EDITORIAL

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

unser Titelbild zeigt zwei russische Spielfiguren des 18. Jahrhunderts aus Cholmogory in der Oblast Archangelsk. Es sind Elefanten, die als Läufer verwendet wurden. Im Russischen hat sich der Dickhäuter nach der persischen Überlieferung als „slon“ erhalten. Die Figur hat eine Metamorphose erlebt, aber die Form des Elefanten versteckt sich bis heute in den abstrakten Darstellungen des Läufers, wie Michael Ehn in seinem Beitrag in diesem Heft zeigt.

Der Läufer hat im Schachspiel eine sehr ungewöhnliche Gangart, denn er kann als einzige Figur nicht alle Felder des Brettes betreten. (Im Gegensatz zum Bauern fehlt dem Läufer die Hoffnung auf eine Umwandlung.) Auf seine Felderfarbe beschränkt entfaltet er erst im Gleichklang mit seinem andersfarbigen Kollegen seine ganze Kraft. Mihail Marin zeigt einige Beispiele, in denen die Macht des Läuferpaares im Mittelspiel besonders zur Geltung kommt.

Großmeister Karsten Müller, der sich mit zahlreichen Publikationen als Endspielexperte einen Namen gemacht hat, erklärt die Besonderheiten ungleicher Läufer in der Endphase der Partie. Wenn man kein Gegenüber hat, kommt es besonders auf die Bauernstruktur an. Zwar sind ungleiche Läuferendspiele oft Remis, aber eben nicht immer.

Yochanan Afek entführt den Leser in die magische Welt der Studien, in der die Eigenheiten des Läufers eindrucksvoll zur Schau gestellt werden. Die Leichtfigur vollbringt in der Hand der Komponisten wahre Wunder. Besonders erfreulich ist, dass sich Jan Timman mit einer bislang unveröffentlichten eigenen Studie, die er den Karl-Lesern widmet, an diesem Beitrag beteiligt hat.

Afek beschäftigt sich in einem weiteren Artikel mit Bobby Fischer, dessen Lieblingsfigur der Läufer war. Von frühster Kindheit an sind Läuferopfer ein charakteristischer Zug seines Stils. In der Hand des 11. Weltmeisters scheint diese Figur stärker zu sein als bei anderen Spielern.

In unserem Porträt erzählt Alexander Donchenko, der im November mit einer Elo von 2650 auf den zweiten Platz der deutschen Rangliste geklettert ist, von seinem Misstrauen gegenüber Trainern, seiner Entscheidung, Profi zu werden, und seinem Credo, sich stets verbessern zu wollen, anstatt Titeln hinterherzujagen.

Vier Jahre lang hat der Münchner Großmeister Gerald Hertneck eine Kolumne in Karl betreut. Er hat die Leser mit seinen Rückblicken in die von ihm mitgeprägte jüngere deutsche Schachvergangenheit geführt und die besonderen Ereignisse seiner Karriere in Erinnerung gerufen. Mit dieser Ausgabe endet seine Artikelserie. Besten Dank, Gerald!

Bleibt noch ein betrübliches Ereignis zu erwähnen, das wohl alle Freunde der Schachkultur ins Mark getroffen hat. Am 14. November ist das Schachmuseum in Ströbeck niedergebrannt. Obwohl viele Exponate gerettet werden konnten, ist der Schaden durch das Löschwasser noch nicht absehbar. Ein Zufall wollte es, dass nur wenige Wochen zuvor die Schachsammler der CCI ebendort ihr Jahrestreffen abgehalten haben. Mittlerweile ist ein Spendenkonto der Stadt Halberstadt eingerichtet worden, um den Wiederaufbau zu beschleunigen. Hoffen wir, dass dieses einzigartige Kulturgut rasch wieder in neuer Blüte erscheinen wird.

Harry Schaack