EDITORIAL

LIEBE KARL-LESER,

wenn man über denkwürdige Partien spricht, dann fallen einem wohl zunächst die Klassiker ein: Anderssens Unsterbliche gegen Kieseritzky, London 1851, Steinitz schwebender Turm gegen von Bardeleben, Hastings 1895, die elegante Schlusswendung Botwinniks gegen Capablanca, AVRO 1938, Fischers Jugendsieg gegen Byrne, New York 1956 (der auch unser Cover ziert), Neschmetdinows Angriffszauber gegen Polugajewski, Sotschi 1958 oder Kasparows Meisterstück gegen Topalow, Wijk aan Zee 1999 – alles Partien, die ins kollektive Schachgedächtnis eingegangen sind. Und die Liste ließe sich fortsetzen.

Wir wollten aber keine Anthologie erstellen, bestehend aus schönen Partien, die schon etliche Male anderswo abgedruckt wurden. Vielmehr sollten sich die Schwerpunkt-Artikel in diesem Heft mit Schachmomenten beschäftigen, die noch in anderer Hinsicht denkwürdig geblieben sind.

Mihail Marin widmet sich in seinem Beitrag „Winds of Change“ Partien, in denen sich der Niedergang ankündigt. Weltmeister wie Capablanca, die lange scheinbar unantastbar an der Spitze gestanden haben, zeigten bereits vor ihrem Sturz kaum merkliche Anzeichen der Schwäche. Doch es brauchte stets auch einen genialen Antigonen, der über ein ähnlich überragendes Talent verfügte, um diese Mängel bloßzulegen.

Michael Ehn richtet seinen Blick auf das Jahr 1903, in dem es Initiativen von verschiedenen Seiten gab, das damals schon fast obsolete Königsgambit wiederzubeleben. Finanzstarke Mäzene veranstalteten gleich mehrere hochdotierte denkwürdige Thementurniere, an denen viele Spitzenspieler teilnahmen und in einer konzertierten Aktion die Theorie erheblich voranbrachten. Genutzt hat es dem Königsgambit jedoch nicht. Schon wenig später war es fast vollständig aus der Turnierpraxis der Meisterspieler verschwunden.

Über die Frage, welche Partien man erinnern soll, hat sich der Informator immer Gedanken gemacht. Denn von jeher hat eine Jury aus Topspielern die besten Partien ausgewählt und damit für die Jahre seit 1966 einen Kanon erstellt. Mihail Marin zeigt, welche Meisterwerke den Test der Zeit überdauert haben und welche theoretischen Neuerungen bis in die Gegenwart ihre Nachhaltigkeit bewiesen haben.

Was sagt die letzte Partie im Leben über den Spieler aus? Haben Legenden wie Keres, Tal oder Petrosjan einen adäquaten schachlichen Abschluss gefunden? Johannes Fischer wirft einen Blick auf die letzten Partien bedeutender Spieler.

Mögen Sie Denkspiele? Dann versuchen Sie sich an unserem kniffligen Weihnachts-­Schachpreisrätsel auf S. 48. Unter den richtigen Einsendungen des gesuchten Lösungswortes verlosen wir fünf Jahresabos. Einsendeschluss ist der 1. März 2018.

Und noch ein Nachtrag zum Artikel „Lebensaufgabe Schach“ aus KARL 2/2017. Durch die Recherchen unseres Autors Michael Ehn ist es gelungen, das seit Jahrzehnten vergessene Grab des Verlegers und Organisators Bernhard Kagan in Berlin wiederzuentdecken. Einen kurzen Bericht dazu finden Sie auf S. 10.

Bleibt noch, unseren Lesern einen geruhsamen Jahresausklang zu wünschen.

Harry Schaack