SEINER ZEIT VORAUS
Von Harry Schaack
Dr. Karsten Müller, Mihail Marin, Oliver Reeh, Jonas Lampert,
FritzTrainer Master Class, Vol. 9:
Paul Morphy,
ChessBase 2017 (DVD),
Videospielzeit: 5 Std. 5 min (Deutsch),
29,90 Euro
(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von ChessBase zur Verfügung gestellt.)
Paul Morphy ist eine der schillerndsten Figuren am Schachhimmel. Mitte des 19. Jahrhunderts spielte er all seine Zeitgenossen in Grund und Boden, wobei der Großteil seines Ruhmes auf seinen Wettkämpfen aus nicht einmal drei Jahren beruht.
In den USA ist er vorher schon als Schachwunderkind berühmt. Durch Blindsimultanvorstellungen sorgt er für Aufsehen und stellt später gegen acht Gegner einen Weltrekord auf. 1857 wird er in New York beim ersten amerikanischen Schachkongress Landesmeister, nachdem er im Finale Louis Paulsen deutlich schlägt. Seine Europatournee 1858/59 macht ihn weltberühmt. Er schlägt jeden, der Rang und Namen hat, und spielt etliche Glanzpartien.
Erstaunlich ist, wie schnell sich Morphy in Wettkämpfen auf die Spielweise seiner Gegner einstellen konnte und oft zu Leistungssteigerungen fähig war, vor allem gegen Harrwitz 1858, den er nach zwei Auftaktniederlagen überrannte.
Während die Partien damals nicht selten durch Figureneinsteller entschieden wurden, wirken Morphys Sinn für Dynamik, schnelle Entwicklung, sein taktisches Sehvermögen und seine enorme Rechenkraft auch heute noch erstaunlich modern und wie aus der Zeit gefallen. Seine zahllosen grandiosen Kombinationen sind Bestandteil des kollektiven Schachgedächtnisses geworden.
Nach seiner Rückkehr in die USA versucht sich der erst 21-Jährige erfolglos als Anwalt und legt das Schachspielen allmählich ad acta. Seit den 1870er Jahren stellt sich bei Morphy eine zunehmende geistige Verwirrung ein, deren Grund letztlich nicht geklärt ist. 1884 stirbt er mit nur 47 Jahren, aber sein Name bleibt in den Annalen der Schachgeschichte für immer eingeschrieben – nach seinem klaren 8:3-Matchsieg gegen Anderssen 1858 als inoffizieller Weltmeister.
In der Serie Master Class ist nun bei ChessBase eine Monographie über den genialen Amerikaner als DVD erschienen. Wie immer in dieser Reihe unterzieht das Autorenteam die einzelnen Spielabschnitte einer kritischen Untersuchung.
Jonas Lampert ist für die Eröffnung zuständig. Der IM betont, dass Morphy zu einer Zeit, als es noch keine theoretischen Grundlagen gab, Ideen gezeigt hat, die erst Jahre später durch Steinitz verschriftlicht wurden. Interessant ist auch, dass Morphy einige nachhaltige Varianten einführte, die bis heute gespielt werden. Insbesondere fällt bei der Durchsicht der Partien auf, dass Morphy seine Figuren fast immer viel schneller und natürlicher entwickelt als seine Gegner. Um diese Überlegenheit auszuspielen, strebt er stets offene Stellungen an.
Lamperts Verdienst ist es, dass er die Eröffnung in die damalige Zeit einordnet. Er erklärt, welche Varianten damals en vogue und welche Konzepte neu waren. Auch weist er immer wieder auf gewisse Stilmerkmale hin, die Auskunft über Morphys dynamische Stellungsbehandlung geben, wie etwa den Vorstoß des Zentralbauern mit …d5, der sein Markenzeichen wurde.
Es gab aber auch Stellungstypen, die Morphy nicht gut behandelte. Lampert kann eine Tendenz zur Überschätzung der eignen Initiative und einer Unterschätzung der gegnerischen Verteidigungsressourcen zeigen.
Mihail Marin widmet sich den strategischen Aspekten im Spiel des Amerikaners. Trotz anfänglicher Skepsis fand er einige instruktive Beispiele. Marin kommt sogar zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass Morphys Positions- nicht schwächer als sein Kombinationsspiel war. Seltsamerweise unterliefen ihm aber gerade in den strategisch angelegten Partien taktische Fehler, die man sonst nicht bei ihm sieht.
Oliver Reeh hat mit der Taktik das wohl dankbarste Thema dieser DVD besprochen, das er in 20 interaktiven Aufgaben vorstellt. Er ist erstaunt, wie oft es Morphy gelang, den König seiner Gegner in der Mitte des Brettes zu halten und ihn Dank schneller Entwicklung direkt entscheidend anzugreifen. Die instruktiven Varianten, die Morphy mit traumwandlerischer Sicherheit seinen Zeitgenossen vorsetzte, nötigten auch dem Hamburger IM Respekt ab.
Die vielleicht am wenigsten ergiebige Spielphase bei Morphy ist das Endspiel, weil die meisten seiner Partien vorher entschieden wurden.
Zudem wurden grundlegende Techniken im Endspiel erst viel später entwickelt. Doch Morphy kompensiert diesen Mangel an theoretischem Wissen oft durch seine Rechenfähigkeit, wie Karsten Müller zeigen kann.
Die DVD zeigt eindrucksvoll, dass Morphy, den Bobby Fischer für den zweitbesten Spieler der Geschichte hielt, Mitte des 19. Jahrhunderts Außergewöhnliches geleistet hat.