NUR SCHACH, SONST NICHTS

Von Harry Schaack

Hebekeres Ludwig Engels-Biographie Cover

Friedrich-Karl Hebeker,
Vom Rhein nach Sao Paulo,
Ludwig Engels 1905-1967,
Verlag Chaturanga 2016,
Paperback, 414 S.,
24,95 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Verlag Chaturanga zur Verfügung gestellt.)

Die Überschrift mag den Protagonisten des Buches treffend beschreiben, das der Mathematiker Friedrich-Karl Hebeker über den rheinischen Schachmeister Ludwig Engels vorgelegt hat. Sein Werk ist allerdings genau das Gegenteil, denn dem Autor ist ein kulturhistorischer Rundumschlag gelungen.

Mit Vom Rhein nach Sao Paulo liegt nun erstmals eine umfassende Biographie zu Engels vor. Bis zum Druck des Buches legte der Autor einen langen Weg zurück, der ihn um die halbe Welt führte. Er knüpfte Kontakte nach Brasilien und stattete auf den Spuren seines Helden dem süd­amerikanischen Land einen Besuch ab.

Dabei wollte Hebeker zunächst nur die Geschichte seines Düsseldorfer Vereins recherchieren, stieß dabei aber auf den deutschen Schachmeister, der ihn dann nicht mehr losließ. Über viele Jahre hinweg rekonstruierte er dessen vergessene Lebensgeschichte und grub dabei viel anderes schach- und kulturhistorisch Wertvolles aus. Der Autor lädt seine Leser auf einen Streifzug ein, der ein ganzes Jahrhundert ausmisst und über zwei Kontinente führt.

Man mag zunächst überrascht sein, wie man über einen Schachspieler wie Engels, der nur relativ wenige Jahre aktiv an Weltklasseturnieren teilnahm, eine 400-seitige Biographie schreiben kann. Doch weil zahlreiche andere Themen Eingang gefunden haben, geht die Lektüre weit über den Rahmen einer üblichen Vita hinaus. So erfährt der Leser, wie sich Schach im Rheinland entwickelte oder wie die Umstände des WM-Matches zwischen Lasker und Tarrasch 1908 waren, aber auch wie Tassilo von Heydebrand und der Lasa 1859 einen Lucena, das erste gedruckte Schachbuch, in der Nationalbibliothek in Rio de Janeiro entdeckte oder wie Stefan Zweig im Exil in Petrópolis lebte.

Engels kommt am 11.12.1905 in Düsseldorf als Zwilling zur Welt. Als er fünf Jahre alt ist, stirbt seine Mutter, wonach er zunächst bei seinen Großeltern aufwächst. Im Düsseldorfer Schachverein macht das „Naturtalent“ schnell Fortschritte und erzielt bald außergewöhnliche Erfolge. Mit seinem zweiten Platz hinter Aljechin in Dresden 1936 erreicht er seinen Zenit, der ihn in den erweiterten Kreis der Schachelite katapultiert. Zeitweise gehört Engels wohl zu den zwanzig besten Spielern der Welt. Allerdings waren seine Ergebnisse nicht sehr stabil, immer wieder sind auch sehr mäßige Leistungen zu beobachten.

Nachdem Engels, der bei der Olympiade in Buenos Aires 1939 zusammen mit Eliskases, Becker, Reinhardt und Michels die deutschen Fahnen vertrat, wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges in Südamerika geblieben war, nahm er nur noch an wenigen hochkarätigen Turnieren teil. Als er mit 35 ins Exil nach Brasilien geht, ist wegen der fehlenden Infrastruktur seine Karriere praktisch zu Ende. Ihm fehlt die nötige Unterstützung, obwohl er sich immer noch ganz aufs Schach konzentriert. Trotz vielfachen Drängens seiner Freunde hat Engels nie die brasilianische Staatsbürgerschaft beantragt, die ihm vermutlich auch schachlich einiges erleichtert hätte.

In Brasilien gibt es in dieser Zeit nicht viele Anhaltspunkte über den Verbleib von Engels. Biographische Leerstellen bleiben trotz akribischer Recherche Hebekers. Es ist nicht geklärt, wo Engels zwischen 1941-46 gewohnt hat, sicher ist nur, dass er sich in den Südstaaten Brasiliens aufgehalten hat, wie der Autor überzeugend belegen kann. Für Hebeker war dies die spannendste Frage seiner Forschung, auch wenn nur bruchstückhafte Informationen die Zeit überdauert haben.

Engels, der in Brasilien den Kontakt nach Deutschland völlig abbrach und nicht einmal wusste, dass sein Vater 1940 in Düsseldorf verstorben war, schlug sich als Trainer, Schach­redakteur und Kolumnist sowie mit Simultan- und Blindvorstellungen durch. In den 50er Jahren etabliert er sich in Sao Paulo. Lange Zeit war er der beste Spieler des Landes, erst in den 60er Jahren geht seine Vorherrschaft zu Ende.

Engels blieb in Brasilien entwurzelt. „Nur innerhalb seiner Spielkunst schwang er sich zu Höherem empor, von außen betrachtet war er ein ‚einfacher Mensch‘“, schreibt Hebeker. Der introvertierte Rheinländer trank und rauchte zu viel, litt unter Einsamkeit und hatte psychische Probleme. Letztlich war bei dem gealterten Schachmeister im Exil eine große Bitterkeit zu erkennen. Ende 1966 erleidet Engels einen Schlaganfall, dem er im Januar 1967 erliegt.

Das Buch verliert nie den Blick über den schwarz-weiß-karierten Tellerrand und besticht durch zahlreiche Fakten und Sachkenntnis. Für den kulturinteressierten Leser ist die Lektüre ein großes Vergnügen.