten Sieg bei der UdSSR-Meisterschaft 1981 in Frunse.
Kasparow hat von Jugend an hart am Schach gearbeitet, was deutlich wird, wenn Nikitin schreibt: „He simply had no time for friendship.“ Aufgrund des frühen Todes seines Vaters hatte Kasparow ein fast schon symbiotisches Verhältnis zu seiner Mutter, die ihn bedingungslos unterstützte, was auch immer wieder zu Kompetenzunklarheiten im Trainerverhältnis zwischen Nikitin und Kasparow führte.
Botwinnik entdeckte Kasparows Talent früh und besorgte ihm ein Stipendium. Danach wurde Kasparow an der Botwinnik-Schule ausgebildet, wo er mit Dworetski Endspiele trainierte und mit dem großen Theoretiker Makogonow ein Eröffnungsrepertoire erstellte. Schon früh integrierte Kasparow auch autogenes Training in seine Vorbereitung.
Als sich Kasparows Erfolge mehrten, nahm er den Namen seiner Mutter an. Nikitin war überzeugt, dass Kasparow mit dem jüdischen Namen seines Vaters, Weinstein, wegen des Antisemitismus unter den sowjetischen Funktionären nie eine Chance zu einer großen Karriere gehabt hätte. Wie wichtig Fürsprecher in der UdSSR waren, machte sich später bemerkbar, als der einflussreiche aserbaidschanische Funktionär Geidar Alijew Kasparow unterstützte: Ohne Alijew wäre der WM-Kampf 1984 gegen Karpow nicht zustande gekommen.
Nikitin verrät auch, warum er seinen Schützling bis ganz nach oben führen wollte: Grund war ein Zerwürfnis mit Karpow, für den Nikitin früher gearbeitet hatte, dann aber wegen „amoralischen Verhaltens“ entlassen wurde. Der Wunsch, Karpow zu Fall zu bringen, machte Kasparow und ihn bald zu einer verschworenen Gemeinschaft.
Als Kasparow 15 Jahre alt war, entwarf Nikitin einen Fünfjahresplan mit Leistungszielen. Nikitin schildert die Trainingsmethoden, Turniervorbereitungen, Entwicklungsprozesse, Fortschritte und Rückschläge. Und wie ihn immer wieder Zweifel plagten, ob er den Jungen nicht überfordert oder ihm zu stark besetzte Turniere zumutet.
Kasparows Aufstieg verlief zunächst abseits der westlichen Öffentlichkeit. In der Sowjetunion gab es zwar allerlei schachliche Unterstützung, aber viel zu wenig Turniere. Um im Ausland u spielen, brauchte man eine Genehmigung. Botwinniks Einfluss machte es möglich, dass der titel- und Elo-lose Kasparow 1979 am Turnier im jugoslawischen Banja Luka teilnehmen durfte. Es sollte sein internationaler Durchbruch werden, denn er gewann ungeschlagen mit zwei Punkten Vorsprung.
Erstmals sind in diesem Buch auch 14 Blitzpartien gegen Tal veröffentlicht, die der 15-jährige Kasparow nach der sowjetischen Meisterschaft 1978 in Tiflis spielte und gegen den frisch gekürten UdSSR-Champion ausgeglichen gestalten konnte, was sein Selbstbewusstsein erheblich gestärkt haben dürfte. Sie sind erhalten geblieben, weil sie Kasparow am nächsten Tag allesamt aus dem Gedächtnis niedergeschrieben hat.
Ein lesenswertes Buch, das einem vor Augen führt, mit wie vielen Unwägbarkeiten selbst eine Karriere eines herausragenden Spielers wie Kasparow in der Sowjetunion verlief.